Rückblick auf eine MediCuba-Mission in Havanna
Seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts ist Übergewicht ein zunehmendes gesundheitliches Problem in den Ländern der Ersten Welt. Im 21. Jahrhundert hat die explosive Zunahme des Übergewichts jedoch globale Ausmasse angenommen, insbesondere in Schwellenländern sowie in Ländern der Dritten Welt nimmt die Prävalenz des Übergewichts in der Bevölkerung zu. Nach Angaben der WHO von 2007 sind 22 Millionen Kinder unter fünf Jahren übergewichtig. Mehr als 75% der Übergewichtigen leben in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen.
Fortbildung / Formation continue
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Vol. 19 No. 4 2008
Seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhun-
derts ist Übergewicht ein zunehmendes ge-
sundheitliches Problem in den Ländern der
Ersten Welt. Im 21. Jahrhundert hat die ex –
plosive Zunahme des Übergewichts jedoch
globale Ausmasse angenommen, insbeson –
dere in Schwellenländern sowie in Ländern
der Dritten Welt nimmt die Prävalenz des
Übergewichts in der Bevölkerung zu. Nach
Angaben der WHO von 2007 sind 22 Millio –
nen Kinder unter fünf Jahren übergewichtig.
Mehr als 75% der Übergewichtigen leben
in Ländern mit mittlerem und niedrigem
Einkommen.
Im April diesen Jahres reisten wir zu viert
im Auftrag von MediCuba nach Havanna,
um Kontakte mit kubanischen Pädiatern
aus unseren Subspezialitäten (Nephrologie,
Pneumologie, Vorsorge und Rehabilitation,
Endokrinologie) zu knüpfen und vor Ort
Möglichkeiten einer nachhaltigen Zusam –
menarbeit zu prüfen. Während des zweiwö-
chigen Aufenthalts hatte ich unter anderem
die Möglichkeit, vier der sieben Kinder-
krankenhäuser, die in Havanna Patienten mit endokrinen Störungen oder Diabetes
betreuen, zu besuchen und mit den ver-
antwortlichen Endokrinologen/innen aus
–
führliche Gespräche zu führen. Auch eine
Serie von Seminaren und Vorträgen stand
auf dem Programm. Ich hatte eine Liste
von Themen zusammengestellt, die für die
kubanischen Kollegen von Interesse sein
könnten; Adipositas stand allerdings nicht
auf meiner Liste. Dies erwies sich als etwas
naiv, da mich die Kubaner belehrten, daß
in Kuba die Prävalenz von Übergewicht bei
Kindern und Jugendlichen in den letzten
Jahren so zugenommen habe, daß die Re –
gierung in diesem Jahr in Zusammenarbeit
mit medizinischen Fachkräften ein Pro –
gramm zur Primär- und Sekundärprävention
der Adipositas bei Kindern anlaufen lassen
werde.
Das Ziel dieses Artikels soll sein, anhand
des kubanischen Adipositaspräventionspro –
gramms einige Aspekte des kubanischen
Gesundheitssystems aufzuzeigen.
Es sei mir zunächst erlaubt einige Vor-
bemerkungen zur jüngsten ökonomischen Entwicklung des Landes zu machen: Der
Fall der Berliner Mauer und die nachfolgen
–
de Auflösung der Sowjetunion stürzte die
kubanische Wirtschaft, deren Aussenhandel
zu 80% auf die ehemaligen Warschauer-
paktstaaten ausgerichtet war, in eine tiefe,
zehn Jahre dauernde Wirtschaftskrise. Zur
gleichen Zeit verabschiedete der Kongress
der USA das Torricelli-Gesetz (1992) und
das Helms-Burton-Gesetz (1996), die die
Wirtschaftsblockade der Insel noch zusätz –
lich verschärften. Innerhalb von drei Jahren
fiel das Bruttoinlandsprodukt um nahezu
35%. Als direkte Folge der Wirtschaftskrise
verschlechterte sich die Nahrungsmittelver-
sorgung der kubanischen Bevölkerung so
dramatisch, daß Unter- und Fehlernährung,
die bis dahin auf Kuba unbekannt gewesen
waren, zu einem häufigen Gesundheitspro –
blem avancierten.
