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Beispiele angewandter Sozialpädiatrie in der Schweiz

Sozialpädiatrie findet in der Schweiz in den verschiedensten Settings statt, dort wo aufmerksam Lücken im Angebot für die biopsychosoziale Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen wahrgenommen werden und lokale Akteure in interdisziplinärer Zusammenarbeit kreativ praktische Lösungen suchen. Auf unsere Anfrage werden vier Angebote exemplarisch vorgestellt, ein sozialpädiatrisches Zentrum an einer Kinderklinik, ein interdisziplinäres Angebot für die psychische Gesundheit für geflüchtete Kinder, Jugendliche und deren Familien, ein auf umfassende Gesundheitsversorgung ausgerichtetes Projekt zur Aufnahme von schulpflichtigen Migranten sowie ein Angebot zur Integration von Schülern mit chronischen Krankheiten in der Schule. Die Liste könnte sicher noch lang weitergeführt werden. Vielleicht geben die Beispiele auch ein paar Inspirationen… 

1.Sozialpädiatrisches Zentrum Winterthur (SPZ)

Dr. med. Kurt Albermann, Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ, Departement Kinder- und Jugendmedizin, Kantonsspital Winterthur kurt.albermann@ksw.ch

Das Sozialpädiatrische Zentrum SPZ in Winterthur wurde 2003 gegründet, es gehört zum Departement Kinder- und Jugendmedizin des Kantonsspitals Winterthur. Am SPZ bestehen ambulante und stationäre Abklärungs-, Behandlungs- und Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche in den Bereichen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychosomatik, Entwicklungspädiatrie und Neuropädiatrie. Zudem bietet das SPZ seit 2013 im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich gemeinsam mit dem Kinderspital Zürich ein spezielles Verfahren zur Bestimmung des sonderpädagogischen Bedarfs im Vor- und Nachschulbereich an6).

Die Philosophie des SPZ umfasst eine enge interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit, welche die Kompetenzen der verschiedenen Berufsgruppen unter einem Dach zusammenfasst und differenzierte Perspektiven und spezifische Optionen der Diagnostik und Therapie ermöglicht. Neben einem hohen Grad interner Vernetzung erfolgt bei Bedarf auch eine enge Kooperation mit den zuweisenden Praxen, Schulen sowie den psychosozialen Institutionen der Versorgungsregion Winterthur und der umliegenden Kantone. Im Rahmen einer umfassenden Standortbestimmung wird ein individuelles Profil der Ressourcen, Entwicklungsdeviationen und allfälligen Störungen der psychischen und altersbezogenen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen erstellt. Sie werden entsprechend ihren Möglichkeiten gefördert und notwendige Therapien eingeleitet. Hinweise auf ungünstige Entwicklungsbedingungen, vermehrten Stress sowie Belastungen durch das Umfeld werden mit den Familien thematisiert, um frühzeitig Unterstützung anbieten zu können7,8). Es besteht eine enge Kooperation mit dem «Institut Kinderseele Schweiz» (iks), das sich für gleichberechtigte Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen mit einem psychisch erkrankten Elternteil engagiert.

siehe Albermann et al. (Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem psychisch erkrankten Elternteil)

Das SPZ hat ein integriertes und ganzheitliches Verständnis der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und orientiert sich am sog. erweiterten bio-psychosozialen Modell9-11).

Das Altersspektrum beträgt im ambulanten Bereich 0-18 Jahre, im stationären Sektor werden in einem Eltern-Kind-Angebot Kinder von ca. 0-3 Jahren mit frühkindlichen Regulationsstörungen behandelt, zudem Kinder und Jugendliche von ca. 5-18 Jahren mit psychischen und psychosomatischen Störungen. Im stationären Bereich erfolgt eine multimodale Behandlung der Kinder und Jugendlichen unter Einbezug evidenzbasierter, anerkannter Therapieverfahren (lösungsorientiert, systemisch, familienorientiert, CBT, Schematherapie, Ego State, ACT etc.), sie besuchen die interne Klinikschule. Das Angebot ist seit 2012 in der Spitalliste des Kantons Zürich aufgeführt.

