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Kindsmisshandlung – Kinderschutz

Die zentrale Rolle und Aufgabe von Kinderärztinnen und Kinderärzten

Kinder, die physische, psychische oder sexuelle Gewalt erfahren oder aufgrund ungünstiger Erziehungsmethoden gefährdet sind, können verschiedenen Berufsgruppen in einem frühen Stadium auffallen. Insbesondere im Frühbereich (bis zum dritten Geburtstag) sind Kinderärztinnen und Kinderärzte sowie Hausärztinnen und Hausärzte zusammen mit der Mütter- und Väterberatung oft die einzigen Fachleute, die Kinder regelmässig sehen. Ihnen kommt deshalb eine besondere Verantwortung zu, eine Gefährdungssituation zu erfassen. Aber auch bei älteren Kindern haben Berufsleute eine Schlüsselfunktion für die weitere Entwicklung von Kindern, denn ihre Reaktion auf die vermutete oder sichere Kindeswohlgefährdung entscheidet in vielen Fällen, ob dem Kind der notwendige Schutz und den Eltern die nötige Hilfe zur Abwendung der Gefährdung zukommt, die ihm bzw. ihnen zusteht.

Der 2020 vollständig überarbeitete Leitfaden richtet sich an Ärztinnen und Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen sowie an Medizinische Praxisassistentinnen und Praxisassistenten. Er zeigt die Formen von Kindsmisshandlungen auf und stellt ein praktisches Hilfsmittel dar, das es ermöglicht, Kindsmisshandlungen besser zu erkennen und die nötigen Massnahmen zum Schutz des Kindes in die Wege zu leiten. Dabei unterstützt er die Ärztinnen und Ärzte nicht nur darin, Fälle von tatsächlich erfolgter Kindsmisshandlung zu erfassen, sondern auch Verdachts- und Risikosituationen einzuschätzen und adäquat zu handeln.

Einleitung

Kindsmisshandlung ist häufig. Das ist auch ohne Statistiken klar, die einerseits aus Gründen von Dunkelziffer, Falldefinition usw. fehlen oder ungenau sind und anderseits, weil Kindsmisshandlung von Institutionen und Personen aus verschiedenen Fachgebieten (Medizin, Sozialarbeit, Pädagogik, aber auch Behörden) festgestellt wird, deren Erfassungen nicht kompatibel sind.

Wir Kinderärztinnen und Kinderärzte sehen diese Kinder täglich in der Praxis, in der Sprechstunde und im Spital, zusammen mit ihren nicht misshandelten Altersgenossen. In den allermeisten Fällen werden diese Kinder wegen Beschwerden, Krankheiten und Unfällen gebracht, zur Vorsorgeuntersuchung und zum Impfen. Nur äusserst selten präsentieren uns die Eltern einen Misshandlungsverdacht.

Kindsmisshandlung beeinflusst Gesundheit und Lebensqualität des betroffenen Individuums – akut und für das ganze zukünftige Erwachsenenleben. Es ist deshalb wichtig, sie früh zu erkennen – oder noch besser, zu handeln, bevor sie stattgefunden hat. Dadurch kann die Prognose wesentlich verbessert werden – wenn ein zielführendes Vorgehen gewählt wird.

Definition von Kindsmisshandlung

Die in der Schweiz üblichste Definition von Kindsmisshandlung ist die folgende:

Kindsmisshandlung ist die nicht zufällige, bewusste oder unbewusste körperliche und / oder seelische Schädigung (durch aktives Handeln oder durch Unterlassung) durch Personen (Eltern, andere Erziehungsberechtigte, Dritte), Institutionen und gesellschaftliche Strukturen, die zu Entwicklungshemmungen, Verletzungen oder zum Tode führt, eingeschlossen die Vernachlässigung kindlicher Bedürfnisse.

In der Medizin hat sich die Einteilung von Kindsmisshandlung in fünf Formen etabliert.

