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Sozialpädiatrie: Herausforderungen, Fragestellungen, Perspektiven

“Wir müssen lernen, als Brüder zusammenzuleben, oder wir werden als Idioten zusammen sterben.»

Martin Luther King

Abkürzungen

  • EBM: Evidence Based Medicine
  • GREPA: Groupe de Recherche en Pédiatrie Ambulatoire
  • ISSOP: International Society for Social Pediatrics and Child Health
  • WONCA: World Organization of National College, Academic Association of General Practitioners, Family Physicians

Einführung

Kinder sind resilient, das wissen Kinderärzt*innen sehr wohl. Doch die Gesundheit von Kindern und ihr Wohlbefinden können durch ungünstige soziale Verhältnisse und Umweltbedingungen gefährdet werden – was die Pädiater*innen ebenfalls bestens wissen. Die Auseinandersetzung mit «Fragestellungen rund ums Soziale» gehören seit jeher zur DNA der Hausärzt*innen; ebenso sind sie vertraut damit, wie die Zusammenarbeit und der Austausch von Informationen mit Kindern und deren Familien aussehen muss – für eine bessere Versorgung – insbesondere gegenüber den Schwächsten.

Die sozialen Ungleichheiten, Unsicherheiten sowie Schwierigkeiten bezüglich Zugang zu qualitativ hochstehender Betreuung verlangen von den Fachpersonen nebst eben dieser DNA aber auch ein (An-)Erkennen, spezifische Kompetenzen sowie Entwicklungsbereitschaft und eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den «Rechten des Kindes».

Die Sozialpädiatrie (in einigen Nachbarländern als Fachbereich anerkannt, in anderen Ländern in die Allgemein- und Gemeinschaftspädiatrie integriert, siehe «Definitionen») bildet den Grundstein unseres schönen Berufs. Flankiert von der allgemeinen Pädiatrie sowie den Spezialfächern ist die Sozialpädiatrie zudem pluridisziplinär, denn sie schliesst die Pflegeberufe im weitesten Sinne mit ein, aber auch Sozialarbeiter*innen, Akademiker*innen aus den Humanwissenschaften und Gesundheitspolitiker*innen. Sie setzt ein gesellschaftliches und staatsbürgerliches Engagement zu Gunsten der Kinder und ihrer Familien voraus (auch politisch) – zur Minimierung der eklatanten Ungleichheiten unserer zunehmend strapazierten Gesellschaft (wie es uns die Covid-Pandemie täglich vor Augen führt1,2)) und zur Minimierung der Folgen, die diese Ungleichheiten auf die Gesundheit der Kinder und der Erwachsenen von morgen haben können, sei es auf individueller oder auf kollektiver Ebene.

Bedeutende Fortschritte in so unterschiedlichen Bereichen wie Neonatologie, Onkologie, seltene Krankheiten, Intensivpflege usw. verhindern leider nicht, dass aufgrund sozialer Ungleichheiten zahlreiche Familien von diesen Fortschritten ausgenommen bleiben; sei es in Konfliktzonen, bei erzwungener Migration oder innerhalb einer an Reichtum übervollen Gesellschaft wie der unseren.

Kinderärzt*innen müssen deshalb auch soziale Massnahmen in ihre Tätigkeit einbeziehen; dazu sind in der Schweiz, im Gegensatz z. B. zu den USA, wo «noch vieles zu tun ist»3), die Kenntnisse, Kompetenzen und gesellschaftlichen Interventionsprogramme seit Langem vorhanden. Kinderärzt*innen finden, oft zu Recht, dass Sozialpädiatrie bereits zu ihrem Alltag gehört; sie nehmen mit den Arbeitgebenden Kontakt auf, die die Anwesenheit des Elternteils fordern, den das Kind vordringlich benötigt; sie bringen sich (oft unentgeltlich) in die Tätigkeiten von Schul- und Sozialnetzwerken ein; sie machen – oft notfallmässig – Hausbesuche, wenn sich soziale Schwierigkeiten abzeichnen; und sie teilen ihre Sprechstunde mit Sprach- und interkulturellen Vermittelnden. Tatsache ist: Den Eltern sagen, sie sollten nicht arm sein oder es allzu lange bleiben, nicht unter unannehmbaren Bedingungen arbeiten, nicht in ungesunder Umgebung wohnen, nicht jahrelang eine provisorische Aufenthaltsbewilligung haben, all das hilft nicht. Eine «Anerkennung» und Ausbildung in diesem für unseren Beruf entscheidenden Bereich erweist sich als notwendig, umso mehr als die Schweiz und die globalisierte Welt soziale und ökologische Umwälzungen erlebt, die täglich neue Herausforderungen mit sich bringen.

Diese Übersicht verfolgt ein dreifaches Ziel:

  1. daran erinnern, was Sozialpädiatrie ist – und welches ihre Leitkonzepte sind;
  2. Kinder- und Hausärzt*innen ermöglichen, in diesem Bereich Kompetenzen zu entwickeln;
  3. in unserem Kontext die Grundlagen für eine Gesundheitspolitik im Dienste der Kinder und Familien festlegen (insbesondere für die am stärksten benachteiligten).