Zudem bietet das SPZ im Auftrag der Stadt Winterthur den schulärztlichen Dienst für die rund 11’600 Kinder und Jugendlichen der insgesamt 588 Kindergarten- und Schulklassen (gemäss Volksschulamt Kt. Zürich Schuljahr 2020/21)12) an.

Das SPZ ist in folgenden Fachgebieten/Schwerpunkten (durch das SIWF* www.siwf.ch) als Weiterbildungsstätte anerkannt:

  • Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie*: 3 Jahre
  • Entwicklungspädiatrie*: 2 Jahre
  • Neuropädiatrie*: 1 Jahr
  • Klinische Psychologie
  • Praktikumsangebote: Psychologie, Sozialpädagogik, Logopädie, KV
Web: https://www.ksw.ch/klinik/sozialpaediatrisches-zentrum-spz/

2. Psychische Gesundheit von Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund und Ethnopsychoanalyse

Ein transversales Evaluations- und Psychoanalysetool für Flüchtlinge

Saskia von Overbeck Ottino, Psychiatre pour adultes et enfants-adolescents, ethnopsychanalyste, médecin associé HUG, Genève vonoverbeckottino@bluewin.ch

Eine wachsende Zahl von Flüchtlingen erreichte 2015 Europa, auf der Flucht vor Konflikten, hauptsächlich aus Eritrea, Afghanistan, Irak und Syrien. Vor allem in Genf ist, trotz des systematischen Angebots von somatischen Gesundheitsuntersuchungen, kein Anstieg der Nachfragen nach psychiatrischer Betreuung zu verzeichnen. Und dies obwohl die wissenschaftliche Literatur einhellig eine Häufung von Risikofaktoren beschreibt, die die psychische Gesundheit der Flüchtlinge gefährden können. Faktoren vor, während und nach der Migration wie extreme Traumata im Herkunftsland, Gewalt auf dem Weg ins Exil und Unsicherheit im Ankunftsland sind allesamt soziale Determinanten, die psychische Erkrankungen begünstigen. Statistiken zu diesem Thema zeigen eine fünffach erhöhte Anzahl an postpartalen Depressionen, eine signifikante Zunahme von Entwicklungsstörungen bei Kindern und ganz allgemein psychiatrische Störungen bei 60% der Flüchtlinge (hauptsächlich post-traumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Angststörungen und Drogenmissbrauch)1). Diese Diskrepanz zwischen dem eindeutigen Bedarf und der geringen Nachfrage nach psychiatrischer Betreuung ist bezeichnend für die Schwierigkeiten bei der Erkennung und dem Zugang zu ärztlicher Betreuung. Dies wurde als Problem des öffentlichen Gesundheitswesen erkannt und führte zur Schaffung einer Anlaufstelle im Universitätsspital Genf, das Asylsuchenden den Zugang zur psychiatrischen Versorgung bei psychischen Problemen erleichtern soll: „MEME, «santé Mentale Enfants-adolescents Migrants et Ethnopsychanalyse.»

Die Bezeichnung MEME bezieht sich nicht nur auf den anderen, gleichartigen (même), sondern auch auf das von Richard Dawkins in «The Selfish Gene» vorgeschlagene Konzept der Meme (Dawkins, 1976). Ein Meme ist, in Analogie zum Gen, ein nicht-genetischer Replikator, verantwortlich für die Übertragung von Verhaltensweisen oder kulturellen Elementen, die es einer bestimmten sozialen Gruppe erlauben, sich weiterzuentwickeln, ähnlich wie Menschen sich weiterentwickeln. Diese Mehrdeutigkeit des Wortes MEME widerspiegelt den Geist unserer Anlaufstelle, die sowohl ein Treffpunkt mit seinesgleichen, als auch eine Öffnung für das Unterschiedliche und einen Raum für Entwicklung sein will.

Es handelt sich um eine kleine Struktur (2 Vollzeitstellen), bestehend aus einem Psychiater, drei Psychologen und einer Sozialarbeiterin, die sich an drei Hochrisikogruppen wendet: Frauen/Eltern während der Perinatalzeit, Familien mit Kleinkindern und unbegleitete Minderjährige. Unsere Maßnahmen werden in enger Zusammenarbeit mit den Ärzten durchgeführt, die für die Gesundheitsuntersuchungen zuständig sind.

Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) werden innerhalb der ersten Wochen nach ihrer Ankunft in Genf systematisch abgeklärt. Dies ermöglicht eine bessere Identifizierung ihrer Bedürfnisse, eine therapeutische Allianz, sowie die Zusammenarbeit mit dem Betreuungsnetz und seinen Ressourcen. Wir stellten fest, dass 80% der UMA psychiatrische Symptome aufwiesen, die eine längere Betreuung und individuelle soziale Unterstützung benötigten. Was die perinatale Betreuung und Betreuung von Familien mit Kleinkindern betrifft, findet sie im allgemeinen zu zweit statt, durch Sozialarbeiterin und Psychologe. Die Sozialarbeiterin spricht dabei im Rahmen einer psycho-sozialen Begleitung zuhause Themen rund um für Flüchtlinge spezifische Aspekte des täglichen Lebens an, der Psychologe seinerseits bietet eine psychotherapeutische Betreuung an. Der verantwortliche Arzt gewährleistet die Zusammenarbeit innerhalb des Betreuungsnetzes und führt die Abklärungs- sowie Gespräche mit den Eltern oder der Familie durch.

3. „Und die Gesundheit?“ Auf allophone und gefährdete Bevölkerungsgruppen zugehen

Ein Projekt für den Aufnahme und die Gesundheitsabklärung junger Migranten in der Stadt Fribourg

Dr. med. Tina Huber-Gieseke, Médecine scolaire/Service des écoles de la Ville de Fribourg, tina.huber-gieseke@ville-fr.ch

Vignette (2016): Mohamed, ein 14jähriger Junge aus Eritrea, kommt in die Schweiz, um die Mitglieder seiner Familie wiederzufinden. Von der Grenze wird er direkt nach Fribourg geschickt und in einer Aufnahmeklasse eingeschult. Seit Beginn seiner Migration hatte er keinen medizinischen Kontakt mehr. Beim Arztbesuch beklagt er sich über chronische Bauchschmerzen.

Vignette (2019): Aus dem Balkan stammende Mutter mit ihren 3 kleinen Jungen; der Vater blieb in der Heimat zurück. Sie leben in prekären Verhältnissen. In den ersten Monaten meldet die Mutter ihre 5- und 7jährigen Söhne nicht in der Schule an, weil sie schlecht informiert ist. Die Behörden werden alarmiert und schalten sich ein, als man den Jüngsten in Nähe des Wohnortes umherirren sieht. Nach der Einschulung der beiden älteren Söhne wird der Schularzt beigezogen, um die Kinder zu untersuchen.

Während den Jahren 2014-2015 sind zahlreiche Familien mit Migrationshintergrund, manchmal mit Kleinkindern, sowie unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) in Fribourg eingetroffen. Ihr Gesundheitszustand, physisch wie psychisch, war meist schlecht, bedingt durch die während der Migration erlebten Schwierigkeiten und der seit ihrer Abreise mangelnden ärztlichen Betreuung. Zudem ist die Ankunft in der Gaststadt oft mit Stress verbunden, was auch im benachbarten Frankreich beobachtet wird2). Diese Beobachtungen haben uns veranlasst, ein interdisziplinäres Projekt zu starten, das durch die Direktion des Service des écoles anerkannt wurde (Partner: Secteur de Contact École-Parents-Migrants (SCEPM), Schulärztlicher Dienst, Schulverwaltung, Caritas „Verständigung“ mit interkulturellen Dolmetschern).