Tabelle 1. Formen von Kindsmisshandlung

Zahlen

Am besten und längsten erforscht ist die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch. Auch in der Schweiz liegt hierzu mit der Befragung von Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Optimus-Studie ein umfangreicher, landesweiter Datensatz von 6’749 Jugendlichen in neunten Klassen vor: 15% gaben an, mindestens einmal in ihrem Leben irgendeine Art eines sexuellen Übergriffs mit Körperkontakt erfahren zu haben. Gar 29% der Befragten berichteten von sexueller Gewalt ohne Körperkontakt.  Auffällig ist der hohe Anteil an sexueller Gewalt unter Jugendlichen: In 11% der Übergriffe mit Körperkontakt war mindestens ein Täter (oder vereinzelt auch eine Täterin) unter 18 Jahre alt.  Mädchen sind weitaus häufiger betroffen als Knaben; eine grosse Mehrheit der sexuellen Gewalttaten wird von Männern ausgeübt. Einige Gruppen sind ganz besonders stark von sexueller Gewalt betroffen: So berichteten in einer deutschen Studie 79,4% der befragten Mädchen in Heimen und Internaten von sexuellen Gewalterfahrungen und 46,7% der befragten Mädchen von sexuellem Missbrauch mit Penetration. Viel Gewalt wurde durch Gleichaltrige ausgeübt. Einige haben tragischerweise sexuelle Gewalt auch erstmalig in der stationären Einrichtung erfahren.

Für die weiteren Formen von Kindsmisshandlung (Vernachlässigung, körperliche und psychische Misshandlung, Münchhausen Stellvertreter-Syndrom) fehlen ähnlich flächendeckende Angaben zu ihrer Häufigkeit in der Schweizer Bevölkerung.

Hingegen führt die Fachgruppe Kinderschutz von pädiatrie schweiz seit 2010 eine Statistik über die in Schweizer Kinderkliniken erfassten Fälle von Kindsmisshandlung. 21 Kinderkliniken haben 2020 1’590 Fälle von Kindsmisshandlung festgestellt, das sind 1,5% mehr als im Vorjahr. Am häufigsten wurden Fälle von körperlicher Misshandlung (37%) und von Vernachlässigung (27%) erfasst. Häufigkeiten für die bekannt gewordenen weiteren Misshandlungsformen sind in Abbildung 1 festgehalten. Bei der psychischen Misshandlung besteht der grösste Anteil aus Kindern, die Zeugen von Gewalt zwischen den Eltern wurden.  

Abbildung 1. Zahl bekannt gewordener Fälle von Kindsmisshandlung an 21 Schweizer Kinderkliniken, 2020

Die Rolle von Ärztinnen und Ärzten

Es ist ein Fehler zu glauben, dass bei der Prävention, Früherkennung und Aufdeckung von Kindsmisshandlung nur Kinderärztinnen und Kinderärzte in der Pflicht sind. Natürlich haben sie mit ihrem direkten Kontakt zu den Kindern und deren Umfeld die grösste Verantwortung, aber auch Ärztinnen und Ärzte anderer Fachrichtungen können wichtige Hinweise liefern.

Ärztinnen und Ärzte, die regelmässig Kinder betreuen

Sie sind die einzigen Fachpersonen, die Säuglinge und Kleinkinder mehr oder weniger regelmässig sehen, bevor sie in einen institutionellen Kontext eingebunden sind, also vor dem Krippen- oder gar noch später, dem Kindergarteneintritt. Fast alle Eltern bringen ihre Kinder zu den Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen, während die Mütter- und Väter-Beratung zwar regional auch sehr gut, aber doch insgesamt weniger oft konsultiert wird. Zudem sehen Ärztinnen und Ärzte Kind und Eltern in einem vertraulichen Setting, hinter verschlossenen Türen, länger als die Mütterberaterin, und haben jederzeit die Möglichkeit, das Kind ganz entkleidet zu untersuchen. Sie haben somit nicht nur eine grosse Verantwortung, besonders gegenüber der Patientengruppe der Säuglinge und Kleinkinder, sie haben auch ein enormes Potenzial, familiäre Fehlentwicklungen, die schlimmstenfalls zu einer Misshandlung führen könnten, früh zu erfassen.

