Die Hypotonie ist ein beim Säugling und Kleinkind häufig angetroffenes, unspezifisches Symptom. Sie kann angeboren, erworben oder transitorisch sein und kann bei Krankheiten auftreten, die nicht unbedingt das Nervensytem oder die Muskulatur betreffen. Jeder «kranke» Säugling kann hypoton sein, um welche Krankheit es sich auch immer handle. Es werden hier die hauptsächlichen neurologischen Ursachen einer Hypotonie abgehandelt.
21
Vol. 17 No. 1 2006 F o r t b i l d u n g / F o r m a t i o n c o n t i n u e
Die Hypotonie ist ein beim Säugling und
Kleinkind häufig angetroffenes, unspezi
fisches Symptom. Sie kann angeboren,
erworben oder transitorisch sein und kann
bei Krankheiten auftreten, die nicht unbe
dingt das Nervensytem oder die Muskulatur
betreffen. Jeder «kranke» Säugling kann
hypoton sein, um welche Krankheit es sich
auch immer handle. Es werden hier die
hauptsächlichen neurologischen Ursachen
einer Hypotonie abgehandelt.
Trotz den Fortschritten der Bildgebung und
der molekularen Diagnostik, beruht das
initiale diagnostische Vorgehen beim hy
potonen Säugling grundsätzlich auf einer
detaillierten Anamnese und der klinischen
Untersuchung. Wie dies in der Neurologie
oft der Fall ist, kann die Wiederholung der
klinischen Untersuchung zu verschiedenen
Zeitpunkten sehr informativ sein.
Klassischerweise unterscheiden wir die
Hypotonie zentralen Ursprungs von der
peripheren Hypotonie ( Abb. 1 ). Als zentral
werden Störungen betrachtet , welche das
Gehirn, das Kleinhirn und das Rückenmark
betreffen; sie stellen 66 bis 88% der Hypoto
niefälle des Kleinkindes dar 1). Die Ursachen
einer zentralen Hypotonie sind äusserst
vielfältig und reichen von einer Hirnmissbil
dung oder läsion bis hin zu dysmorphoge
netischen und metabolischen Krankheiten 2).
Es muss in Erinnerung behalten werden,
dass zentralnervöse Krankheiten, welche
sich beim älteren Kind zum klinischen Bild
einer Cerebralparese vom spastischen,
ataktischen oder dyskinetischen Typ entwi
ckeln, sich während der ersten Lebensmo
nate vorübergehend als Hypotonie äussern
können.
Die Hypotonie peripheren Ursprungs wird bei
Pathologien des unteren Motoneurons (spi
nale Muskelatrophie), der peripheren Ner
ven (Neuropathien), der neuromuskulären
Verbindung (myasthenische Syndrome) und
des Muskels (Myopathien) angetroffen 3). Es
können manchmal zentrale und periphere
Strukturen gleichzeitig befallen sein, bei
gewissen Leukodystrophien.
Wichtige anamnestische
Elemente
Beim Aufnehmen der Anamnese wird man
also besonders auf Angaben achten, wel
Der hypotone Säugling
P. Y. Jeannet, Lausanne
Übersetzung: R. Schlaepfer, La Chaux de Fonds
Abbildung 1: Beispiele zentraler und peripherer Störungen
Zentral
Peripher
Zerebrale Störungen
Missbildungen
Metabolische
Krankheiten
Genetische Syndrome
Spinale Atrophien
Myopathien
Kollagenkrankheiten
Motoneurone
Sehne
Muskel
F o r t b i l d u n g / F o r m a t i o n c o n t i n u e
22
Vol. 17 No. 1 2006
che eine zentrale von einer peripheren
Hypotonie zu unterscheiden erlauben. Man
sucht nach Ereignissen, welche während
der Schwangerschaft Hirnläsionen beim
Foetus verursachen konnten (Trauma, müt
terlicher Infekt etc.). Verminderte foetale
Bewegungen, Polyhydramnios, verlängerte
Austreibungsperiode können Zeichen einer
neuromuskulären Krankheit sein. Eine er
schwerte Austreibungsperiode gekoppelt
mit einer Schwäche der Atemmuskulatur
können eine neonatale Asphyxie bewirken
und es kommt nicht selten vor, dass die neo
natale Hypotonie der schlechten Adaptation
zugeschrieben und so die Diagnose einer
neuromuskulären Krankheit verzögert wird.
