Es gehört zu den Rechten und Pflichten von Eltern, die Gesundheit ihres Kindes bestmöglich zu gewährleisten. In diesem Sinne erteilen sie das Einverständnis zur Durchführung von medizinischen Untersuchungen, Eingriffen und Massnahmen. Sie sind dabei aber nicht frei (wie man es als volljähriger und mündiger Patient bei Entscheidungen über seine eigene Gesundheit ist), sondern sie müssen sich am Wohl des Kindes orientieren, das als bestmögliche Gesundheit und Lebensqualität angenommen werden kann. Die allermeisten Eltern erfüllen diese Pflicht untadelig. Sehr selten nur entscheiden sich Eltern gegen von der Schulmedizin empfohlene, erfolgversprechende Therapien. Dann ist es die Pflicht der Ärztin/des Arztes, mit Fachwissen, Empathie, geschickter Gesprächsführung und Überzeugungskraft auf die Eltern einzuwirken und so als Anwalt des Kindes dessen Gesundheit zu gewährleisten. Lassen sich Eltern nicht überzeugen, sind ÄrztInnen vom Gesetz her berechtigt – und bei erheblicher Gesundheitsgefährdung moralisch verpflichtet –, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde zu involvieren. Situationen von verweigerter schulmedizinischer Therapie sind in den letzten Jahren häufiger geworden. Im Artikel werden an Hand von Beispielen Problemkreise und mögliche Vorgehensweisen aufgezeigt.
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Fortbildung Pädiatrie
Zusammenfassung
Es gehört zu den Rechten und Pflichten von
Eltern, die Gesundheit ihres Kindes bestmög-
lich zu gewährleisten. In diesem Sinne erteilen
sie das Einverständnis zur Durchführung von
medizinischen Untersuchungen, Eingriffen
und Massnahmen. Sie sind dabei aber nicht
frei (wie man es als volljähriger und mündiger
Patient bei Entscheidungen über seine eigene
Gesundheit ist), sondern sie müssen sich am
Wohl des Kindes orientieren, das als bestmög –
liche Gesundheit und Lebensqualität ange –
nommen werden kann.
Die allermeisten Eltern erfüllen diese Pflicht
untadelig. Sehr selten nur entscheiden sich
Eltern gegen von der Schulmedizin empfohle –
ne, erfolgversprechende Therapien. Dann ist
es die P flicht der Ä r z tin/des A r z tes , mit Fach –
wissen, Empathie, geschickter Gesprächsfüh –
rung und Überzeugungskraft auf die Eltern
einzuwirken und so als Anwalt des Kindes
dessen Gesundheit zu gewährleisten. Lassen
sich Eltern nicht überzeugen, sind ÄrztInnen
vom Gesetz her berechtigt – und bei erhebli –
cher Gesundheitsgefährdung moralisch ver –
pflichtet –, die Kindes- und Erwachsenen –
schutzbehörde zu involvieren.
Situationen von verweigerter schulmedizini –
scher Therapie sind in den letzten Jahren
häu figer gewor den. Im A r tikel wer den an Hand
von Beispielen Problemkreise und mögliche
Vorgehensweisen aufgezeigt.
Einleitung
Es ist vom Gesetzgeber vorgesehen, dass El –
tern für ihre nicht urteilsfähigen Kinder über
die Durchführung medizinischer Untersuchun –
gen, Massnahmen und Eingriffe entscheiden.
Dabei geht der Gesetzgeber davon aus, dass
die Elter n im ( angenommenen ) Sinn und Inte –
resse des Kindes handeln und sein Bestes,
nämlich das bestmögliche Wohl des Kindes
anstreben. Es wird angenommen, dass sich
Eltern, wie bei gesundheitlichen Problemen,
die sie selbst betreffen, bei diesem Entschei –
dungsprozess von medizinischen Fachperso –
nen beraten lassen.