Inzwischen sind die 5 Formen von Kindsmisshandlung allen medizinischen Fachpersonen bekannt oder können auf einfachste Weise nachgelesen werden. Es gilt allerdings, allfällige eigene blinde Flecken und Widerstände zu überwinden und zu beherzigen – was allgemein bekannt ist –, dass auch «nette Leute» ihre Kinder misshandeln. Den erkannten Anzeichen von Kindsmisshandlung nicht nachzugehen, ist ein medizinischer Fehler, wie das Verpassen einer Meningitis oder einer Fraktur. Kindsmisshandlung ist häufig (viel häufiger als eine bakterielle Meningitis) und hat bei rechtzeitigem und adäquatem Handeln eine gute Chance, erkannt zu werden und – was das Wichtigste ist – Wiederholungen beim vorgestellten Kind oder bei Geschwistern zu verhindern. Dabei hilft die Langzeitbetreuung in der Praxis enorm:  Vielleicht hat man schon früher einmal Hinweise auf Bindungsstörungen und familiäre Fehlentwicklungen beobachtet oder einfach «ein mulmiges Gefühl» gehabt.

Ärztinnen und Ärzte, die keine Kinder betreuen

Je nach Altersstruktur und Lage einer Erwachsenen-Praxis hat ein unterschiedlich grosser Prozentsatz der Patientinnen und Patienten minderjährige Kinder. Es ist zu bedenken, dass viele Diagnosen erwachsener Patientinnen und Patienten für deren minderjährige Kinder von eminenter Bedeutung sind, eventuell sogar Risikofaktoren für Kindsmisshandlung darstellen. Letzteres gilt für psychische Erkrankungen und (Ausnahme-)Zustände, für Suchterkrankungen, aber auch für schwere chronische körperliche Krankheiten sowie Paarkonflikte. Ein besonders häufiger und wichtiger Risikofaktor, ja sogar eine Kindsmisshandlung per se (nämlich eine psychische Kindsmisshandlung) stellt häusliche Gewalt dar, von der Erwachsenenärztinnen und -ärzte oft hören. In solchen Situationen ist es wichtig zu erfahren, ob eine Fachperson (Kinderärztin oder Kinderarzt, eventuell schon involvierte Behörden, Schulsozialarbeit usw.) das Kindeswohl im Auge hat. Als primäre Bezugs- und Supportperson des Erwachsenen muss der Erwachsenearzt oder die Erwachsenenärztin dessen Interessen vertreten; es ist aber immer zu bedenken, dass Kinder ihre eigenen Bedürfnisse und Rechte haben und niemals als «stabilisierender Faktor» oder gar als Therapieelement eines kranken Elternteils «eingesetzt» werden  dürfen (was sehr oft geschieht). Eltern mit den oben erwähnten Krankheiten und / oder in konfliktbeladenen Beziehungen sind in aller Regel nicht in der Lage, das Kindeswohl abzusichern! Sie sind dankbar für diesbezügliche Fragen und / oder Intervention, denn sie möchten in der Regel für ihre Kinder das Beste.

Medizinische Praxisassistentinnen und Praxisassistenten (MPA)

Oft machen die MPAs Beobachtungen und Feststellungen, die Ärztinnen und Ärzte nie zu sehen oder zu hören bekommen: Sie sehen das Verhalten der Eltern und Patientinnen und Patienten im Wartezimmer oder in Stresssituationen wie bei Blutentnahmen und Impfungen. Sie bekommen Telefonate mit, die Eltern oder jugendliche Patienten im Wartezimmer führen, beobachten den Umgang der Eltern mit den Kindern oder anderen Begleitpersonen usw. Nicht selten sprechen die Eltern die MPAs auch direkt an, mit Fragen, die sie Ärztinnen und Ärzten nicht zu stellen wagen, etwa nach dem «Normverhalten» von Kindern, Entlastungsmöglichkeiten, Babysitterinnen und Babysittern usw. Solche Beobachtungen können von unschätzbarem Wert für die Erfassung von Risikosituationen sein und die Feststellungen von uns Ärztinnen und Ärzten ergänzen bzw. deren Eindrücke bestätigen oder relativieren. Es ist deshalb wichtig, dass MPAs die Möglichkeit bekommen, existierende Weiterbildungsveranstaltungen zum Thema Kindsmisshandlung/Kindeswohlgefährdung zu besuchen und ermuntert werden, entsprechende Beobachtungen zu kommunizieren.