Geschichtliche Übersicht (a), Definitionen (b), Schlüsselkonzepte (c)

a) Einige Daten, herausragende Persönlichkeiten (unvollständige Liste), berühmte Zitate …

  • 1821: Dr. R. Virchow: «Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Grossen»;
  • 1921: Dr. B. Lown (Nobelpreisträger), Kardiologe und Erfinder des Defibrillators; er verbrachte sein Leben damit, die Ärzte daran zu erinnern, dass der Arztberuf mit sozialem Aktivismus keineswegs unvereinbar ist: «In Gegenwart des Bösen nie flüstern.», «Sie können sich nicht für die Gesundheit engagieren, ohne sich für den sozialen Kampf zugunsten der Gesundheit zu engagieren.»;
  • 1937: «La Citadelle» von A. J. Cronin; dieser berühmte Roman beschreibt das Leben eines ehrgeizigen Arztes, der damit hadert, dass der Zugang zu medizinischer Betreuung abhängig ist von der sozialen Stellung; Cronin soll zur Bildung des NHS (National Health Service) in Grossbritannien angeregt haben;
  • 1964: Eröffnung des Instituts für Sozialpädiatrie in Dakar, Senegal, unter der Schirmherrschaft des Gesundheitsministeriums und des durch einen Professor für Pädiatrie geleiteten Centre Hospitalo-Universitaire (CHU); dieses Institut ist heute noch in Betrieb;
  • 1969: Gründung des Club International de Pédiatrie Sociale (der zur Association Internationale de Pédiatrie Sociale wurde, https://www.assips.org/) durch die Professoren R. Debré, R. Mandé und N. Masse, denen sich Dr. O. Jeanneret anschloss, ein zugunsten der Jugendlichen stark engagierter Epidemiologe;
  • 1977: European Society for Social Pediatrics (https://www.issop.org/);
  • 1978–1996: Schweizerische Arbeitsgruppe für Sozialpädiatrie der SGP (Dr. A. Spahr und Dr. JCL. Vuille);
  • 1989: UNO-Kinderrechtskonvention;
  • 2001: «The Swiss paediatrician and the social problems of families in Ambulatory Child Health»4);
  • 2005: «Réflexions des pédiatres praticiens de suisse romande et agenda pour l’avenir: une charte de pédiatrie ambulatoire»5);
  • 2005: Gründung der Fondation Dr Julien durch den gleichnamigen Pädiater in Québec; der Zweck der Stiftung ist, das Ausüben und die Entwicklung der Sozialpädiatrie zu fördern, um es den Kindern zu ermöglichen, in einem gesunden Umfeld und im geschützten Rahmen der Kinderrechtskonvention aufzuwachsen; die durch die Stiftung betreuten Zentren werden von der Universität McGill und der Universität Montréal als Experten- und universitäre Ausbildungszentren anerkannt;
  • 2018: Publikation des Artikels «Vulnérabilité, équité et santé»6);
  • 2018–2022: Schweiz – Kantonale Gesundheitspolitik zur Verstärkung der gemeinschaftlichen Pflege7); «Das Gesundheitswesen muss auf eine Betreuung der Menschen unter Berücksichtigung ihres Lebensumfelds hinzielen»;
  • 2019–2021: die Covid-Pandemie erinnert uns daran, dass gut geführte Gesundheitspolitik Leben rettet, dass jedoch Krankheiten durch soziale Ungleichheit verschlimmert werden, weltweit und auch in der Schweiz und der pädiatrischen Population1,2,8).

Diese markanten Tatbestände zeigen, wie stark die Wahrnehmung und Berücksichtigung der sozialen Probleme zu allen Zeiten die Geschichte der Medizin (und insbesondere der Pädiatrie) beeinflusst haben; weltweit selbstverständlich, aber noch ausgeprägter in der Schweiz, die sich in diesem Bereich positioniert hat, sei es mit dem Pflegepersonal – in erster Linie den Kinderärzt*innen – oder allgemein in der Gesundheitspolitik.

b) Einige Definitionen und allgemeine Konzepte (ebenfalls unvollständige Liste)

