Die Urolithiasis ist bei Kindern verglichen mit den Adulten eine seltene Erkrankung und wird deshalb oft direkt beim Spezialisten abgeklärt. Erste diagnostische Schritte können auch in der Praxis eingeleitet werden. Wichtig ist bei Urolithiasis bei Kindern und Jugendlichen, an eine mögliche metabolische, infektiöse oder anatomische Prädisposition bezüglich Steinbildung zu denken. Daher ist die diagnostische Abklärung umfassend. Dennoch bleibt in ca. 25% der Fälle die Ätiologie unklar1-3. Wir berichten über 2 Kinder mit identischer Präsentation, aber sehr unterschiedlicher Ursache und Langzeitprognose.
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Fortbildung Pädiatrie/Nephrologie
Hintergrund
Die Urolithiasis ist bei Kindern verglichen mit
den Adulten eine seltene Er kr ankung und w ir d
deshalb oft direkt beim Spezialisten abge-
klärt. Erste diagnostische Schritte können
auch in der P r a x is eingeleitet wer den. W ichtig
ist bei Urolithiasis bei Kindern und Jugendli-
chen, an eine mögliche metabolische, infekti –
öse oder anatomische Prädisposition bezüg –
lich Steinbildung zu denken. Daher ist die
diagnostische Abklärung umfassend. Den –
noch bleibt in ca. 25% der Fälle die Ätiologie
unklar
1-3. Wir berichten über 2 Kinder mit
identischer Präsentation, aber sehr unter –
schiedlicher Ursache und Langzeitprognose.
Fallbericht
Fall 1
Anamnese und Status
Ein bisher gesunder 4-jähriger Knabe wurde
in die pädiatrisch-nephrologische Spezial –
sprechstunde wegen zweimaliger Episoden
von schmerzloser Makrohämaturie ohne Fie –
ber oder weitere Symptome zugewiesen. Die
gesunden Eltern stammen aus der Schweiz
und sind nicht verwandt. Die Familienanam –
nese ist positiv für Urolithiasis; mütterlicher –
seits Grossvater und Grossonkel, väterlicher –
seits Urgrossvater. Der Knabe ist normoton
bei unauffälligem klinischem Status und nor –
malen Körpermassen (Gewicht und Länge
Urolithiasis im Kindesalter – Erste dia
gnostische Schritte in der Kinder
un
d
Hausarztpraxis*
Florence Barbey 1, Marc Meister 2, Benno Röthlisberger 3, Thomas J. Neuhaus 1
1 Pädiatrie, Kinderspital Luzern, Luzern ; 2 Radiologie, Kinderspital Luzern, Luzern ; 3 Zentrum für Labormedizin, Kantonsspital Aarau
* Article erschienen im SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN – FORUM, 2016; 16 (16): 382-384, reproduziert im Einverständnis von EMH Media.
zwischen 50. und 75. Perzentile). Die Ernäh-
rungsanamnese ergibt keine Hinweise für
übermässigen Kalzium-, Oxalat- oder Natrium –
konsum.
Befunde, Diagnose und Therapie
Erste Differentialdiagnosen wie Urolithiasis,
Glomerulonephritis, Nierenzysten oder Nie –
rentumor werden in Erwägung gezogen; ent –
sprechend erfolgt eine umfassende Abklä –
rung. Laborchemisch zeigen sich Normwerte
f ür
Blutbild, Blutgasanalyse, Elektrolyte (Nat –
rium, Kalium, Kalzium, Chlorid, Magnesium,
P h
osphat), Albumin, CRP, Gerinnung, direkten
Coombs-Test, Nierenfunktion (Kreatinin, Harn –
stoff, Harnsäure), IgA, Haptoglobin, Ferritin,
Komp
lement C3/C4, Autoantikörper (ANA,
a-DNA, ANCA, anti- GBM) und Antistrepto –
lysintiter. Der Urin (Teststreifen und Sediment)
is
t nor mal mit einem sp ezi fischen G ew icht von
1,022; die Urinkultur ist negativ. Auch die
ausführliche chemische Urinanalyse im mor –
gendlichen Spoturin ist normal für Kalzium,
O x
alat, Citrat (jeweils Quotient/Kreatinin),
Aminosäuren, organische Säuren und Purine.
Sonographisch zeigt sich ein Unterpolkonkre –
ment links (Durchmesser 7 mm) ohne Erwei-
terung des Nierenbeckenkelchsystems bei
z w
ei Nieren mit unauffälligem Parenchym.
