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Jugendliche mit Migrationshintergrund – Herausforderung für die allgemeine Gesundheit, über welche Hilfsmittel verfügen Kinderärztinnen und Kinderärzte?

Migration kann für zahlreiche Eltern eine Gelegenheit sein, ihren Kindern bessere Lebensbedingungen, eine Ausbildung oder angemessene Pflege zu ermöglichen. In Kriegsverhältnissen, bei extremer Armut oder Unsicherheit, ist es für eine Familie oder einen unbegleiteten Jugendlichen oft die einzige Alternative, am Leben zu bleiben.

Einführung

Migration kann für zahlreiche Eltern eine Gelegenheit sein, ihren Kindern bessere Lebensbedingungen, eine Ausbildung oder angemessene Pflege zu ermöglichen. In Kriegsverhältnissen, bei extremer Armut oder Unsicherheit, ist es für eine Familie oder einen unbegleiteten Jugendlichen oft die einzige Alternative, am Leben zu bleiben.

Jugendliche mit Migrationshintergrund mobilisieren erhebliche persönliche Ressourcen, nicht nur um sich den Herausforderungen zu stellen, die sich aus den somatischen, neurobiologischen oder psychologischen Veränderungen ergeben, sondern auch um sich an ein neues soziokulturelles Umfeld anzupassen, das die oft erzwungene Migration in ein unbekanntes Land verlangt. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind deshalb verwundbarer, nicht nur auf Grund ihres Entwicklungsalters, sondern zusätzlich durch verschiedenste Risikofaktoren wie eine unsichere rechtliche oder schwierige finanzielle Situation, psychologische Not oder mangels Zugang zu einer adäquaten Ausbildung1). Diese verschiedenen inneren (Adoleszenz) und äusseren (Migration) Vorgänge spielen eine entscheidende Rolle bei der Identitätsbildung und Autonomieentwicklung.

Migration ist häufig verbunden mit Trauer, Trennung, Gewalt oder Ereignissen, die die Kinder oder Jugendlichen schwerwiegenden Traumata und/oder tödlichen Bedrohungen aussetzen. Studien belegen, dass 80% der Asylsuchenden auf ihrem Migrationsweg Gewalt ausgesetzt waren2). Bis zu 76% der unbegleiteten Minderjährigen erleben posttraumatische Stresszustände3).

Obwohl die Adoleszenz eine vulnerable Phase darstellt, bieten sich auch Chancen z.B. hinsichtlich der allgemeinen Gesundheit, wie das Erlernen von gesundheitsschützendem Verhalten oder auch der Übergang von der Schule ins Berufsleben. Das Umfeld, in welchem kürzlich in die Schweiz gekommene Jugendliche leben, wird somit einen entscheidenden Einfluss auf ihre Entwicklung und Gesundheit haben.

Der Begriff «Migrant:in» ist vielfältig und umfasst verschiedenartige Populationen. In diesem Artikel werden unter «Jugendliche mit Migrationshintergrund» Jugendliche der ersten Generation, die nach ihrer Geburt in die Schweiz gekommen sind, von ihren Eltern oder unbegleitet, mit oder ohne Aufenthaltsbewilligung, sowie Flüchtlinge und Asylsuchende zusammengefasst.

Es ist wichtig, dass Kinderärzt:innen in ihrer Fortbildung Problemstellungen berücksichtigen, die Menschen mit Migrationshintergrund betreffen, um die Betreuung von Jugendlichen zu verbessern und so soziale Ungleichheiten zu mindern, die Folgen für ihre Gesundheit haben können. Die Erstuntersuchung soll neben einer vollständigen körperlichen Untersuchung4) eine psychosoziale Anamnese und eine Beurteilung der verfügbaren Ressourcen über die die Jugendlichen verfügen umfassen, um ihre allgemeine Gesundheit wie auch ihre Bedürfnisse evaluieren zu können. Dieser Artikel soll Grundversorger:innen über soziale Gesundheitsaspekte informieren. Um eine qualitativ hochstehende Betreuung dieser Population zu ermöglichen, soll auf drei Ziele eingegangen werden:

  • Die administrativen Abläufe im Zusammenhang mit der Aufenthaltsbewilligung für Asylsuchende zu kennen, die die Gesundheit und den Zugang zu ärztlicher Betreuung beeinflussen können.
  • Die psychosoziale Verwundbarkeit der Jugendlichen erkennen, um sie frühzeitig einer sozialmedizinischen Betreuung zuzuführen.
  • Ressourcen und Schutzfaktoren der Patient:innen erkennen, zur Förderung und Prävention der allgemeinen Gesundheit.