  • Sozialpädiatrie9): holistischer, multidisziplinärer und globaler Ansatz für das Wohlbefinden des Kindes – sei es krank oder nicht: Die Gesundheit des Kindes wird in ihren gesellschaftlichen, umfeldbedingten, schulischen und familiären Zusammenhang gebracht. Die Sozialpädiatrie  umfasst eine physische, psychische sowie wachstums- und entwicklungsabhängige Dimension und stets auch die Vorbeugung und die Förderung von Gesundheit und Lebensqualität; Die Sozialpädiatrie schaltet sich ein, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Kindes durch soziale Probleme besteht oder wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung ihrerseits soziale Probleme verursacht. Die «gemeinschaftliche» Betreuung wird bevorzugt und umfasst kurative Aspekte, Vorbeugung, Gesundheitsförderung und Rehabilitation. Die Pädiatrie, die sich in zahlreiche Fachrichtungen entwickelt hat, ist auf die Prävention, die (gesunde) Entwicklung des Kindes zentriert und wirkt im familiären und gesellschaftlichen Kontext. Die Sozialpädiatrie hat sich ihrerseits verändert, erweitert und diversifiziert und rückt die Sorgen benachteiligter Familien sowie alle Situationen rund um eine Behinderung, einen Migrationshintergrund oder eine Existenz am Rande der Gesellschaft in den Fokus.
  • Gemeinschaftspädiatrie: Pädiatrische Vorbeugung und Betreuung «ausserhalb des Spitals» (typischerweise in der Kinderärzt*innen-Praxis oder in gemeinschaftlichen Strukturen) betrifft das gesunde UND das kranke Kind. Es werden oft einbezogen:
    • Entwicklungs- und Verhaltenspädiatrie im Zusammenhang mit der Zunahme psychosozialer – eher als somatischer – Schwierigkeiten;
    • Schulmedizin unter Berücksichtigung der Auswirkungen einer guten Gesundheit auf die Schulbildung und umgekehrt der Auswirkungen der Schule auf die Gesundheit, d.h. unter Berücksichtigung dieser Interaktion;
    • Schutz und Förderung der kindlichen Gesundheit durch Strukturen wie Kinderschutzgruppen («Schutz» bei Missbrauch, Gewalt, Misshandlung) oder Gesundheitsförderung (z. B. Förderung körperlicher Aktivität); die Gesundheitsförderung geht einen Schritt weiter und zielt auf Lebensstile, die das physische und psychische Wohlbefinden in der Gesellschaft gewährleisten.
  • Pädiatrisches Gesundheitswesen: betrifft die kindliche Gesundheit in Bezug auf eine bestimmte Population, eher als in Bezug auf das Individuum, und bezeichnet das Bestreben der Gesellschaft, Strategien zur Gesundheitsförderung und Prävention von Krankheiten zu entwickeln und eine gerechte Betreuung sicherzustellen. Dieser in der Erwachsenenmedizin gut verankerte, «populationsbezogene» Ansatz hat seit der universellen Anerkennung der Kinderrechte einerseits, und der Thematisierung dieses bedeutenden Lebensabschnittes (von der Geburt bis zur Adoleszenz) und seinen Auswirkungen auf die Gesundheit des Erwachsenen andererseits, an Bedeutung gewonnen. Diese Aspekte werden von der Life-Course-Epidemiologie sowie der Epigenetik abgedeckt; die wissenschaftlichen Empfehlungen dazu werden immer zahlreicher und fundierter10).
  • Gesundheits-Literacy («literacy» wörtlich: Lese- und Schreibkompetenz)11): bezeichnet die Fähigkeit eines Kindes und/oder seiner Familie, grundlegende Informationen zur Gesundheit sowie zur Funktionsweise der Gesundheitsdienste einzuholen, zu verarbeiten und zu verstehen; das Kind kann dadurch seine Autonomie entwickeln und an den Entscheidungsprozessen, die es betreffen, teilnehmen. Global ist das Gesundheits-Literacy-Niveau von Kindern und Familien eher gering, insbesondere innerhalb der gefährdetsten Populationen (Menschen mit Migrationshintergrund, einer Behinderung oder chronischer Krankheit, in unsicheren Bedingungen lebend …), und dies, obwohl ihre Wahrnehmung der Gesundheitsbelange ausgeprägt ist, jedoch eben allzu oft zu wenig erfasst und berücksichtigt. Gesundheits-Literacy ist ein anerkanntes Mittel zur Verbesserung der Gesundheit einer Bevölkerung. Die Kinderärzt*innen müssen die Gesundheits-Literacy berücksichtigen, indem sie angebrachte Kommunikationstechniken anwenden («teach back», kurze Informationen, Schemen, Zeichnungen, angepasste Sprache, Sprach-/interkulturelle Vermittlung …), unter Vermeidung jeglicher Stigmatisierung; vorrangiges Ziel ist die Verbesserung der Kompetenzen der Familien.
  • Schutz der Kinderrechte («Child advocacy»)12): Will man für die individuelle und kollektive Gesundheit eintreten und sie fördern, setzt dies unweigerlich Stellungnahmen und gesellschaftlichen Aktivismus zugunsten der Kinder und der Familien voraus. Die Schaffung von entsprechenden Interessengruppen, über fachliche Interessengruppen hinaus (es gibt solche für Jugendliche), muss gefördert und unterstützt werden.

c) Schlüsselkonzepte

Die gesundheitlichen Ungleichheiten haben einen bedeutenhaben einen bedeutenden Einfluss auf die sozialen Gesundheitsdeterminanten, auf individueller wie kollektiver Ebene. Ihre (An-)Erkennung ist wesentlich.

  • Soziale Ungleichheiten im Kindesalter s.s.13) werden definiert als «ungleiche Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen, die es Kindern, ihren Familien und sozialen Gruppen verunmöglicht, allgemein als legitim betrachtete Ziele zu erreichen». Soziale Ungleichheiten beruhen auf vier anerkannten Hauptfaktoren, den Grundlagen der Sozialepidemiologie:
    • Faktoren im Zusammenhang mit den konkreten Lebensbedingungen (Ernährung, Wohnqualität), z. B.:
      – Gewisse Wohnbedingungen begünstigen Atemwegserkrankungen des Kleinkindes, ein Unsicherheitsgefühl … ;
    • Psychosoziale Faktoren: beeinflussen die Gesundheit von Kindern entscheidend, z. B.:
      – Armut verursacht bei den Eltern erheblichen Stress und beeinflusst das (passive) Rauchverhalten und die psychische Gesundheit;
      – Das Gefühl der Minderwertigkeit unter den benachteiligten Bevölkerungsgruppen hat gesundheitliche Folgen für die Kinder: Bluthochdruck, kardiovaskuläre Krankheiten, aber auch Verhaltensstörungen die sich in der Adoleszenz verschärfen können;
    • Verhaltensfaktoren: Alkoholismus, Tabakkonsum, Bewegungsmangel, schlechte Ernährung … kommen in benachteiligten Bevölkerungsgruppen häufiger vor, mit allen dazugehörenden Folgen für die Kinder (ab der Empfängnis);
    • Strukturelle Faktoren: Öffentliche Politik, Kultur-, Sozial-, Schulpolitik usw. beeinflussen den Zugang verschiedener Bevölkerungsgruppen zu medizinischer Betreuung, Lebenszentren für Kinder, Spielplätzen, Lebensmittelgeschäften … und man versteht, wie sehr und in welchem Sinn diese Faktoren die (gute/schlechte) Gesundheit der Kinder beeinflussen können; öffentliche Parks und deren vorteilhafte Ausstattung, Zugänglichkeit, Sauberkeit, Sicherheit sind ein ausgezeichnetes und gut erforschtes Beispiel14) des positiven Einflusses auf die körperliche Betätigung und damit auf die allgemeine Gesundheit der Kinder (somatisch, psychisch, Gruppenleben …).

