Glutenfreie Ernährung – einst nur bei Zöliakie ein Muss – gilt vielen heutzutage als Allheilmittel, nicht nur gegen gastrointestinale Beschwerden. Doch was bedeutet Glutensensitivität wirklich und worin unterscheidet sie sich von einer Lebensmittelallergie oder der Zöliakie? Die wesentlichen Punkte einer kürzlich in «Gastroenterology» publizierten Übersichtsarbeit werden in diesem Artikel zusammengefasst und kommentiert. Wenn Gluten oder glutenhaltige Getreideprodukte, vor allem aus Weizen, zu gastrointestinalen Beschwerden führen, bei denen es sich weder um eine Lebensmittelallergie noch um eine Zöliakie handelt, wird dies in der Fachliteratur als nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity) bezeichnet. Die NCGS ist keine neue «Entdeckung». Bereits 1978 berichteten Ellis und Linaker in «The Lancet» von einer Patientin mit typischen Symptomen, für die keine Ursache gefunden werden konnte, welche jedoch bereits nach wenigen Tagen glutenfreier Diät verschwanden. Danach geriet das Phänomen in Fachkreisen wieder in Vergessenheit. Heutzutage gilt NCGS als eigenes Krankheitsbild unter einer Reihe glutenassoziierter Erkrankungen (Tabelle 1), die sich in ihrem Pathomechanismus erheblich voneinander unterscheiden; auch scheint die NCGS nicht auf gastrointestinale Symptome beschränkt zu sein.
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Vol. 27 Nr. 4 2016 P ä d i at r i s c h e G a s t r o e nt e r o l og i e , H e p at o l og i e u n d E r n ä h r u ng
Einleitung
Glutenfreie Ernährung – einst nur bei Zöliakie
ein Muss – gilt vielen heutzutage als Allheil –
mittel, nicht nur gegen gastrointestinale Be –
schwerden. Doch was bedeutet Glutensensi –
tivität wirklich und worin unterscheidet sie
sich von einer Lebensmittelallergie oder der
Zöliakie? Die wesentlichen Punkte einer kürz –
lich in «Gastroenterology» publizierten Über –
sichtsarbeit werden in diesem Artikel zusam –
mengefasst und kommentiert.
Wenn Gluten oder glutenhaltige Getreidepro –
dukte, vor allem aus Weizen, zu gastrointesti –
nalen Beschwerden führen, bei denen es sich
weder um eine Lebensmittelallergie noch um
eine Zöliakie handelt, wird dies in der Fachli –
teratur als nicht zöliakiebedingte Glutensen –
sitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity)
bezeichnet. Die NCGS ist keine neue «Entde –
ckung». Bereits 1978 berichteten Ellis und
Linaker in «The Lancet» von einer Patientin mit
typischen Symptomen, für die keine Ursache
gefunden werden konnte, welche jedoch be –
reits nach wenigen Tagen glutenfreier Diät
verschwanden. Danach geriet das Phänomen
in Fachkreisen wieder in Vergessenheit. Heut –
zutage gilt NCGS als eigenes Krankheitsbild
unter einer Reihe glutenassoziierter Erkran –
kungen ( Tabelle 1 ), die sich in ihrem Patho –
mechanismus erheblich voneinander unter –
scheiden; auch scheint die NCGS nicht auf
gastrointestinale Symptome beschränkt zu
sein.
Welche Rolle spielt das Immun-
system bei NCGS?
Sowohl die Autoimmunerkrankung Zöliakie als
auch die Weizenallergie werden durch das
adaptive Immunsystem vermittelt. In beiden
Fällen werden durch das Gluten spezifische
T-Lymphozyten in der Darmschleimhaut akti –
viert; bezüglich Antikörperprofil und weiterer
immunologischer Reaktionen gibt es jedoch
Unterschiede. Bei einer Zöliakie finden sich
die typischen Antikörper gegen körpereigene
Strukturen: Gegen Gewebstransglutaminase
Typ 2 (TG2), gegen Endomysium (EMA) sowie
gegen deaminierte Formen von Gliadinpepti –
den (DPG). Bei einer Weizenallergie kommt es
hingegen zu den für eine Lebensmittelallergie
typischen Reaktionen: Immunglobulin E wird
durch repetitive Aminosäuresequenzen des
Glutens kreuzvernetzt, was zur Ausschüttung
allergietypischer Mediatoren wie Histamin
durch basophile Granulozyten und Mastzellen
führt.
