Krebserkrankungen im Kindesalter sind mit 1% aller malignen Erkrankungen in der Schweiz zwar selten, stellen jedoch nach unfallbedingten Todesfällen die zweithäufigste Todesursache dar. Eine der Besonderheiten der pädiatrischen Onkologie ist die Zusammenarbeit im Rahmen von internationalen Multizenterstudien. Diese Studien ermöglichen die umfassende Evaluation von gezielten, tumorspezifischen Therapiestrategien. Resultate können so in relativ kurzer Zeit gesammelt und ausgewertet werden. Dieser Ansatz war in den letzten Jahrzehnten von Erfolg gekrönt und hat es erlaubt, die Prognose der meisten pädiatrischen Neoplasien deutlich zu verbessern. Die Mehrheit der aktuellen klinischen Studien bestehen zusätzlich zum therapeutischen auch aus einem biologischen Arm.
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Zusammenfassung
Krebserkrankungen im Kindesalter sind mit 1%
aller malignen Erkrankungen in der Schweiz
zwar selten, stellen jedoch nach unfallbe-
dingten Todesfällen die zweithäufigste To-
desursache dar. Eine der Besonderheiten der
pädiatrischen Onkologie ist die Zusammen-
arbeit im Rahmen von internationalen Multi-
zenterstudien. Diese Studien ermöglichen die umfassende Evaluation von gezielten, tumor-
spezifischen Therapiestrategien. Resultate
können so in relativ kurzer Zeit gesammelt
und ausgewertet werden. Dieser Ansatz war
in den letzten Jahrzehnten von Erfolg gekrönt
und hat es erlaubt, die Prognose der meisten
pädiatrischen Neoplasien deutlich zu verbes-
sern. Die Mehrheit der aktuellen klinischen
Studien bestehen zusätzlich zum therapeu-tischen auch aus einem biologischen Arm. Für
jeden registrierten Studienpatienten wird Tu-
mormaterial in das jeweilige Referenzlabor zur
ausführlichen biologischen und molekularge-
netischen Untersuchung geschickt. Da es sich
bei Malignomen um genetische Erkrankungen
handelt, ist es von primordialer Bedeutung,
die grundlegenden pathogenetischen Mecha-
nismen zu kennen, um auf dieser Basis noch
spezifischere Therapien für die jeweiligen Er-
krankungstypen zu entwickeln oder sogar voll-
ständig neue Therapieansätze zu erforschen,
welche auf spezifische genetische Anomalien
eines Malignoms abzielen (translationelle
Forschungsansätze). Im Folgenden werden
die häufigsten Neoplasien des Kindes- und
Jugendalters diskutiert und die wesentlichen
biologischen Aspekte vorgestellt. Weiter wird
Krebserkrankungen bei Kindern
und Jugendlichen
Nicolas von der Weid, Lausanne
Übersetzung: Simon Fluri, Bern
Tabelle 1: Zeichen, Symptome, Zusatzuntersuchungen beim Kinderarzt und Prognose der häufigsten pädiatrischen Neoplasien
Krankheit Zeichen und Symptome Untersuchungen in der Praxis 5-Jahres-Überleben
ALLBlässe, Müdigkeit, Atemnot, Anorexie, Knochen- Differentialblutbild (BB), Blutausstrich 75–80%
AMLschmerzen, Fieber, Purpura, LK-Schwellungen, 40–50%
Hepatosplenomegalie (HSM), Hautinfiltrate
NHLProgrediente indolente Schwellung eines oder BB, BSR, LDH, Na, K, Calcium, 80%
M. Hodgkinmehrerer LK. Dys- und Orthopnoe. Balloniertes Phosphat, Harnstoff, Kreatinin, 95%
Abdomen (HSM, Aszites) B-Symptome: Harnsäure. Thoraxröntgen,
Fieber > 38°, Gewichtsverlust > 10% KG, Abdomen-US
nächtliches Schwitzen
MedulloblastomHirndruckzeichen: Nüchternerbrechen, Keine! 40–70%
Kopfschmerzen, Stauungspapillen, Ataxie,
Nystagmus, Dysmetrie, Dysdiadokokinese, Den Patienten rasch an ein
Hirnnervenparesen (Strabismus, Diplopie) Kompetenzzentrum zuweisen
NeuroblastomTumor in abdomine, Anorexie, Gewichtsverlust, BB, LDH, Ferritin, Thoraxröntgen, Lokalisierte Krankheit:
Husten, Stridor, Dysphagie/Dyspnoe, Rücken- Abdomen-US > 90%
markskompression, Horner Syndrom,
Monokelhämatom, Protrusio bulbi, Metastasierende
Knochenschmerzen, Fieber, Opsoclonus/ Krankheit: < 50%
Myoclonus/Ataxie
Wilms TumorScreening mittels Abdomen-US ab Geburt bei Urinuntersuchung Labstix, > 85%
Syndromen (bilaterale Aniridie, WAGR, BWS, DDS, Abdomen-US
NF). Tumor in abdomine
Hämaturie, arterielle Hypertonie
Knochentumore:Knochenschmerzen, Hinken, lokale Schwellung, Standardröntgen (2 Ebenen) Lokalisierte Krankheit:
Osteosarkomepathologische Fraktur 70%
und Ewing SarkomeMetastasierende
Krankheit: < 30%
RhabdomyosarcomProgrediente indolente Schwellung mit lokalen Lokaler US, 65%
Komplikationen (HNO, Orbita; abdominale Be- Abdomen-US.
