Text
Fabienne Jäger und Sarah Depallens
Mitglieder
Sara Bernhard-Stirnemann
Sarah Depallens
Mario Gehri
Yvon Heller
Fabienne Jäger (Leitung)
Bodil Leforestier-Straume
Nicole Pellaud
Nicole Ritz
Noémie Wagner
Jahresbericht 2021
Das Wohl aller Kinder in der Schweiz liegt pädiatrie schweiz am Herzen. Als nun von Mitgliedern die Alarmglocken bezüglich der Situation von abgewiesenen Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe geläutet wurde, erhielt die Referenzgruppe vom Vorstand den Auftrag, sich des Themas anzunehmen. Sie (insb. Jäger/Ritz) hat die Fühler ausgestreckt, sich vernetzt und Informationen gesammelt. Wir danken den kontaktierten Organisationen für das Teilen der Informationen und ihr Engagement zum Wohle der Kinder und Jugendlichen, die von der Nothilfe leben müssen. Das Bild, das sich zeigte, war ernüchternd. In den Nothilfezentren scheint die soziale Situation oft äusserst bedenklich: Ganze Familien in einem kleinen Zimmer ohne Rückzugsmöglichkeiten, Lärmbelästigung bei Tag-Nachtumkehr verschiedener Wohnheimbewohner, geteilte Sanitäre Anlagen, welche aus Angst vor Belästigung nur ungern benutzt werden, Kinder, die regelmässig Gewalt und Polizeieinsätze beobachten müssen, ungenügende Möglichkeiten, sicher zu spielen, soziale Kontakte zu pflegen und sich unbeschwert zu entwickeln, Stress und Konflikte wegen Ungewissheit etc.. Der Besuch der obligatorischen Schule scheint zwar meist möglich, eine Lehre zu beginnen oder gar abzuschliessen i.d.R. nicht mehr, so dass manche Jugendliche Langeweile und Perspektivenlosigkeit plagt. Für Kleinkinder fehlt es i.d.R. an Hütemöglichkeiten. Die oft prekäre psychosoziale Situation erschwert es, die Kinder in ihrer Entwicklung optimal zu begleiten. Die medizinische Versorgung scheint sich auf das absolute Minimum zu beschränken mit möglichen Folgen für die Entwicklung (z.B. langes Warten auf Brille, erschwerter Zugang zu Kinder-/ und Jugendpsychiatrischem Angebot). Die finanzielle Situation scheint zu Einschränkungen, z.B. in Hinblick auf eine ausgeglichene, diversifizierte Ernährung, den Kauf von Schulmaterial und Kleidern und bei dem Zugang zu Freizeitaktivitäten zu führen, welche für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wichtig sind.
Im Rahmen eines Roundtables der Eidgenössischen Kommission für Migration zum Thema konnte Sarah Depallens, Kaderärztin Adoleszentenmedizin (DISA) und Leiterin der Kinderschutzgruppe des CHUV (CAN Team) mit sehr breiter, angewandter Erfahrung im Bereich Migration, die pädiatrische Sicht vertreten. Da das Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) einen Forschungsauftrag erhielt, die Situation von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe genauer zu untersuchen, machte es Sinn, eigene Untersuchungen einzustellen, Doppelspurigkeiten zu vermeiden und zusammen zu arbeiten, um sich für allfällige weitere Engagements auf solide Daten und Argumente stützen zu können. Zwei Mitglieder der Referenzgruppe, Nicole Ritz, ehemalige Leiterin der Migrationssprechstunde am UKBB und neue Chefärztin am Kinderspital Luzern, und Sarah Depallens vertreten uns bei dieser Forschung. Gespannt warten wir auf die Resultate, um uns bei Bedarf – nach Rücksprache mit dem Vorstand – für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Nothilfe effektiv und gezielt einsetzen zu können.
Migration hat viel mit Sozialpädiatrie zu tun. Umso mehr hat es uns gefreut, dass zwei Mitglieder der Gruppe, Mario Gehri, Chefarzt Lausanne, und Sarah Depallens, Artikel für die Paediatrica Spezialausgabe Sozialpädiatrie verfassen durften: «Sozialpädiatrie: Herausforderungen, Fragestellungen, Perspektiven» und «Jugendliche mit Migrationshintergrund: Herausforderungen». Ebenfalls zur Weiterbildung im Bereich Migration beigetragen hat Bodil Leforestier, Praxispädiaterin in Rorschach und Mitglied der Referenzgruppe, indem sie ihre Erfahrung in interkultureller Kommunikation anlässlich eines KIS-Workshops mit Kinderärztinnen und -ärzten teilte.
Die neuen Richtlinien zum Thema Mädchenbeschneidung befinden sich in der Vernehmlassung und sollten 2022 endlich erscheinen. Ein Musterbrief soll bei Caritas Schweiz erhältlich werden, den betroffene Familien, die mit ihren Mädchen in die Heimatländer reisen, wo eine Beschneidung droht, mitnehmen und der Grossfamilien vorweisen können. Der Brief bestätigt der Familie, dass die Beschneidung in der Schweiz illegal ist, und für die Familie in der Schweiz, auch wenn im Ausland durchgeführt, juristische Konsequenzen haben kann.
Betreffend der Altersschätzung durch Behörden von unbegleiteten Minderjährigen konnte Nicole Pellaud die pädiatrische Perspektive anlässlich eines internationalen Rechtsmedizinkongresses darlegen. Gemeinsam mit der Rechtsmedizin Lausanne (CURML) wird Sarah Depallens im März 2022 zum Erfolg einer Weiterbildung für Westschweizer Juristen, welche Asylbewerber betreuen, betragen. Anlässlich dieser Weiterbildung sollen verschiedene Wege beleuchtet werden, welche dazu beitragen, dass es nicht zu Fehleinschätzungen des Alters mit potentiell gravierende Folgen für die Gesundheit junger Asylsuchender kommt (kein Zugang zu edukativer Begleitung, eingeschränkter Zugang zu Ausbildung, nicht an die Bedürfnisse jugendlicher adaptiere medizinische Betreuung).
Die Referenzgruppe tauscht sich regelmässig mittels Online-Meetings aus und freut sich auf weitere spannende Aktivitäten 2022. Sie steht für Fragen gerne zur Verfügung (Email an pädiatrie schweiz mit Vermerk Migration). Die Checkliste «New Arrivals» und weitere Infos sind auf der Gesellschafts-Webpage zu finden.