Das Projekt gründet auf dem Postulat, dass in der Schweiz die Schule ein universelles Recht und der Zugang zu Gesundheitsversorgung ein Grundrecht darstellt3). In Zusammenarbeit mit dem SCEPM (Secteur de Contact École-Parents-Migrants), dessen Auftrag es ist alle neu zugezogenen Familien aufzunehmen, wird eine Begegnung mit dem schulärztlichen Dienst vorgeschlagen. Das Ziel ist es, den Kindern und UMA aller Schulen der Stadt Fribourg eine umfassende Gesundheitsuntersuchung zu ermöglichen. Nach der Abklärung durch die Pflegefachfrau und den Schularzt – meist in Gegenwart des interkulturellen Dolmetschers – wird das Kind oder der Jugendliche an einen Privatarzt oder an eine seiner Problematik entsprechenden Spezialsprechstunde zugewiesen.

Die klinische Untersuchung und eine Anamnese der Lebensgewohnheiten, die die Kultur und die Traditionen respektiert, öffnen oft die Türen und ermöglichen es, von sich und seinen Sorgen zu sprechen. Seit der Ankunft ist der Stress oft allgegenwärtig, beim traumatisierten Kind wie auch den isolierten Eltern, die auf einen offiziellen Status warten und um ihre eigene Integration besorgt sind. Stress ist ein Risikofaktor für körperliche und psychische Krankheiten1). Dieser Druck kann durch eine professionelle, auf die Gesundheit ausgerichtete und auf wohlwollender Zuwendung beruhender Begleitung gelindert werden.

Wir haben folgende Beobachtungen gemacht:

  • Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen muss an andere Dienststellen weitergewiesen werden (z.B. Caritas)
  • Die Anwesenheit eines interkulturellen Dolmetschers ermöglicht es, kulturelle Elemente, Traditionen und Rituale zu integrieren, die berücksichtigt werden müssen, um bei gegenseitigem Respekt effizient zu sein.
  • Die enge Zusammenarbeit mit der Lehrperson trägt dazu bei, deren Bedenken zu zerstreuen.
  • Der SCEPM ist für die Eltern und die Schule eine wertvolle Anlaufstelle (Empfang und erste Auskünfte, Begleitung, Koordination der Kompetenzbeurteilungen, Zusammenarbeit mit weiteren im Bereiche Migration tätigen Partnern).

Während dem Covid-19-Jahr wurde das Projekt angepasst mit einem Angebot an telefonischen Konsultationen «Auf gefährdete Familien zuzugehen». Wir hatten auf diese Weise während der Schliessung der Schulen im Jahr 2020 Kontakt mit 94 Kindern und 58 Familien.

Fazit

Diese ersten Abklärungen bedeuten für eine Anzahl Neuankömmlinge den Beginn des Integrationsprozesses in der Schule; sie setzen den Akzent auf die allgemeine Gesundheit. Unsere Betreuung besteht im Erfassen psychischer und körperlicher Bedürfnisse, in einer unentgeltlichen klinischen Abklärung, in Nachimpfungen, Wachstumskontrolle und Weiterweisung an lokale Integrations- und Hilfsdienste. Der Zugang zu ärztlicher Betreuung und die personalisierte Begleitung, die Möglichkeit sich in seiner Muttersprache ausdrücken zu können, sowie die Einschulung mit doppelter Integration sind Schutzfaktoren gegen eine Verschlechterung der psychischen und physischen Gesundheit. Dieses interdisziplinäre Vorgehen ermöglicht es den verschiedenen Fachpersonen, unter Wahrung des Berufsgeheimnisses zusammenarbeiten und den Familien und Kindern mit Migrationshintergrund besser beistehen zu können.

Hilfsdienste wie der SCEPM und der schulärztliche Dienst erleichtern es, Brücken zwischen den Welten «dort» und «hier» zu schlagen.

4. Zäme unterwegs – chronische Erkrankung und Schule

Ein Angebot des Schulärztlichen Dienstes Stadt Zürich

Dr. med. Dorothea Schultz, Leitung Angebot «Zäme unterwegs – chronische Erkrankung und Schule», Schulgesundheitsdienste Stadt Zürich, Schulärztlicher Dienst, Zürich, dorothea.schultz@zuerich.ch

