Das Bundesamt für Statistik hat kürzlich zwei Arbeiten veröffentlicht zum Thema Hospitalisation in der Neonatalperiode. Gemäss diesen Publikationen kamen im Jahre 2004 in der Schweiz 29.2% aller in Spitälern lebendgeborener Kinder via Kaiserschnitt zur Welt. Dies entspricht im europäischen Vergleich einer hohen Sectiorate und ist identisch mit jener der USA. Gesamtschweizerische Daten betreffend Häufigkeit von Sectioentbindungen liegen erst seit wenigen Jahren vor. Schätzungen zufolge dürfte diese Rate im Jahre 1974 bei 5–8% gelegen haben.
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Vol. 18 No. 5 2007 F o r t b i l d u n g / F o r m a t i o n c o n t i n u e
Das Bundesamt für Statistik hat kürzlich
zwei Arbeiten veröffentlicht zum Thema
Hospitalisation in der Neonatalperiode 1), 2) .
Gemäss diesen Publikationen kamen im
Jahre 2004 in der Schweiz 29.2% aller
in Spitälern lebendgeborener Kinder via
Kaiserschnitt zur Welt. Dies entspricht im
europäischen Vergleich einer hohen Sec –
tiorate und ist identisch mit jener der USA 3).
Gesamtschweizerische Daten betreffend
Häufigkeit von Sectioentbindungen liegen
erst seit wenigen Jahren vor. Schätzungen
zufolge dürfte diese Rate im Jahre 1974 bei
5–8% gelegen haben.
Im selben Kalenderjahr (2004) wurde in der
Schweiz im Rahmen der Schweizerischen
Gesellschaft für Neonatologie eine natio –
nale Studie zur Evaluation der Atemnotsyn –
dromhäufigkeit bei Neugeborenen durch –
geführt. An dieser Studie waren alle 11
tertiären neonatalen Intensivstationen und
praktisch alle primären und sekundären pä –
diatrischen Kliniken der Schweiz beteiligt 4).
Gemäss dieser kürzlich publizierten Studie
wurden im Jahr 2004 in der ganzen Schweiz
2751 Neugeborene mit einem Atemnotsyn –
drom (ANS) hospitalisiert. Dies entspricht
52.7% aller hospitalisierten Neugeborenen
und 3.8% aller lebendgeborenen Kinder.
Letztere Rate lag 1974 noch bei 1.9% und ist
seither kontinuierlich angestiegen. Leider
standen für diese Studie lediglich Angaben
über das Geburtsgewicht zur Verfügung, da
das Gestationsalter erst seit Januar 2007
obligatorisch auf den Geburtsmeldekarten
verlangt wird. Wenngleich die Studie nicht
angelegt war, um die Gründe für diese
überraschende und signifikante Zunahme
des neonatalen ANS zu erforschen, lässt
sie doch einige interessante Überlegungen
zu:
1) Der Anteil an sehr kleinen Frühgebo
–
renen mit einem Geburtsgewicht von
< 1000 g stieg von 0.9% auf 4% aller hos -
pitalisierten Neugeborenen und kann
demnach nur für einen kleinen Anteil
der Zunahme der ANS-Häufigkeit ver -
antwortlich sein. 2)
Die klinische Definition des ANS ist
seit über 30 Jahren unverändert, und
auch die Hospitalisationsindikationen
für Neugeborene mit ANS haben sich
über die letzten drei Jahrzehnte nicht
wesentlich verschärft. Es ist eher so,
dass heute dank zusätzlichen Überwa -
chungsmöglichkeiten in den Gebärsälen
Kinder mit einer geringen Atemstörung
lediglich im Kreissaal überwacht werden
und bei rascher klinischer Verbesserung
gar nie auf einer neonatalen oder pädiat -
rischen Abteilung hospitalisiert werden
müssen. Solche Kinder wurden in der
beschriebenen Studie nicht erfasst.
3) Wie oben erwähnt ist die Sectiorate
in den letzten 30 Jahren um 20–25%
gestiegen. Das Risiko, ein ANS zu entwi -
ckeln, ist für Neugeborene nach Sectio
Caesarea (SC) deutlich höher als nach
Vaginalgeburt (VG) 5). Levine ermittelte
in einer Population von Neugeborenen
mit GA > 35 Schwangerschaftswochen
(SSW) eine kombinierte ANS-Inzidenz
von 4.5% nach SC und 1.4% nach VG 6).
Eine Zunahme der Sectiorate von rund
20–25% in den letzten 30 Jahren bedeu –
tet bei rund 80000 Lebendgeburten/
Jahr in der Schweiz, dass aktuell zirka
16 000–20 000 mehr Kinder/Jahr per
SC entbunden werden als vor 30 Jahren.
Bei einem erhöhten Risiko von rund 3%,
postnatal ein ANS zu entwickeln nach CS
im Vergleich zu VG, ist rein rechnerisch
heute mit ungefähr 480–600 mehr ANS-
Patienten/Jahr zu rechnen als 1974.