Die sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheiten stehen jedoch nicht immer im Zusammenhang mit «benachteiligten Verhältnissen»: Haushaltsunfälle, zahlreiche chronische Krankheiten (onkologisch, immunologisch …) oder Adipositas sind einige Beispiele; in geringerem Masse auch Asthma, obwohl bei sehr prekären Situationen ein enger Zusammenhang mit einer sehr schlechten Kontrolle dieser Krankheit beobachtet wird15).

  • Soziale Gesundheitsdeterminanten werden definiert als «Verhältnisse, in die wir hineingeboren worden und in denen wir aufgewachsen sind, arbeiten und leben, sowie alle Kräfte und Systeme, welche die täglichen Lebensbedingungen gestalten»16). Sie wurden durch die WHO17) für die gesamte Bevölkerung aufgrund von wissenschaftlich erstellten und überarbeiteten Daten festgelegt (Tabelle 1). Sie zu kennen ist für Hausärzt*innen unerlässlich. Die Identifizierung dieser Faktoren in der täglichen Praxis ist oft komplex und erfordert nebst den Kenntnissen entsprechende Hilfsmittel (siehe unten) und selbstverständlich auch Mittel, die ein Eingreifen ermöglichen! Die sozialen Gesundheitsdeterminanten für Kinder sind in Abbildung 112) dargestellt. Sie ermöglicht ein besseres Verständnis dafür, weshalb diese Determinanten zu Gesundheitsungleichheiten führen. Im Zentrum steht das Kind mit seinen Merkmalen (Alter, ethnische Herkunft, Geschlecht …), darum herum liegen mehrere konzentrische Einflusskreise – von den nächstgelegenen (z. B. Eltern, dann Lebensgewohnheiten der Familie) bis zu den entferntesten (Gemeinschaft, soziale Netzwerke, Umweltqualität, Sicherheit …). Alle diese Determinanten sind selbstverständlich interdependent (Pfeile).
Tabelle 1. Die 10 sozialen Gesundheitsdeterminanten, gemäss WHO
Zehn verschiedene, jedoch interdependente, Aspekte, wovon einige spezifisch auf das Kind ausgerichtet sind, von denen jedoch jeder einzelne Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und ihrer Familien hat.
Abbildung 1. Die kindlichen Gesundheitsdeterminanten (nach12))
  • Vorbeugung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert vier Stufen der Prävention, die alle in den Tätigkeitsbereich der Sozialpädiatrie integriert werden können:

  1. Primäre Prävention (P I) bezeichnet alle Massnahmen, die die Inzidenz einer Krankheit verringern und damit das Auftreten neuer Fälle verhindern sollen. Durch vorbeugendes Handeln wird das Auftreten einer Krankheit verhindert. P I setzt auf Erziehung und Information der Bevölkerung und gründet auf dem Vorhandensein oder Fehlen von Risikofaktoren. Beispiele: Impfung, Förderung körperlicher Betätigung …
  2. Sekundäre Prävention (P II) bezeichnet alle Massnahmen, welche die Prävalenz einer Krankheit mindern, d. h. deren Verlaufsdauer verkürzen. P II umfasst Früherkennung und initiale Behandlung von Krankheiten. Beispiele: Neugeborenenscreening, Sichelzellanämie bei Risikofamilien …
  3. Tertiäre Prävention (P III) bezeichnet alle Massnahmen, die die Prävalenz von chronischer Behinderung oder von Rezidiven in der Bevölkerung und damit krankheitsbedingte funktionelle Invalidität verringern. Das Ziel ist, bei bestehender Krankheit deren Folgen zu mindern und Rezidive zu verhüten. In diesem Präventionsstadium geht es den Fachkräften um Rehabilitation und berufliche sowie soziale Wiedereingliederung der*des Patient*in. Beispiele: Verhütung von Diabetes-, Asthma- usw. -Komplikationen.
  4. Quartäre Prävention (P IV oder P4) bezeichnete im Gesundheitswesen ursprünglich palliative Massnahmen für Kranke, bei denen keine kurative Behandlung mehr möglich war und die sich in terminaler Phase befanden. Die neue Definition18) umschreibt die quartäre Prävention als das Erkennen von Patient*innen und Bevölkerungsgruppen, die das Risiko von Übermedikalisierung laufen, um sie vor unnötigen invasiven medizinischen Massnahmen zu bewahren und eine ethisch und medizinisch vertretbare Versorgung anzubieten. Die P4 umfasst somit alle Gesundheitsmassnahmen, die zum Ziel haben, die Folgen unnötiger oder exzessiver Eingriffe des Gesundheitssystems zu mindern oder zu verhindern. Sie stützt sich zudem auf die ersten drei Präventionsarten! Es seien folgende Beispiele genannt:
    • Welche unter allen verfügbaren Massnahmen und Möglichkeiten primärer und sekundärer Prävention soll angesichts der Situation des Kindes und seiner Familie gewählt oder welcher den Vorzug gegeben werden …? Es gibt deren so viele!
    • Bei tertiärer Prävention, d. h. um Komplikationen einer chronischen Krankheit (z. B. Asthma) möglichst gering zu halten, sind alle angebotenen Massnahmen (pneumologische Betreuung, Atemschulung, Allergieabklärung usw.) sinnvoll. Bei anderen chronischen Krankheiten (psychische Krankheit, Behinderung …) wird jedoch alles viel komplexer und die Kinderärzt*innen werden Prioritäten setzen und die geeignetsten Massnahmen wählen müssen, und dabei Kind und Familie an ihrer Wahl teilhaben lassen.
    • Bei der quartären Prävention selbst geht es um die Kunst, die «richtige Untersuchung» zu wählen, Entscheidungen zu teilen und wie bei einer «zufälligen» Entdeckung vorzugehen (auch Inzidentalom genannt, z. B. nach einem wahrscheinlich bedeutungslosen kleinen Tumor im Bereich der Nebennieren, der zufällig bei einer aus anderen Gründen durchgeführten abdominalen Bildgebung entdeckt wurde).