Zeichen und Hinweise

Die klaren Symptome und Befunde, die auf eine Kindsmisshandlung hindeuten oder sie beweisen, sind bekannt und werden hier nicht wiederholt. Schwieriger wird es, wenn solche Befunde nicht fassbar sind. Dann müssen oft indirekte Hinweise zugezogen werden. Das sind insbesondere Verhaltensauffälligkeiten von Kindern.

Verhaltensauffälligkeiten als Hinweis auf eine Kindsmisshandlung

Ein Kind, das Misshandlungen erlebt, versucht, irgendwie damit klar zu kommen; das ist ein angeborenes Überlebenskonzept. Dasselbe gilt für andere negative Kindheitserlebnisse, wie Kriegs- und Katastrophenerfahrungen, die hier aber nicht Thema sind.

Entsprechend den ganz unterschiedlichen Schutzfaktoren (Resilienz), die Kinder haben, sehen die Verhaltensänderungen – auch bei vergleichbarer Traumatisierung – ganz verschieden aus; zudem hängen sie vom Alter des Kindes und von der Stellung und Beziehung des Täters zum Kind ab. Verhaltensauffälligkeiten als Hinweis auf Kindsmisshandlung sind praktisch nie spezifisch für die Art der Traumatisierung: So können im Rahmen einer Kampfscheidung, die für das Kind eine psychische Traumatisierung darstellt, dieselben Symptome auftreten wie nach chronisch sexuellem Missbrauch, nach lange dauerndem Mobbing in der Schule oder nach Verlust eines Elternteils durch Tod. Man hüte sich also davor, einzelne Symptome zu deuten, ohne die Lebensgeschichte und den Gesamtkontext, in dem das Kind lebt, genau zu kennen; Symptomlisten sind mit äusserster Vorsicht anzuwenden und zu interpretieren. Mögliche psychosomatische und psychische Symptome sind in Tabelle 2 aufgelistet

Tabelle 2. Mögliche psychosomatische und psychische Symptome als Hinweise auf Kindsmisshandlung

Risikofaktoren

Kindsmisshandlung ist immer multifaktoriell verursacht und nie Resultat eines einzigen Belastungs- oder Risikofaktors. Die Summation mehrerer Risikofaktoren führt zur Überforderung mit erniedrigter Stresstoleranz, mit Kontrollverlust und mit der Unfähigkeit, die kindlichen Bedürfnisse zu erfassen und / oder zu befriedigen. Dies gilt für alle Misshandlungsformen ausser dem sexuellen Missbrauch, bei dem ein ganz anderes Tatpersonenprofil und eine vollkommen andere Dynamik vorliegen.

Weil langzeitbetreuende Ärztinnen und Ärzte ihre PatientInnen und deren Umfeld kennen (im Gegensatz zu Notfallstationen oder Permanencen), kennen sie die Faktoren, die ein Risiko für Kindsmisshandlung darstellen. Die häufigsten Risikofaktoren finden sich in Tabelle 3

Tabelle 3. Risikofaktoren für Kindsmisshandlung

Das Erkennen von Risikofaktoren erlaubt es, frühzeitig und meist auch noch niederschwellig Hilfestellungen zu leisten und / oder Massnahmen einzuleiten, die – im besten Fall – eine Kindsmisshandlung abwenden.