Anders bei NCGS: Die Symptome nach dem
Genuss glutenhaltiger Lebensmittel ähneln
zwar denjenigen einer Zöliakie, es kommt je –
doch weder zum Auftreten typischer Autoan –
tikörper noch zu einer Schädigung der Darm –
schleimhaut. Man nimmt an, dass bei NCGS
– anders als bei der Zöliakie oder der Allergie
– das «unspezifische», angeborene Immunsys –
tem beteiligt ist, nämlich Granulozyten,
Makro phagen und natürliche Killerzellen (NK-
Zellen) sowie humorale Faktoren wie das
Komplementsystem.
Ta b e l l e 2 f as s t U nter s c hie de un d G em eins am –
keiten der Glutensensitivität, Weizenallergie
und Zöliakie zusammen.
Diagnose NCGS
NCGS ist eine Ausschlussdiagnose, wenn
weder eine Zöliakie noch eine Weizenallergie
nachgewiesen werden kann und die Sympto –
me bei glutenfreier Ernährung rasch ver –
schwinden.
Glutensensitivität, Weizenallergie
oder Zöliakie?*
Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei Getreideunverträglichkeiten
Renate Bonifer, Neuhausen; Raoul I. Furlano, Basel
Autoimmun• Zöliakie (symptomatisch, lar viert, potenziell)• Gluten-Ataxie (neurologische Störungen bei Patienten mit Zöliakie -Antikörperprofil)• Dermatitis herpetiformis
Allergisch• Weizenallergie respiratorische Allergie, Le – bensmittelallergie, WDEIA (wheat depen – dent excercise induced anaphylaxis), Kon – takturtikaria
Weder autoimmun noch allergisch• nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität (NCGS)
Tabelle 1: Klassifikation glutenassoziierter
Erkrankungen
Zöliakie Weizenallergie Glutensensitivität (NCGS)
Dauer zwischen Glutenkonsum und Symptomen Tage bis Wochen Minuten bis Stunden Stunden bis Tage
Pathogenese autoimmun (adaptives Immunsystem) allergisch (adaptives Immunsystem) angeborenes Immunsystem (?)
HLA HLA DQ2/8-abhängig nicht HLA DQ2/8-abhängig nicht HLA DQ2/8-abhängig
Autoantikörper fast immer vorhanden nein nein
Enteropathie fast immer vorhanden nein a) nein b)
Symptome intestinal und extraintestinal intestinal und extraintestinal intestinal und extraintestinal
Komplikationen langfristig kurzfristig (Anaphylaxie) langfristig (?)
Komorbidität ja nein ja
Tabelle 2: Zöliakie, Weizenallergie und Glutensensitivität im Vergleich
a) Eosinophile in Lamina propria b) Leichter Anstieg der intraepithelialen Lymphozyten
* D i e s e r A r t i ke l e r s c h i e n z u e r s t i n d e r Ze i t s c h r i f t PÄ D I AT R I E N r. 2/2016. D i e Ü b e r n a h m e e r f o lg t e m i t f r e u n d l i c h e r G e n e h m ig u ng vo n Ro s e n fl u h P u b l i ka t i o n e n u n d Au to r e n .
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Vol. 27 Nr. 4 2016 Pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung
freie Ernährung gelindert worden sein sollen.
Welche physiologischen Mechanismen diesen
Phänomenen zugrunde liegen könnte, ist je –
doch noch völlig unklar.
Ebenfalls fehlen verlässliche Angaben zur
Prävalenz der NCGS in der Allgemeinbevölke –
rung. In einer Kohorte mit 916 Kindern in
Neuseeland hatte 1 Prozent der Kinder eine
diagnostizierte Zöliakie und bei 5 Prozent der
Kinder wurde Gluten in der Ernährung vermie –
den – ob zu Recht oder nicht, ist allerdings
unbekannt. In der US-amerikanischen NHA –
NES-Kohorte (National Health and Nutrition
Examination Survey) berichteten nur 0,55
Prozent der Teilnehmer, dass sie sich gluten –
frei ernähren würden. Falls man davon aus –
geht, dass sich unter den Reizdarmpatienten
ein gewisser Anteil mit NCGS befindet, sei
jedoch sicher von einer höheren Prävalenz
auszugehen, schreiben die Autoren der Über –
sichtsarbeit, denn in Nordeuropa liegt die
IBS-Prävalenz bei 16 bis 25 Prozent.