Eine «neue» Form von Kindsmisshand –
lung: Die Verweigerung von schulmedizi –
nischen Therapien durch die Eltern
Ulrich Lips, Zürich
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
nehmen Eltern ihre diesbezügliche Verantwor-
tung adäquat wahr. Zusammen mit Arzt/Ärz –
tin bestimmen sie den einzuschlagenden
medizinischen Weg für ihr Kind. Dieser Pro –
zess wird «shared decision making»
1 genannt
und unterscheidet sich fundamental vom
früher üblichen paternalistischen System, in
dem der Arzt weitgehend bestimmte, wie
vor zugehen is t . Das K ind w ir d in den Ent schei –
dungsprozes s mit einb ezogen, soweit es da zu
in der Lage ist und dies für sein Wohl ange –
messen erscheint.
Selten kommt es vor, dass Eltern anerkannte
schulmedizinische Therapien bei klar diagnos –
tizierten Krankheiten ihres Kindes ablehnen.
Dieses Verhalten fällt unter die Kindsmiss –
handlungskategorie «Vernachlässigung» und
ist somit keine wirklich neue Form der Kinds –
misshandlung. Die Zahl dieser Situationen hat
in den letzten Jahren aber stark zugenommen.
An einer grossen Kinderklinik hat man heute
mit einem bis zwei schwerwiegenden Fällen
dieser Art zu tun, noch vor 10 Jahren war es
ein Fall in mehreren Jahren. Publizierte Zah –
len dazu gibt es nicht.
Beispiele
In der Praxis kommen solche Situationen
häufig vor. Am bekanntesten ist wohl die
Impfverweigerung, aber auch das verfrühte
Absetzen oder gar nicht Anwenden verordne –
ter Medikamente (z.B. Antibiotika) ist häufig.
Ob das Kindeswohl dabei wirklich gefährdet
ist, muss im Einzelfall beurteilt werden. Nur
die eindeutige und beweisbare Gefährdung
des Kindeswohls bietet die Grundlage für die
Einschaltung der Behörden (KESB). Im Falle
von schwerer atopischer Dermatitis, die nicht
bessert, weil die Eltern keine cortisonhaltigen
Präparate anwenden wollen, ist beispielswei –
se diese Kindeswohlgefährdung, im Sinne ei –
ner beeinträchtigten Lebensqualität, gegeben
(Juckreiz, Schlafstörung, soziale Ausgrenzung,
Gedeihstörung etc.) und die Einschaltung der
KESB als ultima ratio möglich – immer unter
der Voraussetzung, dass die Eltern gut infor –
miert wurden und eine Alternativtherapie nicht existiert oder sich als nicht wirksam
erwiesen hat.
Die Spitze des Eisbergs stellen Situationen
dar, in denen Kinder sterben, weil ihre Eltern
schulmedizinische Therapien ablehnen. Vier
konkrete Beispiele aus den letzten wenigen
Jahren mögen dies illustrieren:
Olivia
Die 2008 geborene Olivia erkrankte im März
2010 an Leukämie. In der Folge wurde sie im
Kinderspital A chemotherapeutisch behan
–
delt. Die Eltern brachen die Behandlung nach
9 Monaten ab. Die Kinderschutzgruppe des
Kinderspitals A erstattete bei der Vormund –
schaftsbehörde der Wohngemeinde von Olivia
eine Gefährdungsmeldung. Diese Laienbehör –
de er g r if f keine weiter en Mas snahmen, da sie
dem Argument der Mutter von Olivia, von
Beruf Ärztin, Glauben schenkte, die sagte, das
aktuelle Blutbild von Olivia (vom Dorfarzt an –
gefertigt) sei normal und deshalb brauche es
keine Therapie mehr. Ende 2010 erlitt Olivia
ein Rezidiv, wor auf sich die Elter n ans K inder –
spital B wandten. Dort wurde dringendst eine
Therapie empfohlen. Diese lehnten die Eltern
ab, weshalb die Kinderschutzgruppe des Kin –
derspitals B ihrerseits eine Gefährdungsmel –
dung bei der früher bereits involvierten Vor –
mundschaftsbehörde erstattete. Diese
beschloss wiederum, keine Massnahmen zu
treffen. Gegen diesen Entscheid rekurrierte
die Kinderschutzgruppe des Kinderspitals B
bei der vorgesetzten Stelle der Vormund –
schaftsbehörde. Ein zeitraubender Rechts –
handel ging los, da die Kinderschutzgruppe
des Kinderspitals B als nicht rekursberechtigt
bezeichnet wurde. Nach 6 Monaten stellte die
nochmals vorgesetzte Instanz fest, dass der
Rekurs sehr wohl rechtens sei und verfolgt
werden müsse. Inzwischen versuchte die
Kinderklinik immer wieder, noch während des
laufenden Rechtsstreites, die Eltern zu errei –
chen, was nicht gelang. Diese hatten nämlich
Olivia, der es sehr schlecht ging, in verschie –
dene alternativ-medizinische Kliniken in Süd –
deutschland gebracht. Von einer dieser Kli –
niken wurde Olivia schliesslich notfallmässig
und in extremis in die regionale Universitäts-
K inder klinik eingew iesen und von dor t w ie der –
um in die Kinderklinik B , wo Olivia nach weni –
gen Tagen an einer Pilzsepsis verstarb.