Migration in die Schweiz, einige Statistiken

Weltweit nimmt die Zahl der vertriebenen Menschen zu. Von 2015 bis 2017 hat Europa einen starken Migrationsfluss erlebt. In der Schweiz haben 2015 über 39’000 Menschen Asyl gesucht, die höchste Anzahl seit 1990 während dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien5). 6.7% der 2015 registrierten Asylsuchenden waren unbegleitete Minderjährige, d.h. 2’730 Jugendliche6). Es wurden zahlreiche spezialisierte Strukturen (Heime, Pflegestrukturen) geschaffen, um den spezifischen Bedürfnissen dieser Population gerecht zu werden.

Seit 2017, nach gewissen Änderungen der Migrationsgesetze, hat die Zahl der nach Europa und der Schweiz Migrierenden abgenommen. Diese Abnahme hat sich 2020 infolge der COVID-19-bedingten Einschränkungen noch verstärkt. 2020 wurden in der Schweiz 11’040 Asylgesuche hinterlegt, wovon 4.5% (535) von unbegleiteten Minderjährigen6). Parallel dazu besteht eine kritische Situation vor den Toren Europas. Die Lebensbedingungen tausender Jugendlicher sind problematisch, sie sind gemeinschaftlicher sowie institutioneller Gewalt aussetzt, wie in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln oder den spanischen Enklaven in Nordafrika. Ein erneuter Flüchtlingsschub in die Schweiz ist möglich und wir müssen bereit sein, diese jungen Menschen in sozialer und medizinischer Hinsicht aufzunehmen.

Heutzutage werden in der Schweiz Asylgesuche vor allem von Menschen aus Eritrea, Afghanistan, der Türkei, aus Algerien, Syrien und Sri Lanka, in geringerem Masse aus Georgien, Irak, Iran und Somalia hinterlegt5).

Asylgesuch und administrative Situation

Das Asylverfahren wurde 2019 revidiert, mit dem Ziel, die administrativen Verfahren zu beschleunigen7) . Bei der Ankunft in der Schweiz kann die Asylsuchende bei einem der 6 Bundesasylzentren ein Gesuch hinterlegen. Diese Stufe dauert höchstens 140 Tage und die Verfahren finden zum grössten Teil in den Bundesasylzentren (BAZ) statt (Abb. 1). Die Personen erhalten dann eine Aufenthaltsbewilligung N. Das Verfahren durchläuft mehrere Stufen und wird durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) durchgeführt:

Vorbereitungsphase (10 bis 21 Tage): Summarische Anhörung zur Aufnahme der persönlichen Daten und der Asylgründe mit unentgeltlicher Rechtsvertretung. Das SEM wird das weitere Verfahren gemäss einem der drei möglichen weiterführen:

1. Dublin-Verfahren (40%): Hat die Person bereits in einem anderen europäischen Land ein Asylgesuch eingereicht, wird ihr Gesuch abgelehnt. Man spricht von einem «Dublin-Fall». Die betreffende Person erhält einen Nichteintretensentscheid (NEE). Sie wird entweder direkt in einen anderen Staat (Mitglied des Dublin-Abkommens) weggewiesen oder in ein BAZ ohne Verfahrensfunktion überwiesen.

Getaktete Phase (bis 140 Tage): längere und detailliertere Anhörung Beschleunigtes Asylverfahren (32%): Ist der Entscheid positiv (Aufenthaltsbewilligung B oder F), wird die Person in ein kantonales Zentrum überwiesen, um mit der Integration zu beginnen. Ist der Entscheid negativ, kann innert 7 Tagen Rekurs eingelegt werden. Bei rasch durchführbarer Wegweisung findet diese direkt aus dem BAZ statt.

2. Erweitertes Verfahren (28%): In komplexen Fällen wird die Person für das weitere Verfahren in einem kantonalen Zentrum untergebracht.

3. Allen Personen deren Gesuch abgelehnt wurde, deren Wegweisung jedoch nicht durchführbar ist, kann eine Nothilfe zuerkannt werden. Diese wird durch kantonale Bestimmungen festgelegt.

