Die Verbesserung in der Versorgung von Neugeborenen während der letzten 150 Jahre lässt sich eindrücklich durch die Senkung der Säuglingssterblichkeit belegen. Diese Entwicklung verlief jedoch nicht geradlinig, sondern es gab eine Vielzahl von gutgemeinten Versuchen, von denen sich einige für die betroffenen Kinder als ungünstig, ja fatal auswirkten. Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts lag die Betreuung von Neugeborenen in den Händen von Hebammen und Geburtshelfern, die entscheidend zur Verbesserung des Überlebens beitrugen. Der Begriff «Neonatologie» wurde erst 1960 geprägt und wird seither als Spezialdisziplin der Pädiatrie verstanden.
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Die Ver b es ser ung in der Ver sor gung von N eu-
geborenen während der letzten 150 Jahre
lässt sich eindrücklich durch die Senkung der
Säuglingssterblichkeit belegen ( A b b .1). Diese
Entwicklung verlief jedoch nicht geradlinig,
sondern es gab eine Vielzahl von gutgemein –
ten Versuchen, von denen sich einige für die
betroffenen Kinder als ungünstig, ja fatal
auswirkten.
Ende des 19. und anfangs des 20. Jahrhun –
derts lag die Betreuung von Neugeborenen in
den Händen von Hebammen und Geburtshel –
fern, die entscheidend zur Verbesserung des
Überlebens beitrugen. Der Begriff «Neonato –
logie» wurde erst 1960 geprägt und wird
seither als Spezialdisziplin der Pädiatrie ver –
standen.
Von den vielen einzelnen Schritten, die die
Ver b es ser ung der Au f zucht von immer kleine –
ren Neugeborenen ermöglichten, seien hier
nur drei wichtige Problemkreise skizziert,
nämlich die Wärme, die Ernährung und die
Atmung.
Geschichte der Neonatologie: Eine
Erfolgsgeschichte mit vielen Irrwegen
Hans Ulrich Bucher, Zürich lich wie in einem Zoo dem Publikum zugäng
–
lich gemacht werden. Da sich jedoch die loka –
len Hebammen und Ärzte gegen dieses
kommerzielle Geschäft wehrten und keine
Kinder zur Verfügung stellten, wurden Findel –
kinder aus Paris importiert und damit die
Show gerettet. In der Folge wurden Incubator-
Baby Side Shows in verschiedenen Städten in
den USA veranstaltet, so 1901 in New York
(Abb. 3) und 1914 an der Weltausstellung in
Chicago. Diese Shows waren nicht nur ein fi –
nanzieller Erfolg, sondern beflügelten auch
das Wissen, um die besonderen Bedürfnisse
von Neugeborenen.
Ernährung: Wenn die Milch der
eigenen Mutter nicht ausreicht
Eine einfache und wirkungsvolle Massnahme
zur Aufzucht von untergewichtigen, trink –
schwachen Neugeborenen war seit der Antike
das Stillen dur ch A mmen. In Zür ich und ande –
ren Städten erhielten ledige Mütter mit einem
Kind gratis Kost und Logis in einem Heim
neben der Frauenklinik mit der Bedingung,
dass sie nebst dem eigenen ein zweites Kind
an der Brust ernährten. So wurden gleichzei –
tig schwächlichen Frühgeborenen das Über –
leben und ledigen Müttern eine Existenz er –
möglicht.
Abbildung 1: Abnahme der Säuglingssterblichkeit (im ersten Lebens –
jahr) und der neonatalen Sterblichkeit (in den ersten 28 Lebenstagen)
in der Schweiz. Quelle: BfS Abbildung 2: 1870 in Paris gebauter Inkubator (Couveuse) zur Aufzucht
von Neugeborenen. 1 Lufteinlass mit Filter. 2 Mit heissem Wasser ge
–
füllte Bettflaschen. 3 Unterlage mit Matratze. 4 Auslassventil. 5 Ab –
nehmbare Glasscheibe zur Beobachtung und Herausnahme des Kindes.
6 Thermometer. 7 mit Wasser getränkter Schwamm zur Befeuchtung
der Luft
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Inkubatoren als Lebensretter
1870 beobachtete Tarnier in Paris, dass Kin
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der, die nach einer Hausgeburt mit einer
Körpertemperatur unter 33.5 °C ins Spital
gebracht wurden, häufiger starben als Kinder
mit höherer Temperatur. Da der französische
Staat wegen des Krieges mit Deutschland
dringend Soldaten brauchte, wurden grosse
Anstrengungen unternommen, um die hohe
Säuglings s ter blichkeit von gegen 70 % zu sen –
ken. Nachdem Tarnier durch seine Dokumen –
tation erkannt hatte, wie wichtig der Erhalt
der Wärme für das Überleben von Neugebo –
renen war, baute er Holzkästen, die mit Wär –
meflaschen geheizt wurden und so das Ab –
kühlen der Kinder verhinderten (Abb.2).