Beim Säugling weisen verzögerte kognitive
Entwicklung, Eplilepsie, Mikro oder Makro
zephalie auf eine zentrale Schädigung hin.
Isolierte motorische Entwicklungsstörungen
oder Schluckstörungen sprechen für eine
periphere Schädigung. Nicht zu verges
sen ist, dass gewisse, nicht neurologische
Krankheiten (angeborene Kollagenkrank
heiten, Hypothyreose etc.) mit einer Hypo
tonie einhergehen können und eine genaue,
systemorientierte klinische Untersuchung
deshalb unabdingbar ist.
Die Familienanamnese ist selbstverständ
lich von grundlegender Bedeutung, da eine
grosse Zahl von Krakheiten, welche mit
einer Hypotonie einhergehen, genetischen
Ursprungs sind. Andererseits ist die Kennt
nis einer transitorischen, gutartig verlau
fenden Hypotonie bei Geschwistern ein
wichtiges anamnestisches Element, das für
eine Normvariante spricht 4). Letztere bleibt
jedoch eine Ausschlussdiagnose.
Klinische Untersuchung
Definitionsgemäss ist der Tonus der Span
nungszustand des Muskels ohne jegliche
bewusste Kontraktion. Man unterscheidet
im Allgemeinen:
1) Den
Ruhetonus, welchen man durch
Beobachtung der spontanen Haltung
des Kindes beurteilt: Ein hypotoner
Säugling wird seine Extremitäten flach
ausgetreckt auf der Bettoberfläche hal
ten. Die Extension der Hüften gibt den
Beinen eine «Froschstellung».
2) Der
passive Tonus ist der Widerstand
gegen die passive Mobilisierung einer
Extremität um ein Gelenk (z. B. Flexion/
Extension des Ellbogens, des Knies). Er
kann ebenfalls durch «Schütteln» ge
prüft werden: Man schüttelt vorsichtig
Vorderarm oder Bein und beobachtet
das Ausmass der Hand oder Fussbewe
gungen.
3) Der
aktive Tonus ist der Tonus bei Be
wegungen gegen die Schwere. Er wird
durch hochziehen in sitzende Stellung,
halten unter den Achseln und durch die
Ventralsuspension geprüft.
Diese Unterscheidung ist als Wegleitung bei
der Untersuchung, aber nur selten für die
Differentialdiagnose von Nutzen.
Hypotonie, Schwäche und Hyperlaxität (Elas
tizität der Sehnen) sind nicht immer leicht
zu unterscheiden und können gleichzeitig
vorhanden sein ( Abbildung 2 ). Die Hyper
laxität ist gekennzeichnet durch eine er
höhte Bewegungsamplitude um ein Gelenk
(Verminderung des passiven Tonus). Sie
kann bei 4–13% der gesunden Bevölkerung
festgestellt werden und ist bei gewissen
ethnischen Gruppen häufiger, kann aber
Hinweis auf gewisse nicht neurologische
Krankheiten sein 5). Typischerweise mit Mus
kelschwäche kombiniert ist sie bei gewissen
Myopathien (Ullrich’sche Krankheit).
Die Schwäche manifestiert sich beim Säug
ling meistens durch eine Verminderung der
Bewegungen gegen die Schwere oder das
verminderte Zurückziehen einer Extremi
tät infolge eines schmerzhaften Stimulus.
Manchmal treten gleichzeitig Schluck oder
Atemstörungen auf. Beim älteren Kind kann
die Muskelkraft bei der Handhabung etwas
schwerer Gegenstände, beim Übergang aus
der Rückenlage in die sitzende Stellung ohne
Zuhilfenahme der Arme beurteilt werden.