Abbildung 1. Asylverfahren
Quelle: Das Asylverfahren, Staatssekretariat für Migration (2019, 1. März), Schweizerische Eidgenossenschaft. https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/asyl/asylverfahren.html
Tabelle 1. Definition
Quelle : Gafner Magali, Autorisation de séjour en Suisse : Guide Juridique, CSP Vaud 2020
Permis et droits des personnes relevant de l’asile. (2018, 11 octobre). asile.ch. https://asile.ch/permis/

Situationen, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen

  • Jugendliche mit Nothilfe (NEE)

Personen mit NEE müssen die Schweiz verlassen. Während der Wartezeit bis zu ihrer Wegweisung, erhalten diese Personen eine sogenannte Nothilfe. Diese Nothilfe wird durch den Kanton gewährt, auf Anfrage und bei erwiesener Bedürftigkeit. Sie besteht aus einer (gemeinschaftlichen) Unterkunft, Nahrung oder Nahrungsgutscheinen (selten in bar, CHF 8.-/Tag entsprechend), Hygieneartikel und ärztlicher Betreuung. Diese Massnahmen wurden durch das SEM ursprünglich eingeführt, um die betroffenen Personen anzuhalten, die Schweiz zu verlassen; eine grosse Anzahl bleibt jedoch und lebt jahrelang in prekären Verhältnissen. Zu bemerken ist, dass in der Schweiz jede sechste von der Sozialhilfe abhängige Person minderjährig ist9). Diese Situation führt zu grosser Unsicherheit bezüglich Lebensplanung der Familien und zu finanziell schwierigen Situationen, was ungünstige Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Der Zugang zu einer Lehre ist unmöglich. Der:die Kinderärzt:in muss darauf achten, dass eine sichere Unterkunft, eine pädagogische Unterstützung sowie der Zugang zu gesunder Ernährung gesichert sind.

  • Jugendliche ohne Aufenthaltsbewilligung

Jugendliche ohne Aufenthaltsbewilligung befinden sich in einer illegalen und extrem verwundbaren Situation. Sie sind einem erhöhten Risiko für physische und psychische Gesundheitsprobleme ausgesetzt, mit zudem vermindertem Zugang zu medizinischer Betreuung, aus Furcht angezeigt zu werden und wegen fehlender Krankenversicherung.

Diese Jugendlichen haben ein Anrecht auf eine Krankenversicherung, jedoch nicht auf finanzielle Unterstützung für das Notwendigste. Der Zugang zu einer Berufslehre ist ebenfalls erschwert oder unmöglich. Ihre Gesundheit wird zusätzlich gefährdet durch illegale Arbeit, wenn ihre Situation nach dem Austritt aus der obligatorischen Schule nicht legalisiert wird.

  • Unbegleitete Jugendliche

Unter unbegleiteten Jugendlichen versteht man alle Personen unter 18 Jahren, die von ihren beiden Eltern getrennt wurden und nicht durch einen verantwortlichen Erwachsenen begleitet sind. Diese isolierten, nicht durch eine Familie begleiteten Jugendlichen benötigen eine spezifische bio-psycho-soziale Betreuung, um ärztlich betreut und in Hinblick auf eine Ausbildung unterstützt zu werden. Der Übergang ins Erwachsenenalter ist oft mit Risiken verbunden und muss durch die Fachpersonen, die diese Jugendlichen betreuen, geplant werden, um mögliche Ansprechpartner:innen zu identifizieren, die sie begleiten und vermeiden können, dass es zur beruflichen Ausgrenzung oder zum Zerfallen ihrer sozialen oder psychologischen Unterstützung kommt.

Kommunikative Kompetenzen

Gute kulturübergreifende und klinische Fähigkeiten sind unerlässlich, um eine gleichberechtigte Betreuung zu fördern, damit mit den Jugendlichen und ihren Familien oder verantwortlichen Bezugsperson die Fragen des Übergangs ins Erwachsenwerden angegangen werden können (Wahl einer Lebenspartner:in, Ausbildung, Autonomie innerhalb der Familie usw.). Im Ursprungsland aber auch auf dem Migrationsweg oder im Gastland erlebten diese Jugendlichen Gewalt und Schrecken. Es bedarf guter klinischer Kenntnisse der psychischen Traumata, um Symptome akuter oder chronischer psychischer Leiden (PTBS, ängstlich-depressive Störungen, usw.) zu erkennen und die Patient:innen frühzeitig an entsprechende Strukturen überweisen zu können.