Seit Mitte der neunziger Jahre hat sich die
kubanische Wirtschaftslage laufend etwas
verbessert. Dementsprechend ist auch
die Versorgung der Bevölkerung mit Nah –
rungsmitteln deutlich besser geworden. So
werden heute in Havanna allenthalben auf
der Straße verschiedenste Süssigkeiten,
Eis und «refrescos» (kohlensäurehaltige
Limonade) für wenig Geld angeboten. Da
die Händler ihre Stände an strategisch
günstigen Orten, wie z. B. in der Nähe
von Schulhäusern, aufstellen, ist es nicht
erstaunlich, dass diese Buden meist von
plappernden Halbwüchsigen umringt sind.
Die Folgen schlagen sich in eindrücklichen
Zahlen nieder: 1993 hatten 12.7% der
Kinder eine Trizepshautfaltendicke über
der 90. Perzentile, 1998 waren es bereits
21.9%. 1993 hatten 9.6% aller Kinder einen
BMI über der 90. Perzentile, 2005 stieg die
Zahl auf 20.5%. Im Jahre 2007 hatten 7.1%
der Jungen und 4.6% der Mädchen in der
Provinz Ciudad de La Habana einen BMI
über der 97. Perzentile. Besonders besorg –
niserregend sind aber die Zahlen für die
ganz Kleinen: Während 1998 4.3% Kinder
unter 5 Jahren einen BMI über der 90.
Perzentile hatten, betrug der Prozentsatz
im Jahre 2007 bereits 13.5%.
Durch diese Entwicklung alarmiert hat das
kubanische Gesundheitsministerium (MINS –
AP) nun beschlossen, eine gross angeleg –
te Präventionskampagne mit Beginn des
Schuljahres 2008/09 im September diesen
Jahres zu beginnen. Die Kampagne wurde
gemeinsam mit den führenden Spezialisten
Adipositasprävention in der Karibik
Rückblick auf eine MediCuba-Mission in Havanna
Marco Janner, Bern
Eingang des pädiatrischen Spitals Juan Manuel Màrquez in Havanna.
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im ganzen Land, in erster Linie pädiatrischen
Endokrinologen und Ernährungsspezialisten,
entworfen und beinhaltet sowohl Primär- als
auch Sekundärprävention.
Die Primärprävention soll auf vier Stufen
parallel laufen: Mütterberatungsstellen (für
Säuglinge bis ein Jahr), Kindertagesstätten,
inklusive Kindergarten (1–5 Jahre), Schulen
und Nachbarschaft. Mit Nachbarschaft sind
die CDR (Comité de Defensa de la Revolu-
ción) und die FMC (Federación de Mujeres
Cubanas) gemeint. Die CDR ist eine nicht
staatliche Massenorganisation, in der nahe –
zu 95% der Bevölkerung häuserblockweise
organisiert ist, und die verschiedenste Ge –
meinschaftsarbeiten im Quartier organi –
siert. Die FMC ist die Massenorganisation
der kubanischen Frauen. Es ist vorgesehen,
dass spezielle Ernährungsfachleute, die aus
dem Pflegebereich stammen, auf diesen
vier Stufen Eltern und Kinder systematisch
über die Adipositasproblematik und ein –
fache Massnahmen zu deren Prävention
informieren.