4) Auffallend in der Schweizer ANS-Studie
ist die bedeutende Zunahme der hospi –
talisierten ANS-Patienten mit Geburts –
gewicht (GG) > 2500 g. Während 1974
die hospitalisierten ANS-Patienten mit
einem GG > 2500 g 8.4 ‰ aller lebendge –
borener Kinder ausmachten, stieg diese
Zahl kontinuierlich an über die nächsten
Dekaden (1984: 12.2 ‰, 1994: 15.0 ‰,
2004: 20.2 ‰).
Warum also sollten ausgerechnet die reifsten
Kinder in zunehmendem Masse ein hospita –
lisationsbedürftiges ANS entwickeln? Aus
anderen Ländern ist bekannt, dass die
Zunahme der Sectiorate vorwiegend auf
elektive SC kurz vor oder am Termin zurück –
zuführen sind 3). Hauptindikationen hierzu
sind Status nach vorangegangener SC oder
fötale Lageabnormitäten 3). Welche Bedeu –
tung der Indikationsstellung zur SC aufgrund
des Wunsches der Mutter zukommt, wird
derzeit heftig diskutiert 7)–9) . Die zunehmende
Sicherheit von Anästhesie und Operation,
die Angst vor vorzeitigen Wehen und ihren
möglichen Komplikationen, das Risiko von
mütterlicher Urin- und Stuhlinkontinenz
nach Vaginalgeburt, wie auch die Sorge
um einen fötalen Kindstod favorisieren die
Entscheidung zugunsten einer geplanten
elektiven SC. Eine Kaiserschnittentbindung
vor Wehenbeginn ist aber begleitet von
einem erhöhten ANS-Risiko des Neugebo –
renen 10)–13) . Das Risiko, postnatal ein ANS
zu entwickeln, steigt zudem mit sinkendem
Gestationsalter 14), 15) . In einer prospektiven
Studie von > 33 000 Geburten wurde das
relative Risiko ermittelt, ein ANS entweder
infolge wegen hyaliner Membranenkrank –
heit wegen relativem Surfactantmangel
oder ein ANS infolge verzögerter Lung –
enflüssigkeitsresor ption («Wet Lung») zu
entwickeln, aufgeteilt nach Gestationsalter
und Geburtsmodus ( siehe Tabelle )14). Ge –
mäss diesen Daten hat ein Kind, welches
durch Plansectio in der Woche 37 0/7–
37 6/7 geboren wird, ein vierfach erhöhtes
Risiko, ein hospitalisationsbedürftiges ANS
zu entwickeln, als eines, das auch am Ter –
min, aber zwei Wochen später durch eine
elektive SC geboren wird. Wenngleich es
sich in den meisten Fällen um ein komplika –
tionsloses ANS infolge «Wet Lung» handelt,
ist häufig eine Hospitalisation des Neuge –
borenen von mehreren Tagen nötig, mit
entsprechender Trennung von Mutter und
Kind 16). In verschiedenen Studien sind aber
auch schwerwiegende Verläufe beschrieben
worden, mit entsprechend grossem medizi –
nischem Aufwand im Sinne von Notfalltrans –
port des Neugeborenen und Hospitalisation
in einer neonatalen Intensivstation 17), 18) .
Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von
einer drastischen Reduktion von Morbidität
und Mortalität der Neugeborenen dank
grossen Fortschritten in der Perinatalmedi –
zin. Umso mehr erstaunt dieser gegenläufige
Trend der ANS-Inzidenz. In einer Zeit, in
der die medizinischen Ressourcen knapper
werden, muss die Zunahme des neonatalen
ANS die Alarmglocken läuten lassen und die
Hohe Rate an Kaiserschnittentbindungen
und zunehmende Inzidenz des neonata –
len Atemnotsyndroms in der Schweiz
Matthias Roth-Kleiner
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Gründe für diese Entwicklung müssen im
Rahmen von Studien aktiv gesucht werden.
Verdankung: Besten Dank an A. Moessinger und P. Hohl – feld für die kritische Durchsicht des Manuskriptes.
Korrespondenzadresse:
Dr Matthias Roth-Kleiner
Division de Néonatologie, CHUV
Av. Pierre Decker
1011 Lausanne
Tel. 021 314 3223
Fax 021 314 3477
matthias.roth@chuv.ch
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Tabelle: Relatives ANS Risiko aufgeteilt nach Gestationsalter und Geburtsmodus (nach 14))
Sectio Caesarea vor Sectio Caesarea
Gestationsalter Wehenbeginn nach Wehenbeginn Vaginalgeburt
37 0/7 bis 37 6/7 73.8 ‰ 57.7 ‰ 12.6 ‰
39 0/7 bis 39 6/7 17.8 ‰ 16.2 ‰ 3.2 ‰
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Matthias Roth-Kleiner , Division de Néonatologie, CHUV, Lausanne