Bei zweimaliger Makrohämaturie erfolgt eine
extrakorporale Stosswellenlithotripsie (ESWL; Urologie, Luzerner Kantonsspital) mit kompli
–
kationslosem Verlauf und erfolgreichem
Steinabgang über 9 Tage. Die Analyse (Institut
für klinische Chemie, USZ) ergibt einen
Mischstein mit Kalziumoxalat-Monohydrat
(50 %), Kalziumoxalat-Dihydrat (10 %) und Apa –
tit (40 %). Diese Zusammensetzung findet sich
häufig bei positiver Familienanamnese für
Urolithiasis ohne Nachweis einer primär me –
tabolischen Störung. Ohne spezifische Mass –
nahmen ist der Knabe ein Jahr später be-
schwerdefrei mit unauffälligen Ultraschall- und
Laborbefunden.
Fall 2
Anamnese und Status
Ein bisher gesunder zweijähriger Knabe wurde
zugewiesen zur weiteren Abklärung eines
Uretersteins rechts und Pyelonsteins links mit
Makrohämaturie und spontanem Steinabgang
vor drei Monaten. Klinisch zeigte sich ein
afebriler, normotoner Patient mit unauffälliger
klinischer Untersuchung (inkl. Visus und Ge –
hör) und normalen Körpermassen (Gewicht
z w ischen 10. und 25., L änge auf 90. Per zenti –
le). Die Ernährungsanamnese ergibt keine
Hinweise für übermässigen Calcium-, Oxalat-
oder Natriumkonsum. Die Familienanamnese
zeigt, dass die tamilischen Eltern Cousins
ersten Grades sind; zudem hatte der Vater
(41-jährig) bereits dreimalig eine Urolithiasis
erlitten, jedoch ohne weitere Abklärung.
Befunde, Diagnose und Therapie
Die ausführliche Diagnostik ergab folgende
pathologischen Resultate: Hypomagnesiämie
(0,54 mmol/l), Hyperurikämie (332 μmol/l),
er höhtes Par athor mon ( 98 pg/ml ) und Hy p er –
kalziurie (Kalzium/Kreatinin-Quotient 2,94
mol/mol). Die anderen Laborparameter im
Blut (Natrium, Kalium, Chlorid, Phosphat,
Empfohlene Abklärungen bei Urolithiasis im Kindesalter
Blut Blutbild, Blutgasanalyse, Elektrolyte (Natrium, Kalium, Kalzium, Chlorid, Magnesium, Phosphat), Kreatinin, Harnstoff,
Harnsäure, alkalische Phosphatase und Parathormon
Urin Teststreifen, Sediment, Urinkultur
Chemische Urinanalyse: Kalzium, Oxalat, Citrat (jeweils Quotient/Kreatinin), Aminosäuren, organische Säuren, Purine
Analyse primär im morgendlichen Spoturin; Sammelurin z.B. bei Verdacht auf Hyperoxalurie
Bildgebung Sonographie der Nieren und Harnwege
Steinanalyse
Tabelle 1: Empfohlene Abklärungen bei Urolithiasis im Kindesalter
1Prof. ffRTofaff.bin
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Blutgase, Kreatinin, Harnstoff, Albumin) und
Urin (Teststreifen und Sediment; Oxalat, Cit-
rat, Aminosäuren und Purine) waren normal
bei einem spezifischen Gewicht von 1,008.
Der Ultraschall zeigte eine bilaterale, medullä –
re Nephrokalzinose mit kleinsten Konkremen –
ten. Diese Konstellation (Familienanamnese,
Labor und Ultraschall) ergab den Verdacht auf
eine renale Tubulopathie im aufsteigenden
Schenkel der Henleschen Schleife. Die gene –
tische Analyse bestätigte eine homozygote
Mutation im Claudin-16 Gen (c.316T> C;
p.S106P). Diese Mutation wurde zuvor in der
Literatur noch nie beschrieben und wird ge –
mäss Einschätzung von Mutationstaster und
Poly phen -2 w ie auch im Rahmen des homoz y –
goten Vorliegens als pathogen gewertet. Das
betroffene Gen kodiert für ein Protein in den
Tight junctions (Paracellin) der Henleschen
Schleife, welche die parazelluläre Rückresorp-
tion insbesondere von Kalzium und Magnesi –
um regulieren. Eine probatorische Therapie mit Kalium-Citrat wurde eingeleitet. Neun
Monate nach der ersten Urolithiasis-Episode
kam es erneut zum schmerzlosen Spontanab
–
gang. Die Steinanalyse ergab 100 % Kalzium –
oxalat-Dihydrat. Typisch für den renalen Kon –
zentrationsdefekt ist die primäre Polyurie mit
sekundärer Polydipsie. Bei Patienten mit einer
Claudin-16 Mutation besteht keine Möglich –
keit einer ursächlichen Therapie. Es besteht
ein hohes Risiko, dass in der Adoleszenz oder
im frühen Erwachsenenalter ein Nierenversa –
gen mit der Notwendigkeit einer Dialyse, resp.