Dokumentation

Der Dokumentation von Befunden, Hinweisen, Beobachtungen und Aussagen kommt grösste Bedeutung zu. Auch die Notiz, ein «ungutes Gefühl» verspürt zu haben, kann retrospektiv wichtig sein und den Beginn einer Fehlentwicklung zeitlich einordnen lassen. Es erstaunt immer wieder, dass selbst in Fällen von schwerster, langdauernder Kindsmisshandlung die Erkundigungen beim regelmässig konsultierten Arzt nichts ergeben, zum Teil wohl eben, weil nichts dokumentiert wurde.

Dokumentation im Akutfall

Insbesondere beim sexuellen Missbrauch, aber auch bei anderen Formen von Kindsmisshandlung, kommt der Aussage des Kindes zentrale Bedeutung zu. Spontane Äusserungen in diesem Zusammenhang sollen deshalb unverzüglich wortgetreu in der Patientendokumentation festgehalten werden, in der Sprache des Kindes (also z.B. in Mundart) und unter Angabe, in welchem Kontext die Aussage gemacht wurde (z.B. bei der Untersuchung des Abdomens oder des Genitales) und in wessen Gegenwart (Mutter, Vater, Drittperson). Auch erfragte Äusserungen können bedeutungsvoll sein, dann muss aber – neben den oben erwähnten Umständen – angegeben werden, wie die Frage lautete und wer sie stellte. Ton- und / oder Bildaufnahmen von aussagenden Kindern haben keinen juristisch verwertbaren Stellenwert.

Der Dokumentation von sichtbaren Befunden kommt nur eine Bedeutung zu, wenn sie präzis und aussagekräftig ist. Dann allerdings ist sie von unschätzbarem Wert, da gerade Schleimhaut- und Hautbefunde in kurzer Zeit heilen oder sich stark verändern. Es ist sehr sinnvoll, in solchen Situationen Rücksprache mit einer Kinderschutzgruppe zu nehmen, um abzusprechen, wer eine adäquate Dokumentation vornehmen soll.

Dokumentation im Langzeitverlauf

In der Langzeitbetreuung eines betroffenen Kindes und dessen Familie kommt es immer wieder vor, dass sich die Kinderärztin oder der Kinderarzt über Aussagen und Befunde wundert, sozusagen innerlich die Stirne runzelt. Im Moment ist meist zu wenig Grund vorhanden, den Verdacht auszusprechen, oft kommt das ungute Gefühl auch erst, wenn die Familie schon wieder weg ist. Die meisten dieser Notizen wird man nie mehr suchen und lesen, da die Verdachtssituation einmalig bleibt. Wenn sie sich aber wiederholt, werden die alten Notizen zu einer unschätzbaren Hilfe, und nur dank ihnen gelingt es, ein meist komplexes Geschehen zu objektivieren und einzuordnen. Dies gilt insbesondere, wenn Eltern den Kontakt abbrechen.

Ziel und Grundprinzip des Kindesschutzes

Ziel aller Bemühungen ist es, eine Gefährdung oder Verletzung des Kindeswohls abzuwenden oder zu beenden. Zu diesem Ziel führen viele Wege, die individuell evaluiert werden müssen. Nie sind Standardlösungen hilfreich bzw. zielführend. Nach dem im Kinderschutz geltenden Grundprinzip «Nie allein» sollte immer mit erfahrenen Fachpersonen (z.B. mit der Kinderschutzgruppe einer Kinderklinik) nach der im vorliegenden Fall besten Lösung gesucht werden. Bei akuter Gefährdung ist der unmittelbare Schutz des Kindes die dringlichste Massnahme.

Umgang mit dem Verdacht in der Praxis

Wenn der Verdacht einmal aufgekommen ist, muss schon einiges passiert sein, denn wir alle haben die Tendenz, die Wahrnehmung von Kindsmisshandlung erst einmal zu verdrängen oder zu verharmlosen. Zudem werden uns Kinder mit Symptomen oder Hinweisen auf Kindsmisshandlung möglich vorenthalten. Der Verdacht muss also ernst genommen und zugelassen werden, und es muss gehandelt werden.