Dieses P4-Konzept, ursprünglich in die Definition der Allgemein-/Hausarztmedizin der WONCA19) einbezogen, wird heute (teilweise) unter den Begriffen «Less is more», «Choosing Wisely» und «Smarter Medicine» angewendet, Begriffe, die in den USA während den «Obama-Jahren» entstanden, im Rahmen der Veränderungen, die dem amerikanischen Gesundheitssystem aufgezwungen wurden, um den benachteiligten Bevölkerungsgruppen den Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen und gleichzeitig explodierende Kosten in den Griff zu kriegen. Die SGP hat sich dieser Bewegung angeschlossen, eine eigene Interessengruppe gebildet und ihre ersten Empfehlungen publiziert20). Diese Empfehlungen betreffen vor allem das Verschreiben unnötiger und/oder für Kinder schädlicher Medikamente und gründen alle auf EBM. Doch die grundlegende Bedeutung von «Less is more» will darüber hinaus eine gesamthafte Reflexion zum Thema «zu viel Medizin» auslösen, ohne die Qualität der Betreuung in Frage zu stellen – jedoch in der Hoffnung, die Kosten zu senken!

Die Rolle und Tätigkeitsbereiche der Hausärzt*innen sind vielfach: Information, Erziehung und Prävention, Früherkennung, Diagnostik und Behandlung; sie verfolgen eine ganzheitliche und langfristige Betreuung der Patient*innen und deren Familien. Vorbeugung – im Sinne der WONCA – durchdringt ihre gesamte Tätigkeit, vom ersten und langfristig bis zum letzten Kontakt mit einer*einem Patient*in. So wird verständlich, dass man den Begriff «Prävention» durch «Tätigkeitsbereiche» ersetzen kann, der besser der täglichen Arbeit der Haus- und Kinderärzt*innen entspricht (Tabelle 2).

Es wird damit klar, wie wichtig der (die) Präventionsbegriff(e) sind, wenn es um Sozialpädiatrie geht.

Tabelle 2. Stellung der quartären Prävention in der Praxis des Haus-/Kinderarztes (nach18))

Herausforderungen

Weshalb brauchen wir die Sozialpädiatrie so dringend?

Wir befinden uns in einer neuen Morbiditäts- und Mortalitätsära der Kindheit. Trotz zunehmendem Wohlstand nimmt Armut in der Schweiz zu, der Graben zwischen Arm und Reich vertieft sich. Arm sein bedeutet nicht unbedingt, kein Dach über dem Kopf und kein Geld für Nahrung zu haben, sondern auch, dass der Lohn nicht ausreicht, um die Familie zu unterhalten, die Krankenkasse zu bezahlen und menschenwürdig zu wohnen, oder auch, dass der Zahnarztbesuch unbezahlbar wird. Armut bedeutet auch Isolierung, soziale Ausgrenzung und Fehlen von Perspektiven. Oft ist sie versteckt. 2019 waren in der Schweiz 735’000 Menschen von Armut betroffen. Unter ihnen befindet sich eine überdurchschnittliche Anzahl Alleinerziehender, nicht-europäischer Ausländer*innen, Menschen mit geringer Schul-/Berufsbildung und Menschen, die nach dem Verlust des Arbeitsplatzes keine neue Anstellung finden. Zudem sind 155’000 Männer und Frauen trotz entlohnter Arbeit arm (working poor). 1,32 Millionen Menschen sind von Armut bedroht. Unter ihnen befindet sich eine überdurchschnittliche Anzahl Familien mit drei oder mehr Kindern. Armut ist in der Schweiz keine Randerscheinung21).

Morbidität ist häufiger «soziogen» als nur «biogen»; ihr Verlauf hat sich verändert: Unterernährung hat sich in Adipositas mit allen dazugehörenden gesundheitlichen Herausforderungen für die Kinder und zukünftigen Erwachsenen verwandelt. Die gesellschaftlichen Veränderungen und der dadurch entstehende Stress führen zu beunruhigenden psychischen Problemen, und dies in allen Altersklassen. Jugendliche sind die primären Opfer, aber auch jüngere Kinder leiden darunter22). Die vermehrte Identifizierung von Misshandlung (Missbrauch, Vernachlässigung, Gewalt …) trägt ebenso zum Erscheinen neuer Krankheitsbilder bei. Paradoxerweise steuern die technologischen, chirurgischen und medizinischen Fortschritte auch zur Zunahme chronischer Krankheiten und deren Folgeerscheinungen (dysability) bei und führen damit zu neuen Herausforderungen für die Pflegefachpersonen. Zudem rückt die Klimaveränderung die «Gesundheitsökologie» ins Zentrum der aktuellen und zukünftigen Interessen der Gesundheitspolitik, und damit auch der Kinder. Das Fehlen von Krankheit ist kein Ziel an und für sich. Das Ziel ist das «Recht» der Kinder, gesund und in guten Bedingungen leben zu können, und dies im Verlaufe ihres ganzen Lebens.