Die Sekundärprävention zielt auf Risiko –
kinder ab, die in den Kindertagesstätten
und Schulen von den Lehrkräften der Ge –
sundheitsschwester gemeldet werden und
auf übergewichtige Kinder, die bereits me –
dizinisch erfasst wurden. Das kubanische
Gesundheitssystem ist pyramidenartig organisiert: Zuunterst gibt es die Fami
–
lienarztpraxen (Consultorio de Medicina
General Integral); jeder Familienarzt betreut
an die 600 Familien. Diese Praxen sind
sehr rudimentär ausgerüstet und treiben
sehr viel Prävention in den verschiedensten
Bereichen (Schwangerenvorsorge, Rauchen,
Asthma usw.). Die nächste Stufe bilden die
Polikliniken, die mit Labor, Röntgengerät und
Notfallstation ausgerüstet sind. In den Poli –
kliniken gibt es auch die Impffachfrau, eine
Krankenschwester, die nur für Impfungen im
Kindesalter zuständig ist und verschiedene
Spezialsprechstunden. Schliesslich gibt es
Provinzspitäler und die grossen Tertiärme –
dizinischen Zentren in Havanna. Wenn ein
Kind von Lehrkräften oder medizinischem
Personal der zuständigen Gesundheits –
schwester signalisiert wird, nimmt diese
im Rahmen der in der Schule dreimonatlich
stattfindenden Elterngesprä-che mit den
Eltern des Kindes Kontakt auf und informiert
über die Bedeutung von korrekter Ernährung
und Bewegung. Auch ist vorgesehen, dass
die Gesundheitsschwester die Familie zu
Hause besucht oder diesen Hausbesuch an
jemandem vom CDR delegiert, um vor Ort
zu kontrollieren, ob sich die Eltern an die
Empfehlungen halten.
Dem Kubareisenden aus dem Westen fällt
gleich nach der Ankunft auf der Reise vom
Flugplatz nach Havanna das Fehlen jeglicher kommerzieller Werbung wohltuend auf. We –
der Hamburger noch Chickennuggets noch
irgendwelche Süssgetränke locken den Rei –
senden mit hehren kulinarischen Versprech –
ungen von bunten Plakatwänden. Dieser
Aspekt des lokalen Wirtschaftssystems ist
ganz bestimmt auch ein geheimer Verbün –
deter im Kampf gegen das Übergewicht.
Eine rigorose, flächendeckende Primärprä-
vention ist für ein Land wie Kuba die ein –
zige Möglichkeit, der auf sie zu rollenden
Adipositaslawine auszuweichen; denn die
finanziellen Ressourcen für teure Abklä-
rungen und für multidisziplinäre Gruppen –
programme stehen dort ganz einfach nicht
zur Verfügung. Abgesehen davon steht der
Evidenz-basierte Beweis für die Wirksamkeit
von multidisziplinären Adipositastherapie –
programmen noch aus. Selbstverständlich
bleibt die Evaluation der Effizienz des ku –
banischen Ansatzes abzuwarten und diese
wird frühestens in fünf Jahren vorliegen.
Aus europäischer Sicht ist es unvorstell –
bar, ein solches Präventionsprogramm bei
uns zu realisieren. Die gesellschaftlichen
Voraussetzungen und die Organisation des
Gesundheitswesens sind ganz anders. Auch
ist bei uns eine direkte, staatlich verordnete
Kontrolle von Bewegungs- und Essverhal –
ten undenkbar. Eigenverantwortung und
Motivation wird bei uns ein grosser Stel –
lenwert eingeräumt. Allerdings kann es
schwierig werden mit der Motivation, wenn
wir tagtäglich auf der Straße, im Kino, in
den Medien von Werbung für «Junk-Food»
überschwemmt werden und ein Kilo Toma –
ten gleich viel kostet wie ein «Happy meal»
(Burger, Pommes, Getränk und Dessert) im
bekannten «Fast-Food» Anbieter.
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Marco Janner
Facharzt Pädiatrische Endokrinologie
und Diabetologie FMH
Falkenhöheweg 3
3012 Bern
marco.janner@bluewin.ch
Beratung wegen pädiatrischer Zuckerkrankheit mit Professor Virginio Piñeiro im pädi –
atrischen Spital Juan Manuel Márquez
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Autoren/Autorinnen
Marco Janner