Obwohl Kunststoffe allgegenwärtig sind in unserem täglichen Leben, sind die Auswirkungen auf die Gesundheit bestimmter Weichmacher, wie Phthalate, Gegenstand wachsender Besorgnis. Die Patienten in den neonatologischen Abteilungen scheinen sowohl sehr exponiert als auch vulnerabel zu sein gegenüber Diethylhexyl-Phthalat (DEHP), das in verschiedensten medizinischen Geräten und Hilfsmitteln vorkommt. Obwohl die Folgen einer solchen Exposition noch ungewiss sind, scheinen vorliegende Daten langfristige Nebenwirkungen, insbesondere auf die reproduktiven Funktionen zu suggerieren und erfordern deshalb ein kritisches Risikomanagement.
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Zusammenfassung
Obwohl Kunststoffe allgegenwärtig sind in
unserem täglichen Leben, sind die Auswir-
kungen auf die Gesundheit bestimmter
Weichmacher, wie Phthalate, Gegenstand
wachsender Besorgnis. Die Patienten in den
neonatologischen Abteilungen scheinen
sowohl sehr exponiert als auch vulnerabel
zu sein gegenüber Diethylhexyl-Phthalat
(DEHP), das in verschiedensten medizinisch
–
en Ge
räten und Hilfsmitteln vorkommt. Ob –
wohl die Folgen einer solchen Exposition
noch ungewiss sind, scheinen vorliegende
Daten langfristige Nebenwirk
ungen,
insbe-
sonder e au f die r epro duk ti ven Funk tionen zu
suggerieren und erfordern deshalb ein kriti –
sches Risikomanagement.
Einführung
Phthalate sind Derivate (Salze und Ester) der
Phthalsäure. Die am weitesten verbreitete
dieser Verbindungen ist Diethylhexyl-Phthalat
(DEHP). Industriell hergestellt in grossen
Mengen, wird es zugemischt zu diversesten
Materialien wie Baustoffen, Textilien, aber
auch Lebensmittelverpackungen, Kosmetika
etc. Aufgrund seiner krebserzeugenden, erb –
gutverändernden und fortpflanzungsgefähr –
denden Eigenschaften wurde DEHP in Europa
und den USA in Kinderspielzeugen und Pro –
dukten der Säuglingspflege verboten. Es ist
je doch immer noch zugelas sen in der Her stel –
lung von medizinischen Geräten und Hilfsmit –
teln, da es insbesondere deren Flexibilität und
Festigkeit er höht dur ch B indung an Poly v iny l –
chlorid (PVC).
Hospitalisierte Neugeborene:
Erhöhte Exposition
DEHP kann leicht in die Umgebung diffundie –
ren und so in Kontakt kommen mit dem Pati-
enten über die Atemwege, sowie auch auf parenteralem, transdermalem oder enteralem
Weg
(Abbildung 1) . Die Migration wird durch
hohe Temperaturen (beispielsweise in Inkuba –
toren), einen alkalischen pH-Wert oder lipo –
phile Lösungen (Medikamente, Nahrungsmit -tel) begünstigt. DEHP findet sich in der Zu
–
sam
mensetzung von vielen plastifizierten
Gegenständen (Tabelle 1) und kann bis zu
40–50
% des
Gesamtgewichtes ausmachen
1).
Die Exposition in neonatologischen Abteilun –
gen ist oft mehrfach, wiederholt und langan-
haltend und, obwohl schwer messbar, über –
steigt jene in der allgemeinen Bevölkerung,
und übertrifft vielleicht sogar die bei Tieren
beschriebenen toxischen Dosen, vor allem bei
bestimmten Verfahren wie kardiopulmonalen
Bypässen oder parenteraler Ernährung mit
Lipiden
2).