Im zusammenfassenden Bericht der obersten
juristischen Instanz des Wohnsitzkantons von
Olivia wurde sowohl das Fehlverhalten ver –
schiedener Stellen als auch die gegebene
Berechtigung der Ärzte zur Wahrung der Inte –
ressen des Kindes festgehalten.
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D er lakonische Schlus s s s at z des f as t 10 0 – sei-
tigen juristischen Berichtes lautet: «Nachdem
das kleine Kind verstorben ist, sind sowohl
das Berufungsverfahren als auch das Mass –
nahmeverfahren gegenstandslos geworden.»
Mbongo Szenario 1
Mbongo ist ein 5 -jähriger, schwarzhäutiger
Knabe, dessen Eltern aus der Republik Kongo
stammen. Die Familie ist seit 6 Monaten in
der Schweiz. Bei Mbongo ist eine compound-
Hämoglobinopathie bekannt, d.h. er ist dop –
pelt heterozygot für Sichelzellanämie und
Beta-Thalassämie.
Mbongo wird von den Eltern vorgestellt, weil
er seit einiger Zeit vermehrt müde und
schlapp is t und kaum mehr her umgehen mag.
Die Untersuchung ergibt neben dem beschrie –
benen Zustand von Adynamie sehr blasse
Schleimhäute und ein 2/6-Systolikum, aber
keine Organomegalien. Das Hämoglobin be –
trägt 28 g/l, das MCV 20 fl.
Die vorgeschlagene EC-Transfusion wird von
den Eltern abgelehnt, da sie Zeugen Jehovas
sind. Mehrere Aufklärungsgespräche, auch
mit Dolmetscher und Vertretern der Zeugen
Jehovas ändern nichts am Entscheid der El –
tern.
Die Ärzte erstatten eine Gefährdungsmeldung
an die zuständige Behörde und beantragen
die Einschränkung der elterlichen Sorge be –
züglich der hämatologischen Problematik und
den behördlich angeordneten Aufenthalt des
Knaben in der Kinderklinik für die Dauer der
EC-Transfusion. Die Eltern werden über dieses
Vorgehen informiert. Noch gleichentags hört
die Behörde die Eltern an und entscheidet im
Sinne der Ärzte. Die Eltern bringen Mbongo
ins Spital, die Transfusion wird durchgeführt
und Mbongo wird beschwerdefrei entlassen.
Das Hämoglobin beträgt 90 g/l.
Szenario 2
Mbongo wird von der Ambulanz in die Notfall –
station der Kinderklinik gebracht. Nachdem
er schon einige Tage erkältet war, aber doch
immer noch die Schule besuchte, war er am
Morgen in der Schule «wie weg» gewesen,
ganz blass und atmete sehr mühsam. Die
Lehrperson alarmierte sofort die Ambulanz.
Auf der Notfallstation ist Mbongo schwer
dyspnoisch, die Sauerstoffsättigung beträgt
b ei Lu f t atmung 75 % . Er ist somnolent und hat
39,8 Grad Fieber. Die Lungenauskultation er –
gibt rechtsseitig Rasselgeräusche, der Klopf –
schall über der ganzen rechten Lunge ist ge –
dämpft. Das Röntgenbild zeigt eine ausgedehnte Pleuropneumonie rechts, das Hb
43 g/l, Lc 35,6 G/l, CRP 234 mg/l.