Bei zwischenmenschlichem oder strukturellem Missbrauch in der Vergangenheit, bei finanzieller Unsicherheit oder bei psychischen Störungen eines Familienmitglieds, kann das Schamgefühl die Qualität des Gesprächs beeinflussen. Es ist dann wichtig, eine vorurteilslose und beschützende Haltung einzunehmen. Es ist für diese Jugendlichen, die mehrfach durch administrative Dienste befragt wurden wesentlich, sich in Gegenwart des Therapeuten in Sicherheit zu fühlen10). Das Schweigen zum Migrationsweg kann durch Misstrauen gegenüber der Ärzt:in bedingt sein, da sie mit den Behörden Kontakt haben könnte. Um mit der Patient:in ein Vertrauensverhältnis herstellen zu können, muss die Ärzt:in klar erwähnen, dass sie unter Schweigepflicht steht.

Der Jugendliche kann sich weigern sich über seinen Migrationsweg zu äussern, aus Furcht durch das Verbalisieren ein Trauma wieder zu erwecken. In dieser Situation sollte der:die Kinderärzt:in vermeiden, aktiv die traumatischen Geschehnisse zu erforschen, wenn der:die Patienti:n den Wunsch dazu nicht äussert oder die Gelegenheit hat, ihre Traumata mit einer entsprechend ausgebildeten Kinder- und Jugendpsychiater:in zu erarbeiten.

Trotz der oft frühzeitigen Autonomie der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, müssen die Eltern unbedingt zu einem Teil der Konsultation eingeladen werden, um auch ihre Sorgen zu berücksichtigen und bei möglichen Uneinigkeiten den Vermittler spielen zu können. Die Frage der Schweigepflicht muss mit dem Patienten allein besprochen und den Eltern erklärt werden. Die Gegenwart einer Übersetzer:in oder kulturellen Vermittler:in ist oft wesentlich für einen guten Ablauf der Konsultation. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund hat die Begleitung durch eine erwachsene Vertrauensperson einen entscheidenden Einfluss auf seine Gesundheit und seine soziale und berufliche Integration. Der:die Kinderärzt:in muss diese Bezugsperson identifizieren können (manchmal wird der:die Kinderärzt:in selbst diese Rolle übernehmen), die die Jugendliche während diesen entscheidenden Jahren begleiten wird.

Abbildung 2. HEADS, an Jugendliche mit Migrationshintergrund angepasst.

Allgemeine Gesundheit und soziale Situation

Die bio-psycho-soziale Abklärung der Jugendlichen erfolgt mit Hilfe von HEADS («Home, Education, Activities, Drugs, Sexuality, Suicide/Depression»), wobei die Fragen an den Migrationskontext angepasst werden können (Abb. 2). Schutzfaktoren wie individuelle Ressourcen und geistige Gesundheit, eine unterstützende Familie und gute Schulresultate müssen identifiziert und der Jugendlichen gegenüber ausgesprochen werden, um ihr Selbstbild und ihre Resilienz zu stärken. Um eine Synthese dieser Evaluation machen zu können, kann sie in drei unabhängige Teile strukturiert werden, die allgemeine Gesundheit, den sozialen Kontext und die Ausbildung umfassend (Abb. 3).

Abbildung 3. Allgemeine Gesundheit, Haushalt und Ausbildung, drei Schutzfaktoren die abgeklärt werden sollen.

Die betreuende Fachperson muss die stabile bzw. ungewisse administrative Situation kennen, um die Faktoren zu verstehen, die die ärztliche oder soziale Betreuung in Frage stellen können. Ist die mittelfristige Niederlassung einer Familie ungewiss, sollte der:die Ärzt:in davon ausgehen, dass die Patient:in auf unbestimmte Zeit in der Schweiz leben wird und die medizinische Betreuung so planen, dass sie eine gleichwertige Qualität bietet wie für jede beliebige in der Schweiz wohnende Patient:in.

Es ist wichtig, die finanziellen Mittel oder die Wohnbedingungen anzusprechen, um zu vermeiden, dass die Jugendliche oder die Familie durch Empfehlungen, die ohne eine entsprechende soziale Unterstützung nicht befolgt werden können, in die Situation eines vorprogrammierten Misserfolges gebracht werden (Tab. 2).

Tabelle 2. Abklärungsbeispiele für pädiatrische Betreuung.