Im Jahr 2013 wurde in der Stadt ZH erkannt, dass das Vorgehen in Notfallsituationen bei Kindern mit besonderen medizinischen Bedürfnissen in der Volksschule oft ungeregelt und uneinheitlich erfolgt und die rechtlichen Rahmenbedingungen unklar sind. Deshalb wurde ein Projekt ins Leben gerufen, in dem unter Leitung des Schulärztlichen Dienstes zusammen mit Eltern, Ärzte/innen und Fachpersonen der Schule und dem Schulamt die rechtlichen Grundlagen geklärt und einheitliche Abläufe definiert wurden. Mit Beschluss der Zürcher Schulpflege vom 9.7.2019 steht «Zäme unterwegs – chronische Erkrankung und Schule» den Regelschulen der Stadt Zürich als dauerhaftes Angebot zur Verfügung4).

Die Quintessenz des Regelwerks besteht darin, mittels frühzeitiger, offener und transparenter Information und Besprechung der medizinischen Bedürfnisse, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Kinder und Jugendliche mit besonderen medizinischen Bedürfnissen an möglichst allen Schulaktivitäten teilnehmen können und im Lebensraum Schule kompetent unterstützt und sicher betreut werden. Dabei ist es ausschlaggebend, die medizinischen Bedürfnisse und Massnahmen aus der Perspektive der Betroffenen und ihrer Eltern und der Perspektive der Schule (Berufsauftrag schulische Förderung, Aufsichts- und Obhutspflicht) klar zu definieren und im Rahmen von Verhältnismässigkeit, Zumutbarkeit und dem effektiv Möglichen einen gemeinsamen Nenner für die Umsetzung zu finden. Eine gegenseitige Unterstützung ist grundlegend. Den Schulärztinnen und Schulärzten fällt die verantwortungsvolle Aufgabe zu, zwischen den Interessen zu vermitteln, medizinische Sachverhalte in eine für Laien verständliche und nachvollziehbare Sprache zu übersetzen sowie betroffene Eltern subsidiär zu unterstützen und die Schulen im spezifischen Notfallmanagement zu schulen. Im Einverständnis der Eltern arbeiten sie eng mit den behandelnden Ärzten/innen zusammen5).

Und aktuell?

Das Angebot wird von den betroffenen Eltern und Schulen in Anspruch genommen. Die Daten des laufenden Schuljahres zeigen, dass bei 823 Schüler/innen der Regelschule (2,3%), eine chronische Krankheit bekannt ist. Bei der Mehrzahl der erfassten Schüler/innen sind die Auswirkungen des medizinischen Bedürfnisses auf den Schulalltag überschaubar und eine Bewältigung auf der Ebene der Klassenlehrperson bzw. Betreuung möglich. Als Beispiel sei ein Kind mit einem allergischen Heuschnupfen genannt, das in der Pollensaison schlechter schläft und in der Schule auffällt, weil es unkonzentriert ist. Die Eltern des betroffenen Kindes und die Klassenlehrperson können das Bedürfnis klären und allfällige Massnahmen vereinbaren. Bei 195 Schüler/innen (0,5%) ist jedoch ein Notfallset in der Schule hinterlegt, da sie eine spezifische Erste Hilfe in einer Notfallsituation benötigen. Grösstenteils betrifft dies Schüler/innen mit hohem Risiko für eine anaphylaktische Reaktion bei Allergie, gefolgt von Epilepsie, Diabetes mellitus, schwerem Asthma bronchiale, Herzerkrankung und weiteren seltenen, aber relevanten Erkrankungen. Wenn in der Schule lebensbedrohliche Zwischenfälle eintreten können, ist um das betroffene Kind herum das ganze System aus Familie, betreuende/n Ärzt/-innen und Schule gefordert, um einer solchen Situation vorbeugen bzw. im eingetretenen Notfall korrekt und sicher handeln zu können. Die zeitnahe und zielorientierte Kommunikation der relevanten Bedürfnisse des Schülers/der Schülerin innerhalb des Schulteams sind in diesen Fällen elementar. Eine entsprechende Schulung der Schule für das Vorgehen im Notfall (z.B. Anaphylaxie-Schulung) ist wesentlich.

Wie viele Schulen sind betroffen?