Die Belastung durch Phthalate
in der Neonatologie
Céline Fischer Fumeaux, Myriam Bickle Graz, Vincent Muehlethaler, David Palmero,
Corinne Stadelmann, Farhat M’Madi, Jean-François Tolsa 1)
Übersetzung: Antje Horsch und Matthias Roth, Lausanne
Beatmung Endotracheal-Tuben
Masken/Kanülen für CPAP oder Sauerstoffapplikation
Schläuche für CPAP- und Beatmungsgeräte, Sauerstoffgabe, Befeuchtung
Absaugsonden
Masken und Reservoir des Beatmungsbeutels
Intravenös Katheter für peripheren iv-Zugang, zentrale Venenkatheter
und Nabelkatheter
Perfusionsschläche
Verpackungen für Blutderivate
parenterale Ernährung
Medikamente, Infusionen (insbesondere lipophile)
Enteral
Andere Katheter Magensonden, Ernährungssonden
Schläuche für enterale Ernährung
Absaug-und Sammelsysteme von Muttermilch
Urinkatheter
Thoraxdrainage, andere Drainagen
Kontakt Plastiksäcke
Okklusivverbände
Handschuhe
Kabel für Monitoring
Patienten-Identifikationsarmbänder
Ta b e l l e 1: Medizinische Geräte für die Neonatologie, die DEHP enthalten können gemäss Ref. 15 ) , 16 )
Abbildung 1: Die mögliche Exposition gegenüber DEHP Quellen in der Neonatologie (nach 15) , 16) )
Medikamente, Spritzen,
Infusionssysteme
Occlusives Dressing
Zentralvenenkatheter,
parenterale Ernährung Monitoring
Tu b u s ,
Beatmungsschläuche Magensonde,
enterale
Ernährung
Handschuhte
Akustischer
Schutz
Venenkatheter
Inkubator
1) Service de néonatologie, Département médico-
chir urgical de Pédiatrie, CHUV, Lausanne
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1Prof. RTab
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Hospitalisierte Neugeborene:
Erhöhte Anfälligkeit
Zusammen mit den Schwangeren und den
Föten sind Neugeborene und Säuglinge be-
sonders gefährdet, vor allem aus den folgen-
den Gründen:
•
Die S
trukturen für den Stoffwechsel und die
Beseitigung von DEHP und dessen aktiven
Metaboliten erreichen erst im Alter von 3
Monaten volle Reife.
•
Die ex
ponierten Organe befinden sich in
Wachstum und Reifung.
•
Das g
eringe Gewicht erhöht das Verhältnis
der Dosis zum Körpergewicht.
•
Das j
unge A lter er höht die L atenz zeit f ür die
Entfaltung der Symptome und das Risiko
von Wechselwirkungen mit anderen Subs –
tanzen.
Hospitalisierte Neugeborene:
Erhöhte Gefährdung?
Während das Risiko einer akuten Toxizität
gering erscheint, sind es die längerfristigen
Gefahren, die zu befürchten sind. DEHP pas-
siert die Plazentaschranke. Tierstudien haben
gezeigt, dass eine in utero Exposition von DEHP in hohen Dosen mit einer erhöhten
Sterblichkeit und einem erhöhten Risiko für
Geburtsfehler und Schäden des reprodukti
–
ven Systems (Kryptorchismus, Hypospadie,
Hodenkrebs, Dysgenesie) des Föten assozi –
iert ist
3). Beim Menschen wurde in einigen
Fällen eine negative Verknüpfung zwischen
der mütterlichen Exposition und der Dauer
der Schwangerschaft oder des Geburtsge –
wichts beobachtet
4). Nach hoher mütterlicher
Exposition während der Schwangerschaft
wurde eine Verringerung des anogenitalen
Indexes bei neugeborenen Knaben festge –
stellt, was auf eine anti-androgene Wirkung
hinweisen könnte
5). Zudem sind kürzlich Ver-
haltensstörungen im Zusammenhang mit ei –
ner DEHP-Exposition beschrieben worden
6).
Die Folgen einer postnatalen Exposition sind
bisher noch wenig untersucht. Es besteht
grosse Sorge hinsichtlich der langfristigen re
–
pro d
uk ti ven Funk tionen, vor allem – ab er nicht
nur – bei Knaben
7). Ausserdem wurden neu –
rologische Störungen beschrieben bei frühge –
borenen Ratten, deren Diät mit Phthalaten
angereichert wurde
8). Pro-inflammatorische
Effekte, erhöhtes Risiko für bronchopulmona –
le Dysplasie oder nekrotisierende Enterokoli –
tis, Hepatotoxizität, Cholestase, Hautläsionen oder die Entwicklung der Retinopathie wurden
auch schon in Zusammenhang gebracht mit
einer Phthalatexposition
9 ) –12 ) .
Es bleibt jedoch zu beachten, dass das Ni –
veau der Evidenz, welches weitgehend auf
tierexperimentellen Studien und epidemiolo –
gischen Assoziationen beruht, niedrig ist
(Tabelle 2) .
Risikomanagement: Eine kritische
Auseinandersetzung
Obwohl es wünschenswert wäre, die Exposi-
tion gegenüber DEHP in der Neonatologie zu
beschränken, sind die Möglichkeiten hierfür
derzeit begrenzt. Die reglementarischen Rah –
menbedingungen in der Schweiz und in Euro –
pa erfordern die Identifizierung von Geräten
und Utensilien, die DEHP enthalten, durch ein
spezifisches Symbol, während jedoch die
Angabe der Abwesenheit von DEHP freiwillig
ist (Abbildung 2) .