Nach Abnahme einer Blutkultur wird sofort
mit der intravenösen Gabe von Antibiotika
b egonnen, B lut zur Tes tung abgenommen und
Sauerstoff über eine Maske zugeführt. Die
Elter n sind an der A r b eit und telefonisch nicht
erreichbar. Nach Eintreffen des Blutes wird
dieses transfundiert. Gleichzeitig mit den El
–
tern, die einige Stunden später erreichbar
sind, wird die Behörde darüber informiert,
dass bei Mbongo ohne Einwilligung seiner
Rechtsvertreter ein medizinischer Eingriff
vorgenommen werden musste, um sein Leben
zu retten.
Levin
Der 12-jährige Levin ist an einer akuten lym –
phatischen Leukämie erkrankt und zwar an
einer Form, die in seinem Alter und in der
aktuellen Konstellation eine Heilungschance
von üb er 90 % hat . Die Elter n sind geschie den,
der Vater von Levin lebt mit einer neuen Fa –
milie zusammen, Levin wohnt bei der Mutter,
die das Sorgerecht hat. Für die Eröffnung der
Diagnose und die Erklärung der nun anstehen –
den Therapie werden beide Eltern eingeladen.
Beide sind mit der vorgeschlagenen Therapie
einverstanden und unterzeichnen das Studi –
enprotokoll. Die Therapie beginnt und verläuft
sehr gut, ohne wesentliche Nebenwirkungen.
Lev in kommt r asch in Remis sion. D er Kont ak t
mit dem K nab en und seiner Mut ter is t f r eund –
lich-problemlos. Nach 4 Monaten fragt die
Mutter, ob die einen Chemotherapieblock
beendende intrathekale Zytostatikagabe nicht
weggelassen werden könne. Einen fassbaren
Grund für diese Idee kann sie nicht angeben,
sie findet die Lumbalpunktion «einfach so in –
vasiv». Das Ärzteteam gibt dem Begehren
nach. Kurz danach sagt die Mutter, sie wolle
den nächsten Chemotherapieblock einige
Wochen verschieben, da sie mit Levin in die
USA reisen wolle. Sie sei zur Überzeugung
gelangt, die Leukämie sei der Ausdruck eines
seelischen Geschehens, für dessen Heilung
ihr eine Spezialistin in den USA empfohlen
worden sei. Wiederum macht das Team mit,
mit der Auflage, nach der Rückkehr aus den
USA Levin sofort vorzustellen.
Das geschieht auch : Lev in hat ein Rezidi v und
die Ärzte müssen den Knaben und seine El –
tern darüber informieren, dass die Heilungs –
chance nun deutlich tiefer geworden ist, aber
immer noch etwa 80 % beträgt. Daraufhin
lehnt die Mutter jede weitere Therapie ab.
Allein nach seiner Meinung befragt, stimmt
Levin dieser Haltung zu. Der Vater von Levin möchte unbedingt, dass der Knabe weiter
behandelt wird.
Da die Aussichten auf Heilung nach wie vor
gross sind, macht die Kinderschutzgruppe der
Klinik eine Gefährdungsmeldung an die zu
–
ständige Behörde. Diese, eine Laienbehörde
in einer Kleinstadt, fühlt sich nicht berechtigt,
ins Recht der sorgeberechtigten Mutter ein –
zugreifen. Die Kinderschutzgruppe empfiehlt
dem Vater, notfallmässig das Sorgerecht für
Levin zu beantragen (worauf grosse Chancen
bestünden), er kann sich aber dafür nicht
ent schlies sen. Lev in stir bt in der K linik. In der
Todesanzeige wird geschrieben: «Er ist seinen
Weg gegangen.»
Manuel
Manuel ist der Sohn portugiesischer Eltern.
Zwei Wochen nach der Geburt wurde er we –
gen Apathie und Erbrechen notfallmässig
hospitalisiert und man erkannte, dass der
Grund eine Salzverlustkrise bei adrenogenita –
lem Syndrom war (21-Hydroxylasemangel).