Um diese Ziele zu erreichen, die Neurologie hat es im Verlauf der letzten Jahre deutlich gezeigt9,22) (Beeinflussung des Genoms durch Umweltfaktoren; Beeinflussung der Hirnentwicklung durch frühe Stimulierung und gute «Betreuung», wobei prä-, peri-, postnatale Periode sowie die ersten Lebensjahre entscheidend sind), müssen die Kinderrechte ein zentrales Anliegen der Gesundheitspolitik sein. Die Berücksichtigung nicht nur individueller Faktoren (Behandlung, Vorbeugung), sondern auch aller komplexen Faktoren, die sich auf die Familien und die Gemeinschaft auswirken, setzt bedeutende Mittel und Kenntnisse seitens der Kinderärzt*innen voraus. Der gesamte Bereich der Sozialpädiatrie erfordert Anerkennung, Lehre, Forschung, Mittel uvm. Das von9) adaptierte Schema der Abbildung 2 illustriert schön die möglichen Einflüsse auf den Lebensweg von Kindern unter fünf Jahren, durch soziale Faktoren und Umweltfaktoren sowie durch die möglichen nützlichen Massnahmen.

Abbildung 2. Faktoren, die die gesundheitliche Entwicklung von Kindern beeinflussen können (nach9))

Covid und Kinder: Die Spitze des Eisbergs. Was haben wir verstanden, was müssen wir verstehen?

Eine Folge der Covid-Pandemie muss zumindest sein, aufzuzeigen, welch bedeutende globale Auswirkungen sie langfristig auf die Gesundheit der Kinder und Familien haben wird. Es geht hier nicht darum, einen Katalog zusammenzustellen, denn konkrete und schlüssige Daten fehlen noch. Dennoch lohnt es sich, erste Beobachtungen dazu zu verwenden, um unsere allgemeine Botschaft zu untermauern, nämlich die unumgängliche Notwendigkeit, eine qualitativ hochstehende Sozialpädiatrie vermehrt und besser zu fördern.

Die verschiedenen angekündigten «Wellen» der Pandemie können anders betrachtet werden, wenn man von ihren Auswirkungen auf die Kinder ausgeht1).

  • Das erste «Wellchen» betrifft:
    • die geringe aber reelle Morbidität/Mortalität von Covid im Kindesalter;
    • die unmittelbaren sozialen Auswirkungen (Verlust des Arbeitsplatzes, Schliessung der Schulen …);
    • verminderter Zugang zu medizinischer Betreuung für nicht notfallmässige Situationen (z. B. chronische Krankheiten und gefährdete Bevölkerungsgruppen ganz allgemein);
    • Explosion psychischer Notsituationen bei Kindern und v. a. Jugendlichen.
  • Die zweite Welle (Phase im Anschluss an die Schutzmassnahmen) macht alles deutlich, was Publikationen als «hidden side»8) beschreiben.
  • Die dritte Welle (Tsunami?) macht die sehr wahrscheinlichen Auswirkungen auf die zukünftige Gesundheit der pädiatrischen Bevölkerung sichtbar, bezüglich:
    • psychomotorischer Entwicklung
    • psychischer Gesundheit
    • sozialer Ausgrenzung
    • globaler Auswirkung auf die Gesellschaft und Verstärkung der Ungleichheiten.
  • Und die nächsten angesagten Wellen?
    Die ISSOP hat kürzlich Alarm geschlagen1), und mehrere weitere Publikationen fördern nützliche jedoch beunruhigende Feststellungen und Überlegungen in Hinblick auf die UNO-Kinderrechtskonvention zutage, dabei legen sie (jedoch nicht ausschliesslich) ihren Fokus auf Länder/Situationen grösster Not:
    • Zugang zu Gesundheitsdiensten (Artikel 24)
    • Recht auf Bildung (Artikel 28)
    • Schutz vor Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung (Artikel 19).

Einige weitere Publikationen setzen den Akzent auf nicht unbedingt antizipierte oder erdachte Besorgnisse:

  • Kinder, die plötzlich einen Elternteil oder ein anderes Familienmitglied verloren haben23); Auswirkung der Covid-Schutzmassnahmen auf:
    • Gewichtszunahme und Adipositas
    • Ernährung
    • Körperliche Betätigung und Bewegung
    • Bildschirmzeit
    • Zunahme häuslicher Unfälle24)
    • Stress und psychische Gesundheit8);
  • die «Vergessenen» in Bezug auf die Pandemie und die Impfung: z. B. Menschen mit Behinderung sowie schwer psychisch kranke Patient*innen.
Abbildung 3. Auswirkungen der Covid-19-Wellen auf Kinder und Jugendliche (nach1))