Ist wirklich das Gluten an allem
schuld?
Die lästigen Symptome einer NCGS ähneln
denjenigen, die auch nach dem Verzehr soge –
nannter FODMAP als typische Reizdarmsym –
ptome auftreten. FODMAP sind kurzkettige
Kohlenhydrate und Polyole, die bei einem in –
dividuell mehr oder weniger stark ausgepräg –
ten Mangel im Enzymprofil der Darmflora von
Darmbakterien nicht abgebaut, sondern ledig –
lich «vergoren» werden. Wenn Reizdarmpati –
enten auf FODMAP-reiche Nahrungsmittel
verzichten, gehen die Symptome zurück
(FODMAP: fermentable oligo -, di- and mono –
saccharides and polyols).
NCGS und IBS seien aber nicht dasselbe, so
die Autoren der Übersichtsarbeit, auch wenn
es einige Gemeinsamkeiten gebe und IBS-
Patienten auch NCGS haben können bezie –
hungsweise umgekehrt. Bei den Beschwerden
durch FODMAP handelt es sich um eine Into –
leranz (weil die Enzyme fehlen, um diese
Stoffe abzubauen), während das NCGS eine
immunologisch bedingte (Weizen- )Sensitivi –
tät darstellt.
Möglicherweise spielen andere Getreidebe –
standteile für das NCGS sogar eine bedeuten –
dere Rolle als das Gluten, nämlich die sogenann –
ten ATI (alpha-Amylase-Trypsin-Inhibitoren).
ATI sind natürliche Pflanzeninhaltsstoffe, die
die Pflanze vor Frassfeinden schützen. Ta b e l –
le 3 fasst die Daten zu Gluten und ATI als Inhalts –
stoffe verschiedener Pflanzenklassen zusam –
men. In Laborexperimenten zeigte sich, dass ATI
gastrointestinale Symptome wie Kopfschmer –
zen oder Migräne, Benommenheit, chronische
Müdigkeit, Gelenk- und Muskelschmerzen,
Kribbeln oder Taubheit in Armen und Beinen,
Ekzeme, Anämie oder Depressionen. Es gibt
Fallberichte über Patienten mit psychiatri –
schen, neurologischen oder allergischen Er –
krankungen, deren Symptome durch gluten –
Die Symptome einer NCGS treten typischer –
weise innert Stunden oder Tagen nach dem
Genuss glutenhaltiger Getreideprodukte auf.
Die gastrointestinalen Symptome sind ähnlich
wie beim Reizdarmsyndrom (IBS): Bauch –
schmerzen, Blähungen, Flatulenz und irregu –
läre Darmmotilität. Anders als bei IBS schil –
dern manche NCGS-Patienten auch nicht
Kommentar
Vorgehen in der Pra xis
Die Übersichtsarbeit von Fasano et al. gibt uns einen guten Einblick in die nicht zöliakiebe –
dingte Glutensensitivität (NCGS: non celiac gluten sensitivity). 2011 wurde NCGS durch ein
Expertenpanel als «a non-allergic and non-autoimmune condition in which the consumption
of gluten can lead to symptoms similar to those seen in celiac disease» definiert 1). Die NCGS
scheint ein heterogenes Phänomen zu sein, mit verschiedenen und potenziell sich überlap –
penden Subtypen 2). Mehrere Subtypen implizieren multiple mögliche Mechanismen, und dies
gilt wohl auch für die NCGS. Sapone et al. beschrieben NCGS als eine «inflammatory condition
mostly supported by innate immune mechanisms», welche sich von der Zöliakie und der Wei –
zenallergie unterscheidet. In-vitro-Evidenz deutet darauf hin, dass schlecht verdaute Weizen –
proteine, bekannt als Amylase-Trypsin-Inhibitoren, womöglich eine Antwort des angeborenen
Immunsystems triggern 3). Veränderungen des intestinalen Mikrobioms spielen wohl auch eine
Rolle bei der NCGS und schliesslich auch die sogenannten Fruktane 4).