Statistisch gesehen, könnte auf eine Schule ein betroffenes Kind, ein/e betroffene/r Jugendliche/r kommen, welche eine spezifische Erste Hilfe benötigt. Die effektive Verteilung in den Schulen zeigt ein anderes Bild. So sind z. Bsp. im Teamzimmer einer mittelgrossen Schule in der Stadt ZH die Notfallpläne zwölf betroffener Kinder nebeneinander aufgehängt, damit alle Lehrpersonen, die in der Pause Aufsicht führen, einen Überblick an zentraler Stelle bekommen. Fotos der Kinder helfen beim Orientieren, Notfallsets sind in der Nähe gut zugänglich und angeschrieben aufbewahrt, um schnell reagieren zu können. Je einheitlicher die Notfallpläne aufgebaut sind, desto einfacher ist es für die Fachpersonen der Schule, sich einen schnellen Überblick zu schaffen.

Deshalb schätzen alle Beteiligten das gemeinsame Engagement aller Involvierten und sind «zäme unterwegs» zur Unterstützung der Schulen bei der Integration von Kindern mit einer chronischen Erkrankung durch einfache Prozesse, standardisierte Vorlagen und qualitativ hochstehende Schulungen.

Referenzen

  1. WHO (2018). Report on the health of refugees and migrants in the WHO European Region. https://www.euro.who.int/en/publications/abstracts/report-on-the-health-of-refugees-and-migrants-in-the-who-european-region-no-public-health-without-refugee-and-migrant-health-2018
  2. Hamel E, Veisse A, Katobi L.  Dossier Migrants en situation de vulnérabilité et santé. La santé en action-Dossier No455-mars 2021.  https://www.santepubliquefrance.fr/docs/la-sante-en-action-mars-2021-n-455-migrants-en-situation-de-vulnerabilite-et-sante
  3. Constitution fédérale de la Confédération suisse, du 18 avril 1999 (état le 7 mars 2021): Art. 12 et 41b.
    https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/404/f
  4. http://docplayer.org/208235181-Auszug-aus-dem-protokoll-der-schulpflege.html
  5. https://www.stadt-zuerich.ch/ssd/de/index/gesundheit_und_praevention/schularzt/chronische_krankheiten.html
  6. https://www.zh.ch/content/dam/zhweb/bilder-dokumente/themen/familie/angebote-fuer-familien-mit-kindern/spf/zuercher_abklaerungsverfahren_spm.pdf
  7. Karen Hughes, Mark A Bellis, Katherine A Hardcastle, Dinesh Sethi, Alexander Butchart, Christopher Mikton, Lisa Jones, Michael P Dunne. The effect of multiple adverse childhood experiences on health: a systematic review and meta-analysis. Lancet Public Health 2017; 2: e356–66
  8. Zhuang Miao, Yan Wang and Zhongsheng Sun. The Relationships Between Stress, Mental Disorders, and Epigenetic Regulation of BDNF. Int. J. Mol. Sci. 2020, 21, 1375; doi:10.3390/ijms21041375
  9. «The Biopsychosocial Model Approach» (PDF). Rochester University. Rochester University.
  10. Engel, George L. (8 April 1977). «The need for a new medical model: a challenge for biomedicine» (PDF). Science. 196 (4286): 129–36.
  11. Karunamuni N, Imayama I, Goonetilleke D. (2020). «Pathways to well-being: Untangling the causal relationships among biopsychosocial variables». Social Science & Medicine. doi:10.1016/j.socscimed.2020.112846.
  12. https://stadt.winterthur.ch/themen/leben-in-winterthur/bildung-und-schule

Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr med.  Saskia von Overbeck Ottino psychiatre pour adultes et enfants-adolescents, ethnopsychanalyste, médecin associé HUG, Genève

Dr med.  Tina Huber-Gieseke médecine scolaire/service des écoles de la Ville de Fribourg

Dr. med.  Dorothea Schultz Leitung Angebot «Zäme unterwegs – chronische Erkrankung und Schule», Schulgesundheitsdienste Stadt Zürich

Dr. med.   Kurt Albermann Chefarzt, Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ, Departement Kinder- und Jugendmedizin, Kantonsspital Winterthur