Sexuelle Gesundheit

Die psychosexuelle Entwicklung wird durch viele Faktoren beeinflusst wie der kulturelle Hintergrund, die Religion und/oder das soziale Umfeld. Gegenüber Jugendlichen mit Migrationshintergrund das Thema Sexualität anzusprechen, verlangt eine gewisse Erfahrung, um ihre Vorstellungen und Erfahrungen berücksichtigen, Informationen zur Prävention anzupassen und Fragen beantworten zu können.

Je nach Ursprungsland ist es immer noch schwierig, offen über diese Themen zu sprechen, da diese Tabu sind11). Diese Jugendlichen hatten oft keinen Sexualunterricht, haben kaum Kenntnisse der menschlichen Physiologie und kennen die Anlaufstellen für Fragen der Prävention nicht12). Sie sind deshalb einem grösseren Risiko negativer Erfahrungen, wie eine unerwünschte Schwangerschaft oder eine sexuell übertragene Krankheit, ausgesetzt.

Die Körperfunktionen und die Pubertät betreffende Fragen müssen während der Konsultation angesprochen werden. Obwohl es möglicherweise einfacher ist, diese Themen mit jungen Frauen zu erörtern, insbesondere bei Fragen im Zusammenhang mit der Menstruation, müssen sie auch mit jungen Männern angegangen werden, denn ihre Kenntnisse sind oft mangelhaft und Fragen sehr häufig. Die Verhütung einer Schwangerschaft oder von sexuell übertragbaren Krankheiten, die Früherkennung und die Betreuung der Krankheiten müssen diskutiert werden, aber auch Fragen im Zusammenhang mit persönlichen Erfahrungen, der sexuellen Orientierung und der Beziehung zu anderen Menschen.

Gewisse kulturelle Normen können den Zugang zu ärztlicher Betreuung behindern, insbesondere bei sehr patriarchalischen Familienmodellen und einer geschlechtsgebundenen Rollenverteilung, sowie bei vor allem auf Verboten gründenden Haltung.

Es ist deshalb wichtig, die Vorstellungen über Sexualität in der Familie und von der Partner:in zu erfahren: Muss die Jugendliche Verhüttungsmittel oder den Termin bei der Ärzt:in vor der Familie verheimlichen? Wurde die Frage des Präservativs mit dem Paar besprochen? Wie stehen sie zu einer Schwangerschaft und einer möglichen Unterbrechung? In diesen Situationen wird die betreuende Fachperson zur entscheidenden Informationsquelle und Unterstützung für die Jugendliche. Eine spezialisierte Betreuung kann notwendig werden, insbesondere zur Beratung zu sexuellen Belangen und Reproduktion.                       

Ein Teil der in der Schweiz aufgenommenen Frauen mit Migrationshintergrund stammt aus Gegenden, in welchen die Beschneidung üblich ist. Die WHO definiert die Beschneidung als «Alle Eingriffe, die zur teilweisen oder gänzlichen Entfernung der äusseren weiblichen Geschlechtsteile führen, oder andere Verletzungen der weiblichen Genitalorgane, die nicht aus therapeutischen Gründen durchgeführt werden»13). Dieses Vorgehen ist noch in 30 Ländern Afrikas üblich (insbesondere in Eritrea und Somalia, den stark in der Schweiz vertretenen Populationen mit Migrationshintergrund), sowie in einigen Ländern Asiens und des Mittleren Ostens. Diese Praktiken sind in der Schweiz gesetzlich verboten. Komplikationen sind in medizinischer wie psychologischer Hinsicht häufig und schwerwiegend, und der:die Kinderärzt:in muss dieses Thema ansprechen können, um diesen Patienten:innen zu einer adäquaten Betreuung zu verhelfen, zum Beispiel durch Überweisung an eine pädiatrische Gynäkolog:in.

Während den verschiedenen Etappen ihres Migrationsweges sind junge Menschen, und vor allem allein reisende, verschiedensten Formen der Gewalt und der Ausnutzung ausgesetzt2). Diese negativen Erfahrungen beeinflussen ihre allgemeine Gesundheit, was eine spezialisierte Betreuung notwendig macht. Eine Abklärung bezüglich STI soll allen Jugendlichen angeboten werden, die möglichweise ungeschützten Sexualkontakte hatten.