Die orthopädische Untersuchung ist wichtig,
denn Gelenkkontrakturen beim Neugebore
nen sprechen für ein Verminderung der foe
talen Bewegungsamplitude, bedingt durch
eine Schwäche der Muskulatur.
Verstärkte Sehnenreflexe weisen auf eine
zentrale Schädigung hin, Hypo oder Are
flexie eher, aber nicht absolut, auf eine
neuromuskuläre Schädigung. Die Tabelle 1
zählt einige Zeichen und Symptome auf,
welche zentrale von peripheren Läsionen zu
unterscheiden erlauben.
Zusätzliche Abklärungen
Angesichts der ausgedehnten Differential
diagnose des hypotonen Säuglings fällt es
schwer, eine Richtlinie zusammenzufassen;
Vorschläge für Entscheidungsalgorithmen
finden keine einhellige Zustimmung 1). Die in
erster Linie durchzuführenden Abklärungen
werden immer durch die Klinik diktiert,
vermute man nun eine zentrale oder eine
periphere Störung.
Im Falle einer zentralen Störung weden
bildgebende Untersuchungen des Gehirns
erst auf Grund einer genauen Hypothese
der zu suchenden Läsion oder Missbildung
verlangt. Das Vorhandensein einer zentralen
Störung bedeutet nicht unbedingt, dass die
Anomalie sichtbar gemacht werden kann.
Tabelle 1: Einige Zeichen und Symptome, welche bei Hypotonie eine zentrale oder periphere Störung vermuten lassen
Zentrale Störung
Axiale > periphere Hypotonie
Kraft erhalten
Verstärkte (oder normale) Sehnenreflexe
Dysmorphe Zeichen
MakroMikrozephalie
Störungen der Augenmuskulatur
Epilepsie
Allgemeine Entwicklungsverzögerung
Periphere Störung
Axiale und periphere Hypotonie
Schwäche oder Ermüdbarkeit der Muskulatur
Abgeschwächte (oder normale) Sehnenreflexe
Muskelhypotrophie
Neonatale Ernährungs und Atem Schwierigkeiten
Normale kognitive Entwicklung
Abbildung 2: Hypotonie, Muskelschwäche und Sehnenhyperlaxität sind nicht im – mer leicht zu Unterscheiden und können gleichzeitig vorkommen
Hypotonie Muskel-
schwäche
Hyperlaxität
23
Vol. 17 No. 1 2006 F o r t b i l d u n g / F o r m a t i o n c o n t i n u e
Bei gewissen, augenfälligen klinischen Bil
dern ist es sinnvoll, direkt zu molekularge
netischen (z. B. PraderWilli Syndrom) oder
metabolischen Untersuchungen zu schrei
ten. Das EEG kann, auch in Abwesenheit
von Krämpfen, hilfreich sein, da gewisse
Befunde auf eine genetische oder metabo
lische Ursache hinweisen können.
Die Wahl der bei Verdacht auf eine periphere
Störung durchzuführenden Abklärungen ist
nicht einfacher. Bei Verdacht auf eine Myo
pathie wird die Kreatinkinase bestimmt,
welche jedoch bei den schon im Säuglings
alter sichtbaren Muskelkrankheiten nur
selten pathologisch ist. Anders gesagt,
normale Werte schliessen eine Muskel
krankheit nicht aus. Bei einer kürzlich aufge
tretenen Hypotonie bei einem Säugling mit
Muskelschwäche und Areflexie suchen wir
durch direkte Molekularanalyse des Gens
SMN nach einer Werdnig Hoffmann’schen
Krankheit (Spinale Atrophie vom Typ 1). Die
Untersuchung der Nervenleitgeschwindig
keit ist beim Kleinkind technisch schwierig
und auch nur selten entscheidend (z. B. bei
angeborenen Neuropathien). Die Muskel
biopsie ist die Untersuchung der Wahl bei
Verdacht auf eine Myopathie; die diagnos
tischen Fortschritte in diesem Bereich sind
beachtlich und die Histologie erlaubt es
häufig, die molekulargenetischen Analysen
zu lenken.