Die Therapie mit einem Mineralo – und einem
Glucocorticoid wurde eingeleitet, worauf es
Manuel schlagartig besser ging. Die Eltern
wurden über das Management bei Fieber, In –
fekten, körperlicher Belastung, Stress etc.
instruiert und in regelmässigen Kontrollen
zeig te sich, dass sie kompetent und zuverläs –
sig waren. Die Kontrollen fanden deshalb nur
noch alle 3 Monate statt.
A ls Manuel 4 Jahr e alt war, w ur de das B ehand –
lungsteam informiert, dass Manuel in einer
anderen Kinderklinik verstorben war. Die El –
tern hatten in den Ferien in Portugal die The –
r apie abgeset z t , «da es Manuel ja so gut ging ».
Auf der Rückreise im Auto von Portugal de –
kompensierte die Stoffwechselsituation, wor –
auf die Eltern in die nächste Kinderklinik
fuhren – zu spät.
Obwohl vom Gesetz her absolut klar geregelt
ist, wie in Fällen vorzugehen ist, in denen El –
tern die Gesundheit ihrer Kinder in grober
Weise missachten, zeigen die Beispiele in
bedrückender Weise, dass Theorie und Praxis
oft weit auseinander klaffen.
Problemkreise
1. Mangelnde Aufklärung durch
die Ärzte
Ä r z te sind f as t immer der M einung , sie hät ten
ihre Patienten resp. deren Eltern/Rechtsver –
treter adäquat aufgeklärt. Dabei lassen sie
ausser Acht, dass die Regel gilt: «Gedacht
heisst nicht immer gesagt, gesagt heisst nicht
immer richtig gehört, gehört heisst nicht im –
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mer richtig verstanden, verstanden heisst
nicht immer einverstanden, einverstanden
heisst nicht immer angewendet, angewendet
heisst noch lange nicht beibehalten»
2. Ich
habe Eltern erlebt, die nach mehreren Chemo –
therapieblöcken gesagt haben, man habe ih –
nen gar nie richtig erklärt, dass ihr Kind eine
Leukämie habe. Das klingt unglaublich, zeigt
ab er, w ie wahr die obige Regel is t . Das s Elter n
eine das Kind belastende Therapie hinterfra –
gen, wenn sie nicht wirklich verstehen, worum
es geht, ist ihnen nicht anzulasten – im Ge –
genteil! Und wer hat nicht schon selber daran
gedacht, ein Medikament abzusetzen, da das
Befinden jetzt ja wieder gut sei?
2. Verhaltensmotivation der Eltern
Die Gründe, weshalb sich Eltern gegen eine
schulmedizinische Therapie für ihr Kind aus –
sprechen, sind vielfältig und oft im Rahmen
unseres Weltbildes nicht wirklich verstehbar.
Allen Verhaltensmotivationen gemeinsam ist,
dass Eltern ihre Kinder lieben, um ihr Wohl
besorgt sind und sie nicht mit böser Absicht
schädigen wollen. Das macht es umso schwie –
riger, ihr Verhalten zu verstehen.
Klar begründet ist das Verhalten der Eltern,
wenn religiöse oder ethnische Normen Ihnen
es so vorschreiben. Von Fall zu Fall muss al –
lerdings sichergestellt werden, dass hochran –
gige Exponenten der jeweiligen Glaubens-
oder Volksgemeinschaft ein derart absolutes
Verbot stützen. Man ist gelegentlich über –
rascht, dass Eltern Vorschriften sehr rigide
verstehen und glauben einhalten zu müssen,
während übergeordnete Koryphäen einen
gewissen Spielraum oft erlauben. Es lohnt
sich Eltern aufzufordern, hochrangige Ver –
trauenspersonen («Gurus») an ein Gespräch
mitzunehmen. Nicht selten findet sich danach
eine Lösung, zu der die Eltern stehen können
und die sie entlastet.
In den meisten Fällen lehnen Eltern schulme –
dizinische Therapien aber aus Gründen ab, die
nicht nachvollziehbar sind und nicht auf be –
kannten religiösen oder ethnischen Normen
basieren. Diese Art der Haltung bezeichnet
man landläufig oft als «esoterisch». Bei Wiki –
pedia wird dieses Wort folgendermassen
umschrieben: «Etwas Irrationales, Rätselhaf –
tes bis Nebulöses, das nur von Eingeweihten
zu verstehen ist und dessen praktischer
Nutzen eher theoretischer Natur ist». Diese
Umschreibung wiederspiegelt das Gefühl, das
man im Kontakt mit solchen Eltern hat, sehr
gut : Je des A r gument f ühr t ins Leer e, nicht s ist wirklich fassbar, Diskussionen sind endlos
und bleiben ohne konkretes Resultat.