Perspektiven, Beispiele möglicher Aktionsbereiche

Ärztlicher Alltag

  • Verwundbarkeit ausfindig machen, mittels Dokumentation sozialer Ungleichheiten und mittels Einbezug der sozialen Gesundheitsdeterminanten in einem einfachen, respektvollen Austausch.
    • Die «Tafel zur Aufdeckung von Prekarität»25) (fehlend, verkannt, erkannt, offensichtlich; Abb. 1) ist ein hilfreiches Instrument, das mehrere Dimensionen umfasst (Familienleben, Integration, Gesundheit des Kindes, Einkommen und Arbeit, Lebensraum im Zusammenhang mit den Gesundheitsdeterminanten); sie kann im Laufe der Zeit auch ergänzt werden und erlaubt es, je nach eingeleiteten Massnahmen oder neu aufgetretenen Elementen, den Verlauf zu verfolgen. Die Abbildungen 4 und 5 (nach25)) illustrieren einige Situationen.
    • Soziale Verordnung26) – es geht darum, eine Leistung zu verschreiben (wie man es mit einem Medikament macht), die unmittelbar den Lebensstil beeinflusst (z. B. angepasstes Programm körperlicher Betätigung, Einsatz einer Pflegefachfrau oder Hebamme zu Hause …) oder die Gesundheitserziehung mittels Patientenschulung. Beispiele dafür gibt es in der Erwachsenenmedizin und v. a. in der Geriatrie. Die Pädiatrie ist ein Bereich, in welchem solche Möglichkeiten, obwohl sie existieren, noch weiter entwickelt werden können (gemeinschaftliche Aktivitäten, die durch die öffentliche Hand, durch Stiftungen und Interessengruppen in die Wege geleitet und finanziert werden können).
  • Die Kinder und Familien dazu bringen, sich für ihre Gesundheit einzusetzen – das bedeutet, die Gesundheitsvorbeugung und -förderung unterstützen und Massnahmen vorziehen, deren Wirksamkeit dokumentiert wurde. Die Eltern haben einen zentralen Einfluss auf die Gesundheit, die Schulung und die Entwicklung ihres Kindes. Die Ärzt*innen nehmen dabei mit ihrer täglichen Praxis eine wichtige Rolle ein, indem sie die Eltern durch Förderung konkreter Massnahmen unterstützen.
    • Asthmaschulungen z. B. führen zu einer allgemein verbesserten Handhabung der Krankheit27) – weniger Notfallkonsultationen, Spitalaufnahmen und eingenommene Medikamente, aber auch eine verbesserte Lebensqualität von Kind und Familie, weniger Stress sowie eine wesentliche Senkung der Gesundheitskosten; dabei benötigt diese Massnahme wenige Mittel, deren Kosten zudem z. T. von den Krankenkassen übernommen werden. Der Zugang zu diesen Schulungen und Schulen ist in Anbetracht der Anzahl Kinder mit Asthma, der Morbidität und der dadurch verursachten Kosten noch viel zu beschränkt, insbesondere für benachteiligte Bevölkerungsgruppen, bei denen noch regelmässig, insbesondere auf Intensivpflegestationen, eine ernsthafte Gefährdung oder gar Todesfälle beobachtet werden. Diese Schulungen sollten ebenso systematisch wie Spezialsprechstunden angeboten werden, wie es übrigens von den Fachgesellschaften empfohlen wird. Therapeutische Patientenschulung fördert die «Gesundheits-Literacy» (siehe oben) und nimmt sich zahlreichen chronischen Krankheiten im Kindesalter an.
  • Ein systemischer Ansatz und systemische Massnahmen ermöglichen es, die Fähigkeiten der Familien hervorzuheben, sie Ressourcen entdecken zu lassen, von denen sie nie gedacht hätten, dass sie sie haben und die sie zu einer besseren Unterstützung des kranken Kindes befähigen28). Verschiedene Tools können behilflich sein (Eco-Map, Genogramm) und können im Verlaufe der Sprechstunde in die Krankengeschichte der*des Patient*in integriert werden.
Abbildung 4. Grafische Darstellung der familiären Prekarität (nach24))
Abbildung 5. Illustration verschiedener prekären Situationen

Schulung

Die Schweizer Pädiater*innen stellten schon 20014) fest, dass die Ausbildung unzureichend – «full of defect, totally insufficient» – sei und eine Vorbereitung auf die Herausforderungen der Sozialpädiatrie fehle; pragmatisch gesehen bedeutet dies die Notwendigkeit:

  • Aus-, Weiter- und Fortbildung pluridisziplinär auszubauen, unter Einbezug sowohl der in der Praxis tätigen Ärzt*innen als auch der Fachleute des Gesundheitswesens, der Sozialwissenschaften, der Justiz, des Schulwesens …; so wie man es in gewissen, z. T. zertifizierten Fortbildungsmodulen vorfindet29); Gemeinschaftskunde könnte Student*innen und/oder Kinderärzt*innen in Weiterbildung angeboten werden;transkulturelle klinische Kompetenzen müssen gefördert werden; dies bedeutet nicht nur das Erwerben spezifischer Kenntnisse, sondern auch das Erkennen der eigenen stereotypen und verzerrten Vorstellungen und Vorurteile, die sich negativ auf die Betreuung der Patient*innen auswirken; wobei es vor allem darum geht, besser zu verstehen und sich damit besser ihrer Gesundheit annehmen zu können; diese Kompetenzen kommen schliesslich allen Familien, denen wir begegnen, zugute;
  • an Qualitätszirkeln teilzunehmen (z. B. Balintgruppen);
  • Hilfsmittel wie das «Motivationsgespräch» und die oben erwähnten zu beherrschen.

Forschung

Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen sozialer Unsicherheit, schädlichen sozialen, wirtschaftlichen und umweltspezifischen Bedingungen und akuten und/oder chronischen Krankheiten; ebenso sind die Auswirkungen von während der Kindheit erlebten sozialen Problemen auf das Erwachsenenalter nachgewiesen. Zahlreiche Sachverhalte wurden bestätigt (Tabakkonsum, beschränkter Zugang zu medizinischer Betreuung, Stress …)30). Die Herausforderung besteht heute darin, besser zu verstehen:

  • weshalb in sozialer Unsicherheit lebende Kinder eine schlechtere Gesundheit haben;
  • wie und unter welchen Umständen Massnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens sinnvoll sind oder nicht (Qualitätskontrolle im Verlauf).