Clevere Ärzte gründeten in mehreren grossen
Städten Anstalten mit vielen Inkubatoren für
die Aufzucht von Frühgeborenen. Sie bildeten
Wär ter innen aus , die sich r und um die Uhr um
diese schwächlichen Geschöpfe kümmerten,
und zeigten die Kinder gegen Entgelt dem
Publikum. 1897 sollten in London an einer
Ausstellung Frühgeborene in Brutkästen ähn –
7Die Vr bse V Vung
7Die Vrbsun
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Schon zu B eginn des 20. Jahr hunder t s w ur den
Kunstmilchen vorgeschlagen. Deren Zusam-
mensetzung war jedoch umstritten. So forder –
te Rotch 1911, dass Frühgeborene nach fol –
gendem Rezept 24-mal pro Tag mit je einer
Drachme (3
3/20 g) gefüttert werden sollten:
0.5% Protein, 1% Fett und 3 % Zucker auf
167°F (75° C ) er hit z t . In den folgenden Tagen
sollten die Konzentrationen schrittweise ge –
steigert werden.
In den 1930er Jahren wurde dann eine Formu –
la auf Kuhmilchbasis als Ersatz für Frauen -milch vorgeschlagen. Trotz vielfältigen Varia
–
tionen blieb die Sterblichkeit hoch und es
traten verschiedene Mangelerscheinungen
auf, die nachträglich als Vitamin-B6-Mangel
oder Vitamin-K-Mangel identifiziert wurden.
Erst eine Verbesserung der hygienischen Be –
dingungen mit Abwasser, Kühlschrank und
Gummi-Sauger brachte den Durchbruch in der
oralen Ernährung mit Muttermilch-Ersatzprä –
paraten (Abb.4).
Zur Ernährung von Neugeborenen, die nicht
selber trinken konnten, war in den 60er Jahren
Abbildung 3:
Incubator-Baby Side Show an der Pan-American Exposition in Buffalo, NY, 1901.
Die Frühgeborenen wurden in zentral geheizten Inkubatoren gepflegt und von ausgebildeten
Wär ter innen und Är z ten betreut. Die B esucher bez ahlten Eintr it t und zir kulier ten in abgez äum –
ten Gängen. Mit freundlicher Erlaubnis: THE BUFFALO HISTORY MUSEUM
Abbildung 4: Milchküche in der alten Frauenklinik am Kantonsspital Zürich ca. 1940
eine Gastrostomie verbreitet. Diese wurde
dann aufgegeben, weil eine kontrollierte Stu –
die mit 122 Kindern mit einem Geburtsge –
wicht unter 1250 g zeigte, dass die Mortalität
bei der Gastrostomie-Gruppe höher war als
bei der Kontrollgruppe.
Eine Anreicherung von Frauenmilch für die
spezifischen Bedürfnisse von Frühgeborenen
unter 32 Schwangerschaftswochen und eine
parenterale Ernährung starteten erst in den
späten 1970er Jahren.
Verschiedene Mittel zur Bekämp –
fung der Atemnot
Die Ver abr eichung von Sauer s tof f zur B ehand –
lung einer Zyanose wurde bereits zu Beginn
des 20. Jahrhunderts eingeführt. Allerdings
war die Verabreichung unterschiedlich, so
wurden 10 bis 20 ccm mit einer Spritze lang –
sam in die Nabelvene injiziert oder mit einer
Sonde in den Magen gegeben, von wo er
durch die Schleimhaut resorbiert würde. Erst
als Ylpöö 1919 die Verabreichung von Sauer –
stoff mit einem Katheter in den Pharynx be –
schrieb, setzte sich diese Methode durch.
In den 40er Jahren wurde Sauerstoff in den
Neugeborenen-Abteilungen in hohen Konzen –
trationen in Wannen und Brutkästen während
Wochen verabreicht. Durch diesen unkriti –
schen Umgang mit Sauerstoff wurden viele
der behandelten Kinder blind. 1941 beschrieb
ein australischer Augenarzt eine neue Augen –
krankheit, die retrolentale Fibroplasie (heute:
Retinopathie), die bei Frühgeborenen epide –
misch auftrat und zur Erblindung führte. Zu –
erst wurde als Ursache eine Infektion vermu –
tet, dann ein Vitaminmangel, bis endlich der
Sauerstoff auf die Anklagebank kam. Mehre –
ren kontrollierten Studien gelang es jedoch
seither nicht, die optimale Sauerstoffkonzen –
tration zu finden und auch jüngst veröffent –
lichte Studien geben keine schlüssige Ant –
wort. Nach wie vor erhöht zu wenig Sauerstoff
die Mortalität und zu viel die Inzidenz der
Retinopathie des Frühgeborenen.