3. «Feilschen»
Eine Mal- Compliance beginnt oft damit, dass
Eltern eine Therapie ihres Kindes an sich
mitmachen, einzelne Teile davon aber weglas
–
sen oder verschieben möchten. Objektiv
medizinisch gesehen sind solche kleine Modi –
fikationen oft unproblematisch; manchmal
müssen Therapien ja auch wegen Infekten
oder Zytopenien abgeändert werden. Wenn
der Wunsch ab er von den Elter n kommt , mus s
das hellhörig machen und es lohnt sich, dann
nochmals mit beiden Elternteilen sorgfältig
das Gesamtkonzept zu besprechen und den
Grund, weshalb eine Modifikation gewünscht
wird, zu hinterfragen. Oft habe ich erlebt,
dass Teams im Moment der manifesten Mal-
Compliance sich daran erinnert haben, dass
schon früher nicht nachvollziehbare Verände –
rungswünsche geäussert wurden, die man
nicht genügend ernst genommen und hinter –
fragt hat. Man wird sich dann – zu spät – be –
wusst, dass es «schon lange gegärt» hat und
man die Tragweite davon nicht erkannt hat.
4. Rechtsunsicherheiten
Situationen wie die oben beschriebenen sind
für Juristen und Behörden höchst ungewöhn –
lich und sie fühlen sich dabei sehr unsicher:
Ein Rückgriff auf bereits Erlebtes, einschlägi –
ge Urteile oder Lehrbücher sind kaum mög –
lich. Eingriffe in die elterliche Autonomie sind
an sich immer heikel und müssen gut abge –
stützt sein. Wenn sich Juristen auf eine
Fremdmeinung (die der Ärzte) abstützen
müssen und sich nicht selber ein Urteil bilden
können, zögern sie – was durchaus verständ –
lich ist, für das Kind aber oft deletäre Folgen
hat. Auch die Ausflucht, nicht zuständig zu
sein, liegt nahe. So geht Zeit verloren, die
Krankheit schreitet voran und oft ist es dann
zu spät.
5. Punktuelle Eingriffe versus lang
dauernde Therapien
Es ist viel einfacher und macht mehr Sinn, für
einen kurz dauernden Eingriff, nach dem die
Gesundheit des Kindes längerfristig wieder –
her ges tellt is t , eine b ehör dliche Ver f ügung zu
erhalten. Wenn eine Therapie, wie z. B. eine
Chemotherapie oder eine Nierentransplanta –
tion, Jahre dauert und höchste Aufmerksam –
keit und Kooperation der Eltern erfordert,
mus s sehr sor g f ältig abgewogen wer den, was
mit der Einschaltung der Behörden erreicht
werden soll. Um dem Kind bei strikter Weige -rung der Eltern eine mehrere Jahre dauernde
Therapie zukommen zu lassen, müsste es
wohl fremdplatziert werden, ein Eingriff, der
seinerseits mit dem Kindeswohl kaum verein
–
bar ist.
6. Urteilsfähigkeit des Kindes?
Kinder sind zwar im Sinne des Gesetzes un –
mündig, aber nicht grundsätzlich urteilsunfä –
hig. Die Urteilsfähigkeit eines Individuums ist
nicht absolut und bemisst sich nicht am Alter,
sonder n b ezieht sich g r undsät zlich nur au f die
vorliegende Problemstellung. Ein banales
Beispiel mag das illustrieren: Wenn die Mutter
ihr e 4 – jähr ige To chter Sar a f r ag t , ob sie heute
das blaue oder das rote T-Shirt anziehen
möchte, ist Sara für diese Fragestellung wohl
ur teils f ähig : Sie ver s teht , wor um es geht . Das
ist das eine Element der Urteilsfähigkeit: Das
Individuum muss kognitiv in der Lage sein, das
Problem zu verstehen. Das zweite Element
besteht darin, dass die betroffene Person die
Auswirkungen ihres Entscheides beurteilen
kann. Ein zweijähriges Kind zu fragen, ob es
geimpft werden will, macht keinen Sinn. Es
versteht zwar, dass Impfen schmerzt, und
lehnt die Impfung deshalb ab, aber es kann
nicht abschätzen, welche Folgen das Fehlen
der entsprechenden Immunität haben kann.