Nicht selten wird trotz ausführlicher Abklä
rungen keine Ursache gefunden; manchmal
erlaubt es der Verlauf, eine Diagnose zu
stellen.
Bei einer leichten Hypotonie, in Verbin
dung mit einem leichten, ausschliesslich
motorischen Entwicklungsrückstand, kann
eine abwartende Haltung während einiger
Monate gerechtfertigt sein. Eine neuropäd
iatrische Untersuchung ist bei anhaltenden
oder beim Auftreten zusätzlicher neurolo
gischer Symptome angezeigt.
Und die gutartige Hypotonie
des Säuglings?
Diese während der 50er Jahre beschrie
bene Entität wird je länger je mehr in Frage
gestellt. Gewisse Autoren verneinen deren
Existenz, in der Meinung, dass diese Diagno
se allzu häufig bei Patienten gestellt wurde,
welche an leichten, nicht erkannten ange
borenen Muskelerkrankungen litten 6). In der
Praxis trifft man jedoch Patienten an, welche
eine manchmal schwere Hypotonie, oft in
Verbindung mit einer isolierten motorischen
Entwicklungsrverzögerung aufweisen und
eine günstige Entwicklung zeigen, ohne
dass, trotz breit angelegten Abklärungen,
eine ätiologische Diagnose gestellt werden
konnte. Man kann versucht sein, retro
spektiv und per exclusionem die Diagnose
benigne Hypotonie des Säuglings anzuneh
men. Die Problematik dieser umstrittenen
Entität wird manchmal umgangen, ohne
sie zu lösen, indem neue Bezeichnungen
wie «Kongenitale Hypotonie mit günstiger
Entwicklung» geschaffen werden 7).
Es gibt wenig Studien zum Werdegang die
ser Kinder. Gewisse Studien stellen einen
Zusammenhang zur ligamentären familiären
Hyperlaxität oder zu einer positiven Famili
enanamnese für die angeborene Hypotonie
her 7).
Schlussfolgerung
Die Hypotonie des Säuglings ist ein häufiges
Symptom und tritt bei sehr unterschied
lichen zentralen oder neuromuskulären
Krankheitsbildern auf. Die Klinik bestimmt,
ob und welche Zusatzuntersuchungen
durchgeführt werden sollen. Eine abwar
tende Haltung kann gerechtfertigt sein bei
leichter Hypotonie in Verbindung mit einem
leichten, ausschliesslich motorischen Ent
wicklungsrückstand.
Referenzen1) Paro Panjan D, Neubauer D. Congenital hypotonia: is there an algorithm? J Child Neurol 2004 Jun; 19(6): 439–42.
2) Prasad AN, Prasad C. The floppy infant: contribution
of genetic and metabolic disorders. Brain Dev. 2003 Oct; 25(7): 457–76.
3) Johnston HM. The floppy weak infant revisited. Brain
Dev. 2003 Apr; 25(3): 155–8.
4) Deonna T. Variations dans les premiers stades
du développement moteur. Méd et Hyg 1986; 44: 2861–7.
5) Everman DB, Robin NH. Hypermobility syndrome.
Pediatr Rev. 1998 Apr; 19(4): 111–7.
6) Thompson CE. Benign congenital hypotonia is not a
diagnosis. Dev Med Child Neurol. 2002 Apr; 44(4): 283–4.
Korrespondenzadresse:
Dr. P. Y. Jeannet
Médecin associé, MER
Unité de Neuropédiatrie
CHUV
1011 Lausanne
pierre yves.jeannet@chuv.ch
Weitere Informationen
Übersetzer:
Rudolf Schläpfer
Autoren/Autorinnen
Dr. med. P. Y. Jeannet , MER Unité de Neuropédiatrie CHUV, Lausanne