Im Bestreben, Geräte und medizinische
Hilfsmittel, die DEHP enthalten, in der Neo –
natologie am CHUV zu identifizieren, fanden
wir in 27 der 278 (10
%) u
ntersuchten Gegen-
stände die Angabe der Anwesenheit von
DEHP, markiert mittels solcher Symbole
Foetus Daten aus Tierversuchen Daten aus Studien am Menschen
FortpflanzungssystemHodendysgenesie, Hypospadie, Verminderung der
Fertilität (bei beiden Geschlechtern) Abnahme des urogenitalen Indexes
Schwangerschaft Fetaltod
Frühgeburtlichkeit, niedriges Geburtsgewicht
(widersprüchliche Ergebnisse)
Teratogenität Verschiedene angeborene Anomalien
Karzinogenität Nieren-und Leberperoxisomenproliferation (Nagetiere)
neurologische Entwicklung Verhaltensauffälligkeiten
Neugeborenes
Fortpflanzungssystem Männlich: vermindertes Hodengewicht, tubuläre Atrophie
Weiblich: polyzystische Ovarien, anovulatorische Zyklen
Karzinogenität Leberzellkarzinom, Nierentumore (je nach Tierart) unbewiesen
neurologische Entwicklung Veränderungen der Gehirnentwicklung (Ratten)
Entzündungsreaktion Inaktivierung des «peroxisome proliferator-activated
receptor-
γ»
(PPA
R-γ), proinflammatorische Effekte In vitro: Fehlregulierte Reaktionen auf verschiedene
Stressoren (insbesondere oxidativ))
Diskutiert als ätiologischer Faktor der bronchopulmo
–
nalen Dysplasie und der nekrotisierenden Enterokolitis
Andere Verminderte Leber-und Nierenfunktion
Hämatologische Störungen
(Thrombozytenfunktion, Hämolyse)
Metabolische Störungen
(Reduktion von Vitamin E, Zink, Glucosetoleranz)
Pulmonale Effekte
(bronchiale Hyperreaktivität, Lungenödem)
Störung der Netzhautgefässe Leberfunktion (Cholestase, Hepatomegalie)
Dermatitis
Ta b e l l e 2: Potenzielle Risiken, die in der Literatur mit Phthalaten in Verbindung gebracht wurden (siehe Ref 15) , 16) )
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(Abbildung 2). Davon waren 25 Artikel (93 %)
Be standteile mechanischer Beatmungsgerä –
te. Im Gegensatz dazu wurden 25 der unter –
suchten 278 (9
%) Pr
odukte gefunden, die als
DHEP-frei deklariert waren, wovon 15 (60
%)
zu
r enteralen Ernährung benutzt werden.
226 (81
%) A
rtikel wiesen keine Informatio –
nen über den Gehalt von DEHP auf. Zusät zli –
che Informationen zu diesen Produkten
wurden von den betroffenen Herstellern
angefordert.
Obwohl die Verwendung von Geräten ohne
DEHP wünschenswert wäre, ist dieses Bestre –
ben limitiert durch fehlende Verfügbarkeit
oder Fragen der Sicherheit, denn einige dieser
Produkte mit DEHP sind erforderlich in le-
benserhaltenen Prozeduren und ein bewiese –
nermassen gleichwertiger Ersatz ohne DEHP
steht nicht in allen Fällen zur Verfügung
13 ) , 14 ) .
Schlussfolgerung
Trotz des limitierten Standes des aktuellen
Wissens rufen die vorliegenden Assoziationen
zwischen Phthalatbelastung und Gesund –
heitsrisiken, vor allem der Fruchtbarkeit, zur
Vorsicht auf. Fortschritte sind notwendig, um
die Sicherheit der zur Verfügung stehenden
Materialien zu verbessern, um die Kenntnisse
möglicher Auswirkungen auf die Gesundheit
zu erhöhen, und um eine Anpassung der ge –
setzlichen Rahmenbedingungen zu erreichen.
Ein solcher Ansatz ist multidisziplinär und
sollte eine hohe P r ior it ät hab en in der Ne ona –
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Korrespondenzadresse
Dr. Céline J. Fischer Fumeaux
Service de Néonatologie
Département Médico-Chirurgical de Pédiatrie
1011 Lausanne CHUV
celine-julie.fischer@chuv.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unter –
stützung und keine anderen Interessenkon –
flikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag
deklariert.
Abbildung 2: Pik togr amme, die die Anwesenheit ( oben ) oder A bwesenheit ( unten ) von DEHP auf
der Verpackung von Medizinprodukten signalisieren (nach 15) , 16) )
1Prof. ffRTofaff.bai
1Prof. RTab
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr med. Céline J. Fischer Fumeaux , Service de Néonatologie, Département Femme-Mère-Enfant, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne Myriam Bickle Graz Vincent Muehlethaler David Palmero Corinne Stadelmann Farhat M’Madi Jean-François Tolsa Andreas Nydegger