Nierentransplantation auftritt
4.
Diskussion
Die Urolithiasis ist bei Kindern und Jugendli-
chen im Vergleich zu den Adulten eine seltene
Erkrankung. Wir präsentieren zwei Kleinkin –
der mit identischer Symptomatik, d.h.
schmerzloser Makrohämaturie. Bei beiden
Patienten erfolgte initial eine ausführliche
Diagnostik. Erste Abklärungen wie Anamnese, Blut- und Urinuntersuchungen (Tabelle 1) sind
auch in der Hausarztpraxis möglich. Während
sich beim ersten Patienten eine familiäre
Urolithiasis-Prädisposition ohne Hinweis auf
eine primäre metabolische Störung zeigte,
fand sich beim zweiten Patienten eine spezi-
fische renale Tubulopathie.
Der heftige, kolikartige Flankenschmerz, das
typische Merkmal der Urolithiasis bei Erwach
–
senen, fehlt oft bei jüngeren Kindern. Im Ge –
genteil, der Steinabgang erfolgt oft spontan
und schmerzlos oder die Urolithiasis wird als
Zufallsbefund im Ultraschall diagnostiziert
3.
In über der Hälfte der Kinder findet sich ätio –
logisch eine primär metabolische Ursache;
Harnwegsfehlbildungen mit Urinstase sind für
ca. 10 % , Harnwegsinfektionen für 2% der
Urolithiasis verantwortlich (Tabelle 2)
1,2. Nicht
selten findet sich wie in unserem ersten Fall
keine spezifische metabolische Ursache bei
dennoch positiver Familienanamnese. Die bei
erwachsenen Steinpatienten oft beobachte –
ten Risikofaktoren wie Übergewicht oder
übermässige Kalzium- oder Natriumzufuhr
lassen sich im pädiatrischen Einzelfall selten
nachweisen.
Bei Verdacht auf Urolithiasis ist – auch wegen
der möglichen Differentialdiagnosen – eine
umfassende chemische Analyse mit venöser
Blutentnahme notwendig. Da die venöse Blut –
entnahme in der Praxis bei Kleinkindern oft
ein schwieriges Unterfangen ist, werden
zahlreiche Kinder ins Kinderspital zugewie –
sen. Im Urin erfolgt neben den Standardun –
tersuchungen (Teststreifen, Sediment, Urin –
kultur) die Suche nach lithogenen und
steinhemmenden (Zitrat) Substanzen (Tabelle
3). Dabei ist zu beachten, dass die Normwer –
te alter sabhängig sind. In der Regel er folg t die
Urinanalyse im morgendlichen Spoturin; bei
Unmöglichkeit der Steinanalyse soll die Urin –
analyse mindestens zweimal erfolgen. Eine
24-h Urinsammlung erfolgt nur bei spezieller
Fragestellung, z.B. bei Verdacht auf Hypero –
xalurie. Die Steinanalyse mittels Infrarotspek –
troskopie oder Röntgendiffraktion ermöglicht
oft eine ursächliche Zuordnung.