Was bedeutet nun diese Review für den praktischen Alltag in der Beratung unserer Patienten?
Biomarker stehen uns nicht zur Verfügung. Folgendes Vorgehen entspricht der Praxis des
Kommentators bei Verdacht auf NCGS. Es handelt sich lediglich um eine Expertenmeinung
und das Vorgehen wurde bisher nicht in einer Studie validiert:
1. Ausschluss einer Zöliakie mittels Messung von Endomysium-IgA- und Gewebetransgluta –
minase-IgA-Antikörpern, allenfalls Dünndarmzottenbiopsie.
2. Ausschluss anderer Nahrungstrigger, wie FODMAP oder vom Patienten vermutete Nahrungs –
mittel.
3. Zeitlich begrenzte glutenfreie Ernährung, falls sich Symptome nicht gebessert oder aufge –
hört haben, nachdem andere Nahrungsmitteltrigger vermieden wurden (Punkt 2).
4. Verblindete Gluten-Reexpositionen, falls Symptome nach glutenfreier Ernährung (Punkt 3)
verschwunden sind.
5. Re-Expositionen mit Gluten, um einen allfälligen Schwellenwert zu bestimmen.
Raoul I. Furlano
Referenzen1) Mansueto P et al. Non-celiac gluten sensitivity: literature review. J Am Coll Nutr 2014; 33 (1): 39–54. 2) Catassi C et al. Non-celiac gluten sensitivity: the new frontier of gluten related disorders. Nutrients 2013; 5 (10 ) : 3 8 3 9 – 5 3 . 3) Sapone A et al. Divergence of gut permeability and mucosal immune gene expression in two gluten-associ – ated conditions: celiac disease and gluten sensitivity. BMC Med 2011; 9: 23. 4) Carroccio A et al. Non – celiac wheat sensitivity as an allergic condition: personal experience and narrative review. Am J Gastroenterol 2013; 108 (12): 1845–52.
Lebensmittel ATI – B i o a k t i v it ät Glutengehalt
Weizen, Roggen, Gerste hoch hoch
Sojabohnen, Buchweizen, Erbsen mittel (2–10% der glutenhaltigen Fasern) niedrig
Amaranth, Reis, Mais, Kartoffeln niedrig (< 2% der glutenhaltigen Fasern) niedrig
Tabelle 3: Hauptquellen für ATI und Gluten
ATI: alpha-Amylase -Tr ypsin - Inhibitoren (Pflanzeninhaltsstof fe, welche diese vor Insektenfrass etc. schützen)
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das unspezifische, angeborene Immunsystem
aktivieren. Das Protein moderner Weizensorten
besteht zu 2 bis 4 Prozent aus ATI (Gluten 80–
90%), bei einem Glutenverzicht wegen NCGS
werden gleichzeitig auch die ATI vermieden.
Welche Getreidebestandteile bei NCGS nun
aber tatsächlich die grösste Rolle spielen –
ATI oder Gluten oder andere – ist eine noch
offene Frage.
ReferenzFasano A, Sapone A, Zevallos V, Schuppan D: Nonceli - ac gluten and wheat sensitivity. Gastroenterology 2015; 148: 1195–1204.
Korrespondenzadressen
Dr. Renate Bonifer
Redaktorin PÄDIATRIE
Rosenfluh Publikationen
Schaffhauserstrasse 13
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renate.bonifer@rosenfluh.ch
PD Dr. med. Raoul I. Furlano
Abteilungsleiter/Leitender Arzt Pädiatrische
Gastroenterologie & Ernährung
Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB)
Spitalstrasse 33
4031 Basel
raoul.furlano@ukbb.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklarier t.
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Dr. Renate Bonifer , Redaktorin PÄDIATRIE Rosenfluh Publikationen PD Dr. med. Raoul I. Furlano , Pädiatrische Gastroenterologie & Ernährung Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) Andreas Nydegger