Den grössten Erfolg in der Bekämpfung der
Atemnot brachte die Entdeckung 1959 von
Avery und Mead, dass der Mangel einer ober –
flächenaktiven Substanz (Surfactant) die Ur –
sache des Atemnotsyndroms bei Frühgebore –
nen ist. In zahlreichen randomisierten Studien
wurde die Wirkung von Surfactant, der aus
Tierlungen oder synthetisch hergestellt wur –
de, eindrücklich nachgewiesen. Noch elegan –
ter war eine Stimulation der Surfactant-Syn –
7Die Vr bse V Vung
7Die Vrbsun
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ProblemJahrAutor Lösung
Wärmeverlust 1870Tarnier, Budin Inkubator
Trinkschwäche 1884Tarnier Ernährung mit Magensonde
Keine Muttermilch 1894versch. Autoren Erste Milchbanken
Persistierender Ductus Botalli 193 8Cross and Hubbard Operativer Verschluss
Erythroblastosis fetalis 194 6Diamond Blutaustausch
Postnatale Reanimation 1952Apgar Virginia Score zur Beurteilung der postnatalen Adaptation
Retrolentale Fibroplasie (später: Retinopa –
thie des Frühgeborenen) 195 4Kinsey, Silverman
et al. Randomisierte kontrollierte Studie: Sauerstoff ist Ursache
Atemnotsyndrom 1959Aver y and Mead Surfactant
Hyperbilirubinämie 1969Lucey Fototherapie
Atemnotsyndrom 1971Gregory CPAP
Lungenunreife 1972Liggins Pränatale Steroide
Überwachung der Oxygenation 1973versch. Autoren Transcutane Pulsoximetrie
Persistierender Ductus Botalli 19 74Sharpe Indomethacin
Orale Ernährung ungenügend 1975versch. Autoren Parenterale Ernährung
Überwachung der Oxygenation 1987versch. Autoren Pulsoximetrie
Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie 2009versch. Autoren milde therapeutische Hypothermie
Abbildung 5: Skizze des von Gregory et al. vorgeschlagenen CPAP (Continuous Positive Airway
Pressure) als wirksame Atemhilfe. Die Pfeile geben die Flussrichtung des Gases an. Modifiziert
nach Cumarasamy N, Nüssli R, Vischer D, Dangel PH, Duc GV. Pediatrics 1973; 51: 632
Tabelle 1: Wichtige Fortschritte in der Betreuung von Neugeborenen (Ref. http://www.neonatology.org/history/timeline.html)
these bei drohender Frühgeburt durch die
Gabe von Steroiden an die schwangere Mut
–
ter. Diese Therapie wurde von Liggins auf –
grund einer zufälligen Beobachtung bei unrei –
fen Lämmern vorgeschlagen.
Ein kontinuierlicher Druck in den Luftwegen
(CPAP) wurde bereits zu Beginn des 20. Jahr –
hunderts angewandt, fand allerdings erst
nach einer Publikation von G r egor y et . al 1971
weite Verbreitung (Abb. 5). Eine maschinelle
Beatmung setzte sich nach etlichen frustra –
nen Versuchen erst in den 80er Jahren durch,
wobei technische Entwicklungen mit besse –
ren Kenntnissen zur Atemphysiologie einher
gingen.
Nebst den drei dargestellten Hauptproblemen
gab es weitere wichtige Entdeckungen, die
spezifisch für Neugeborene eingesetzt wur –
den, so die Fototherapie und die Austausch-
transfusion zur Bekämpfung einer Hyperbili –
rubinämie, die operative und die
medikamentöse Behandlung eines offenen
Ductus Botalli, Coffein zur Apnoe-Behandlung
und die therapeutische Hypothermie zur Be –
grenzung einer hypoxisch ischämischen Enze –
phalopathie nach einer Asphyxie ( Ta b .1).
Viele Errungenschaften der modernen Er –
wachsenen-Medizin kamen auch den Neuge –
borenen zu Gute, zum Beispiel Antibiotika,
Blutbanken, Ultraschall, Pulsoximetrie und
eine massgeschneiderte Flüssigkeitstherapie.
Voraussetzung für eine rationale Therapie
war en nicht- invasi ve M es smetho den und A na –
lysen in kleins ten B lutmengen, um eine f r üher
obligate iatrogene Anämie zu vermeiden.
Die Behandlung immer unreiferer und kleine –
rer Frühgeborener führte zur Konzentration
der Behandlung in hochspezialisierten Perina –
talzentren und entfachte eine ethische Kont –
roverse zu den Grenzen der Medizin.
Referenzen
– The histor y of neonatology. http://www.neonatology.
org/history/history.html
– Classic Resources in Neonatal-Perinatal Medicine.
http://www.neonatology.org/classics/default.
html
Korrespondenzadresse
buh @ usz.ch
Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine
anderen Interessenskonflikte im Zusammenhang mit
diesem Beitrag deklariert.
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Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Hans Ulrich Bucher , Universtätspital Zürich