Die Bildgebung der Nieren und ableitenden
Harnwege erfolgt primär sonographisch mit
der Suche nach Urolithiasis, Nephrokalzinose
oder Fehlbildungen der Nieren und Harnwege
mit/ohne Urinstase. Verfügt der Kinder-/
Hausarzt über entsprechende Erfahrung,
kann eine orientierende Ultraschalluntersu –
chung in der Praxis erfolgen. Kleine Steine
sind sonographisch schwierig zu erfassen,
besonders im Ureter oder bei fehlender Dila –
tation der Harnwege. Eine Doppler-Sonogra –
Tabelle 2: Ätiologie der Urolithiasis (Kinderspital Zürich 1991 – 1999) [1]
Ätiologie
Anzahl Patienten
n = 86 ( ♂ 57, ♀ 29)
metabolisch (gesicherte Diagnose) 28
metabolisch (möglicherweise) 23
infektiös 2
Urinstase bei Harnwegsfehlbildung 10
endemische Nierensteine 0
primäre Blasensteine 0
unbekannt 23
Metabolisch ge netische Ursachen
Erhöhte Urin
Au
sscheidung
Kalzium familiäre Hyperkalziurie
distal renal-tubuläre Azidose
hyperkalziurische Nephropathie mit tubulärer Prote –
inurie (Dent‘s disease)
Hyperkalziurie mit Hypomagnesiämie und Nephrokal –
zinose (Paracellin-Defekt)
Oxalsäure primäre Hyperoxalurie Typ 1, 2, 3
Zystin Zystinurie Typ A, B, AB
Harnsäure Lesch-Nyhan-Syndrom
Glykogenose Typ 1
2,8-Dihydroxyadenin Dihydroxyadeninurie
Xanthin Xanthinurie
Verminderte Urin
Au
sscheidung
Zitrat intestinale Malabsorption
distal renal-tubuläre Azidose
Tabelle 3: Metabolisch-genetische Ursachen der Urolithiasis
Fortbildung Pädiatrie/Nephrologie
1Prof. ffRTofaff.bin
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Fortbildung Pädiatrie/Nephrologie
phie ist oft hilfreich, da sie bei Steinen einen
«Twinkling-Artefakt» erzeugt. Daher soll im-
mer eine (ergänzende) Sonographie durch
einen Kinderradiologen erfolgen.
Bei symptomatischen Patienten mit Schmer –
zen (unspezifische Bauchschmerzen bis zu
typischen Koliken) ist eine stationäre Aufnah –
me zur adäquaten Analgesie (z.B. Metamizol
i.v. und nicht-steroidale Antiphlogistika per
os) notwendig. Zudem muss rasch mittels
Sonographie eine akute Obstruktion gesucht
werden; ausnahmsweise wird auch bei Kin –
dern ein Low-Dose- CT durchgeführt.
Aufgrund der Befundkonstellation – Anamne –
se, klinische Untersuchung, Blut- und Urinre –
sultate, Steinanalyse sowie Bildgebung – kann
bei zahlreichen pädiatrischen Patienten eine
primär metabolische, also genetische Ursa –
che ver mutet werden. W ie beim z weiten Pati –
enten kann dann eine gezielte Genanalyse die
definitive Diagnose und entsprechende Aus –
sagen zur Prognose liefern.
Schlussfolgerungen für die Praxis
Bei (schmerzloser) Makrohämaturie muss im
Kindesalter neben Glomerulonephritis, Zys –
tennieren oder Nierentumor differentialdiag –
nostisch an eine Urolithiasis gedacht werden.
Erste Abklärungen wie Anamnese, Blut- und
Urinuntersuchungen sind auch in der Haus –
arztpraxis möglich. Ergeben sich hierbei pa –
thologische Befunde, ist eine Zuweisung an
den pädiatrischen Spezialisten indiziert. Eine
Bildgebung und möglichst eine Steinanalyse
sind immer angezeigt. In über der Hälfte der
Patienten ergeben sich Hinweise für eine
primär metabolische Ursache.
Literaturverzeichnis
1) Neuhaus TJ. Urolithiasis: Akutbehandlung, Inter –
v entionen und Prävention. Pädiatrie 2013:38-41
2)
va
n‘t Hof f W. Aetiological factors in paediatric
urolithiasis. Nephron Clin Pract 2004; 98:c45-48
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Gi
llespie RS, Stapleton FH. Nephrolithiasis in child –
ren. Pediatrics in Review 2004;25:131-138
4)
We
ber S, Schneider L, Peters M et al. Novel para –
cellin-1 mutations in 25 families with familial hypo –
magnesemia with hypercalciuria and nephrocalci –
nosis. J Am Soc Nephrol 2001;12:1872-1881
Korrespondenz
Prof. Dr. med. Thomas J. Neuhaus
thomas.neuhaus @ luks.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und
keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit
diesem Beitrag deklariert.
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Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Florence Barbey Marc Meister Benno Röthlisberger Prof. Dr. med. Thomas J. Neuhaus , Luzerner Kantonsspital/Kinderspital, Luzern Andreas Nydegger