Das dritte Element ist die Fähigkeit zur unbe –
einflussten Meinungsbildung. Und hier liegt
bei Kindern und Jugendlichen das Hauptprob –
lem: Der 12-jährige Levin aus dem obigen
B eis piel er f üllt wohl die er s ten b eiden Elem en –
te der Ur teils f ähigkeit ; es is t ab er in hö chs tem
Mass fraglich, ob er sich wirklich gegen die
Meinung seiner Mutter, also unbeeinflusst,
entscheiden kann.
Umgang mit Situationen von
Therapieverweigerung
Für das Handling solcher Situationen emp –
fiehlt es sich, die folgenden Punkte zu beach –
ten:
1. Die Diagnose muss so präzis wie möglich
gestellt werden, denn nur so ist eine pro –
gnostische Aussage möglich.
2. Es muss sichergestellt und gut dokumen –
tiert sein, dass die Aufklärung beider El –
tern mehrfach und adäquat erfolgt ist.
3. Es müssen immer beide Eltern involviert
werden (gilt auch für geschiedene und
nicht verheiratete Paare).
4. D er Haupt fokus im Kont ak t mit den Elter n
liegt auf dem Verstehen ihrer Haltung,
nicht auf deren Bekämpfung.
5. Eltern sollen ermuntert werden, die Auto –
ritäts- und/oder Vertrauenspersonen, die
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Ihre Haltung prägen, zu Gesprächen mit-
zunehmen.
6. Vor der Konf r ont ation mit den Elter n mus s
das Behandlungsteam – inkl. aller poten –
tiell involvierter Spezialisten – eine ein –
heitliche Haltung erarbeiten. Das braucht
oft lange Zeit und gelingt manchmal nur,
wenn Externe zugezogen werden (ethi –
sche Fallkonferenz o.ä.). Wenn das Team
in Gegenwart der Eltern oder der Behör –
den Uneinigkeit zeigt, ist die Situation
verloren.
7. Allenfalls ist die Klinikdirektion einzube –
ziehen/zu informieren.
8. Die anonyme Konsultation mit Behörden
(KESB, Staatsanwaltschaft u.a.) kann hilf –
reich sein.
9. Das Behandlungsteam muss regelmässig
über den Stand der Dinge informiert wer –
den.
10. Nach Abschluss eines Falles braucht es
immer ein Debriefing der Gruppe. Einzel –
ne, besonders exponierte Personen benö –
tigen unter Umständen eine Einzelsuper –
vision oder gar eine kurzdauernde
Traume- oder Psychotherapie.
Schlussfolgerung
Wenn eine etablierte, Erfolg versprechende
Therapie von Eltern verweigert wird, liegt
möglicherweise eine Gefährdung des Kindes –
wohles vor. Medizinische Teams müssen dann
ohne Verzögerung die Situation prüfen und
alles unternehmen, um diese Kindeswohlge –
fährdung abzuwenden. Wenn wiederholte
Gespräche mit den Eltern keinen Konsens
ergeben, muss die Einschaltung der Kindes-
und Erwachsenenschutzbehörde erwogen
werden. Der Wille des urteilsfähigen Kindes
ist immer zu berücksichtigen.
Literatur
1) Streuli, J.C. und Bergsträsser E., Shared Desicion
Making in der Pädiatrie. Paediatrica, 2015. 26(4)
2) Konrad Lorenz, österreichischer Verhaltensfor –
scher (1903 – 1989)
Korrespondenzadresse
ulrich.lips @ bluewin.ch
Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine
anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit die –
sem Beitrag deklariert.
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Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
KD Dr. med. Ulrich Lips , ehemaliger Leiter Kinderschutzgruppe und Opferberatungsstelle, Universitäts-Kinderspital Zürich Andreas Nydegger