Handeln heisst:

  • Frühere oder aktuelle Dokumentationen zusammentragen, die Gesamtsituation zurechtlegen und für sich einordnen.
  • Kontakt zu einer Fach- / Beratungsstelle aufnehmen, die mit dem Vorgehen in Fällen von Kindsmisshandlung Erfahrung hat. Solche Organisationen gibt es schweizweit. Mit dieser Fach- / Beratungsstelle zusammen wird das weitere Vorgehen festgelegt, insbesondere was die folgenden Fragen betrifft: 
    • Ist ein akuter Schutz des Kindes notwendig (z.B. durch Hospitalisation)?
    • Soll ein Verdacht gegenüber den Eltern geäussert werden oder nicht?
    • Müssen/sollen die Behörden involviert werden:
      • Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB)
      • Strafverfolgungsbehörde
      • Cave: Wenn eine Strafanzeige auch nur im Entferntesten in Betracht gezogen wird, dürfen potenzielle Täterinnen und Täter nicht darüber informiert werden, auch nicht Personen, bei denen keine Gewähr besteht, dass sie gegenüber den Tatverdächtigen verschwiegen sind! Tatverdächtige können sich sonst absprechen und die Strafuntersuchung läuft so dann oft ins Leere.

Berufsgeheimnis

Eltern und PatientInnen vertrauen uns höchst persönliche und intime Informationen an, weil sie wissen, dass wir unter Schweigepflicht stehen. Das Berufsgeheimnis hat deshalb zentrale Bedeutung in der Arzt-Patienten-Beziehung und ist ein sehr hohes Gut, dessen Verletzung unter Strafe steht. Bekanntlich gibt es Ausnahmen von der Schweigepflicht, ja gesetzlich festgelegte Verpflichtungen, diese einem höheren Rechtsgut zu opfern und das Schweigen zu brechen.  Eine Zusammenarbeit mit der KESB oder der Strafverfolgungsbehörde ist aber immer erlaubt, wenn der Verdacht auf eine strafbare Handlung an einem Kind vorliegt. Detaillierte Ausführungen zu dieser Problematik würden den Rahmen dieses Artikels sprengen. Es ist unerlässlich, dass sich Ärztinnen und Ärzte im Zweifelsfall über die Rechtslage informieren. Dafür gibt es viel Literatur und kantonale Homepages. Gegenüber dem Kantonsarzt (Achtung: Kantonsarzt/Kantonsarztamt ≠ Gesundheitsdirektion) besteht nie eine Schweigepflicht, dort kann man sich also immer erkundigen und ev. die Entbindung von der Schweigepflicht erwirken, falls diese nicht anders beizubringen ist (nämlich durch den Patienten resp. seine Rechtsvertreter).

Zusammenfassung

  • Kindsmisshandlung ist häufig.
  • Alle Bevölkerungsschichten und -gruppen sind betroffen.
  • Ärztinnen und Ärzte, die Kinder betreuen, tragen die grösste Verantwortung, stattgefundene oder drohende Kindsmisshandlung zu erkennen.
  • Auch andere Ärztegruppen können wichtige Hinweise beitragen, insbesondere, wenn es um häusliche Gewalt geht.
  • Dazu müssen fundierte Kenntnisse über Symptome, Hinweise und Risikofaktoren vorhanden sein, die in der Weiterbildung vermittelt werden sollen.
  • Kindsmisshandlung ist ein äusserst komplexes Phänomen, das nie im Alleingang adäquat angegangen werden kann. Zur Beratung stehen schweizweit Fachgruppen zur Verfügung.
  • Die Lebensqualität eines misshandelten Kindes kann durch rasches, kompetentes und multidisziplinäres Vorgehen entscheidend verbessert werden, auch langfristig.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
KD Dr. med.  Ulrich Lips ehemaliger Leiter Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle, Universitäts-Kinderspital Zürich

Dr. med.  Markus Wopmann Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Baden