Herausforderung bezüglich Ausbildung

Schule und Ausbildungsaussichten spielen bei Vorbeugung und Förderung der Gesundheit eine zentrale Rolle14). Sie gehören für Jugendliche mit Migrationshintergrund zu den wichtigsten Schutzfaktoren, die es ihnen erlauben, sich im neuen Land zu integrieren und Zukunftspläne zu machen. Es extistieren zahlreiche Projekte zur Erleichterung der Integration von Schüler:innen ausländischer Herkunft. Leider werden die Eltern nicht immer eingeladen, an der schulischen Begleitung ihrer Kinder teilzunehmen und deren Bedeutung und Herausforderung zu verstehen. In gewissen Situationen muss der:die Kinderärzt:in den regelmässigen Kontakt mit der Schule aufrechterhalten, um die Fortschritte der Jugendlichen und die Zukunftsprojekte zu beurteilen und bei Lernstörungen eventuell notwendige Abklärungen vornehmen zu können.

Die verfügbare Literatur belegt, dass je früher der Eintritt in die Schule stattfindet, desto geringer ist das Risiko eines Schulversagens. Eine Studie zeigt, dass 7 Jahre nach Beendigung der obligatorischen Schule 60% der jugendlichen Migrant:innen, die nach dem Alter von 10 Jahren in die Schweiz kamen, sich ausserhalb der Ausbildungsstrukturen befanden und ohne Diplom.

Die Rechtsunsicherheit in welcher sich Jugendliche mit Migrationshintergrund befinden, kann direkte Auswirkungen auf die Berufsausbildung haben (kein Zugang zu Berufsschulen, Unterbrechung einer Ausbildung, weil die Aufenthaltsbewilligung nicht erneuert wird, usw.). Es kommt damit zu Spannungen zwischen dem Recht auf Ausbildung eines jeden Minderjährigen und den durch das Ausländergesetz auferlegten Einschränkungen.

Trotz diesen Hindernissen kann der Einsatz der Fachpersonen, die diese jungen Menschen betreuen, entscheidend sein und eine Weiterführung der Ausbildung ermöglichen15).

Armut und Verhütung von Schulden

Studien zeigen eine starke Korrelation zwischen gesunder finanzieller Situation und guter Gesundheit16). Gesundheitsprobleme können zu Verschuldung führen, und die Verschuldung ihrerseits hat Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit.

In der Schweiz verschulden sich 80% vor dem 25. LJ17). Die Adoleszenz ist deshalb ein Lebensabschnitt, bei der diese Population besonders gefährdet ist, mit der Verantwortung die auf sie zukommt. Es ist deshalb nicht selten, dass junge Volljährige aus finanziellen Gründen auf Gesundheitsleistungen verzichten, z.B. wenn der Selbstbehalt der Krankenversicherung zu hoch ist. Da Migration ein Risikofaktor für Armut darstellt18), sollte der:die Kinderärzt:in bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund dies berücksichtigen, um sie an die entsprechende Sozialhilfe zu weisen.

Die Volljährigkeit antizipieren

Die Frage der Transition ist wesentlich für alle Jugendlichen und insbesondere für Jugendliche mit Migrationshintergrund.

Eine klar identifizierte soziale Begleitung sollte parallel zur Suche eines Erwachsenenarztes in die Wege geleitet werden, damit die Jugendliche über eine Vertrauensperson verfügt, an die sie sich bei gesundheitlichen, finanziellen, sozialen oder Ausbildungsproblemen wenden kann.

Fazit

Sprechstunden mit jugendlichen Migranten sind spannend, ihr Lebensweg oft beeindruckend. Sie brauchen eine angepasste Betreuung durch Fachpersonen mit transkulturellen und sozialen Kompetenzen. Da sie oft traumatischen Ereignissen ausgesetzt waren, sollte durch den Grundversorger eine physische und psychische Untersuchung stattfinden.

Der:die Kinderärzt:in muss das interdisziplinäre Netzwerk kennen, dessen Fachpersonen die Jugendlichen je nach sozialen Bedürfnissen, psychologischer Situation oder Schullaufbahn betreuen können.

Die Rolle der Kinderärzti:n kann während diesem verwundbaren, aber auch Chancen für Veränderungen und Fähigkeiten zur Resilienz reichen Lebensabschnitt entscheidend sein.

Referenzen

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Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr med.  Sarah Depallens médecin associé en pédiatrie, CAN Team, DISA, DFME, CHUV, Lausanne

Dr med.  Caroline Heiniger cheffe de clinique en pédiatrie, DFME, CHUV Lausanne

Madame  Karine Tzaud assistante sociale, DISA, DFME, CHUV, Lausanne