Diese Herausforderungen müssen durch multidisziplinäre Forschungsprogramme, idealerweise Bottom-up-Ansätze, genauer umschrieben und schliesslich anhand oft komplexer Feldversuche validiert werden. Die Gründung von Forschungsgruppen in ambulanter Pädiatrie (z. B. GREPA in der Romandie), die multidisziplinär vorgehen, ist unerlässlich; ebenso ihre (nachhaltige) Finanzierung und (akademische sowie politische) Anerkennung30).

Gesundheitspolitische Massnahmen (Prinzipien)

Neue Initiativen müssen ergriffen werden, um die Gesundheit und Entwicklung während den ersten Lebensjahren zu verbessern, insbesondere bei den wirtschaftlich und sozial am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Diese Initiativen müssen selbstverständlich während der ganzen Kindheit, Adoleszenz und bis ins Erwachsenenalter fortgeführt, angepasst und entwickelt werden. Diese gesundheitspolitischen Massnahmen sollten folgende Ziele beinhalten:

  • die Kenntnisse der Eltern bezüglich Gesundheit und affektive Bedürfnisse der Kinder verbessern;
  • Vorschulprogramme schaffen, auch durch geeignete Spielmöglichkeiten13), nicht nur um das Erlernen von Lesen und Schreiben und die intellektuelle Entwicklung zu fördern, sondern auch um Verhaltensstörungen während der Kindheit zu verringern, den weiteren Erwerb schulischer Kenntnisse zu begünstigen, die Chancen zu erhöhen, eine Anstellung zu finden und im Erwachsenenalter ein gesundheitsbewusstes Verhalten anzunehmen;
  • die Eltern an der Schaffung dieser Programme beteiligen lassen, um deren erzieherischen Effekt zu verstärken;
  • Müttern genügend soziale und wirtschaftliche Ressourcen gewährleisten;
  • Risikofaktoren wie Tabakkonsum, Risikoverhalten, Abhängigkeit usw. der Eltern möglichst verringern.

Die treibenden Kräfte der sozialen Ungleichheit liegen in der ungleichen Verteilung der Macht und der Ressourcen sowie in den ungleichen Möglichkeiten, Freude am Essen und an der Schaffung eines Umfeldes zu haben – was den Kindern den bestmöglichen Start ins Leben bietet. Es gibt kein Wundermittel gegen Ungleichheit, denn sie entsteht und wird auf verschiedenste Art und Weise erhalten und verschärft. Veränderungen im Makrobereich sind wesentlich, in erster Linie Strategien zur Verminderung der Armut. Massnahmen im Bereich der sozialen Gesundheitsdeterminanten alleine lösen das Problem der gesundheitlichen Ungleichheiten nicht. Halten wir einige wichtige Prinzipien fest:

  • in erster Linie die gefährdeten Bevölkerungsgruppen in die Überlegungen und die Schaffung dieser Massnahmen einbeziehen;
  • ab Empfängnis und während der ganzen Kindheit die sozialen Gesundheitsdeterminanten berücksichtigen;
  • die Armut verringern und allen Bevölkerungsgruppen den Zugang zu öffentlichen Strukturen und Förder- und Vorbeugeprogrammen gewähren;
  • die Massnahmen sollen in Hinsicht auf ihre konkreten Auswirkungen auf die (insbesondere benachteiligten) Kinder und Jugendlichen gedacht/vorgenommen werden.

Schlussfolgerung

Vor dem Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheit muss die Sozialpädiatrie (wieder) einen vorrangigen Platz einnehmen. Die Kinderärzt*innen hatten dies schon vor 20 Jahren deutlich gemacht, indem sie vorschlugen, entsprechende Ausbildungsmodelle zu entwickeln, gesundheitspolitische Massnahmen vorzunehmen, Postulate an die Krankenkassen zu richten usw. Leider wurde bislang zu wenig unternommen. Sofortiges Handeln ist gefragt. Wenn auch bei den an vorderster Front stehenden Fachpersonen (Mütterberaterinnen, Hebammen, Kinder- und Hausärzt*innen) sich Entmutigung und ein Gefühl der Machtlosigkeit breitmachen, können zahlreiche konkrete und nützliche Massnahmen ergriffen werden, die es verdienen, gefördert zu werden:

  • Situationen sozialer Not anhand der oben beschriebenen Hilfsmittel frühzeitig erkennen;
  • den Zugang zu allen bestehenden Unterstützungsangeboten erleichtern, die den benachteiligten Personen oft schwer zugänglich sind;
  • Kenntnisse in sozialer Gesundheit und Gemeinschaftsgesundheit fördern und erweitern;
  • an Qualitätszirkeln (Privatpraxen, Polikliniken) teilnehmen;
  • sich als Ärzt*in aber auch als Bürger*in zur Bekämpfung von Notsituationen einsetzen.

Im Weiteren sind Forschung und eine (gute) Nutzung von Kenntnissen und Daten in Bezug auf die Realitäten der Sozial- und Gemeinschaftspädiatrie zwingend notwendig. Es beginnt mit der Schaffung von Datenbanken, wobei diese sorgfältig und nach ethischen Richtlinien erarbeitet werden müssen.

Und schliesslich soll die Pädiatrie, wie die Erwachsenenmedizin, Aktionen zugunsten der Gemeinschaft und des Gesundheitswesens entwickeln, mit der Unterstützung universitärer Strukturen und öffentlicher Einrichtungen.

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Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Der Autor hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Prof.  Mario Gehri Ancien Médecin-chef, Département femme-mère-enfant, Site de l'hôpital de l'enfance, CHUV, Lausanne