schwerden, neurologische, orthopädische Defizite)
KeimzelltumoreBecken- oder Hodentumor Becken-US, Hoden-US > 85%
(ausser ZNS)Steissbeintumor (Neugeborene) -FP, -HCG
RetinoblastomOphthalmologisches Screening ab Geburt bei posi- Keine! Den Patienten rasch an den > 95%
tiver Familienanamnese, Strabismus, Leukokorie Augenarzt zuweisen
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auf die aktuellen therapeutischen Therapiere-
sultate (Tabelle1) sowie auf die Herausforde-
rungen für die Zukunft eingegangen.
Epidemiologie
Krebserkrankungen bei Kindern und Ju-
gendlichen (0–16-jährig) machen 0.5 bis 1% aller malignen Erkrankungen in der Ge-
samtbevölkerung aus. Krebs bei Kindern ist
somit eine relativ seltene Erkrankung. Die
Inzidenz beträgt zwischen 140 bis 160 neu
diagnostizierte Fälle pro Million Kinder und
Jugendlicher unter 16-jährig
1). In der Schweiz
werden pro Jahr 200 bis 250 neue pädiat-
rische Krebserkrankungen diagnostiziert.
Dank beeindruckender Therapiefortschritte
in den vergangenen 30 Jahren, beträgt die
Heilungsrate aktuell 75%. Dennoch bleiben
Krebserkrankungen bei Kindern und Jugend-
lichen in der ersten Welt die zweithäufigste
Todesursache hinter den erstplatzierten
unfallbedingten Todesfällen
1).
Die relative Seltenheit pädiatrischer Krebs-
erkrankungen erschwert das Verständnis
der biologischen Mechanismen und potenti-
ellen Risikofaktoren, aber auch die klinische
Betreuung; dieser Umstand wird durch die
Tatsache erschwert, dass die pädiatrischen
Krebserkrankungen aus multiplen Untergrup-
pen bestehen, welche beim Erwachsenen
meist sehr rar sind. Dies hat dazu geführt,
dass die pädiatrischen Onkologen sich im
letzten Jahrhundert auf nationaler und in-
ternationaler Ebene zusammengeschlossen
haben: aus dieser Zusammenarbeit sind
nationale (z. B. die SFOP: Société Française
d’Oncologie Pédiatrique oder die SPOG:
Swiss Pediatric Oncology Group) und inter-
nationale Gesellschaften entstanden (SIOP:
Société Internationale d’Oncologie Pédia-
trique), welche die Durchführung von multi-
zentrischen Studien mit Therapieprotokollen,
welche meistens aus einem therapeutischen
und biologischen Arm bestehen, erlaubten.
Die Krebsregister sind ebenfalls auf in-
ternationaler Ebene vereint, dies im Rah-
men der IARC (International Agency for
Research on Cancer) in Lyon, Frankreich.
Diese Organisation hat 1970 das Projekt
ACCIS (Automated Childhood Cancer Infor-
mation System) entwickelt, welches von der
europäischen Union mit dem Ziel finanziert
wurde, epidemiologische Daten zu Krebser-
krankungen bei Kindern und Jugendlichen
in europäischen Ländern zu sammeln, zu-
sammenzustellen und zu interpretieren.
Dieses Projekt führte zu einer umfassenden
und spannenden Publikation 2), welche zu-
sammen mit den Resultaten des kürzlich ge-
gründeten Schweizer Kinderkrebsregisters
(www.kinderkrebsregister.ch) die Grundlage
der hier präsentierten Daten bildet (Tabelle
1 sowie Abbildungen 1 und 2).
Ursachen pädiatrischer
Krebserkrankungen
Im Gegensatz zu Krebserkrankungen beim
Erwachsenen, bei welchen zahlreiche Um-
weltfaktoren (Tabak- und Alkoholkonsum,
Ernährungsgewohnheiten etc.) eine we-
sentliche und oft offensichtliche aetiolo-
gische Rolle spielen, bleibt die Ursache
pädiatrischer Krebserkrankungen viel rät-
selhafter.
Dass genetische Alterationen zu Krebser-
krankungen führen, ist eine Binsenwahr-
heit
3). Die Verteilung der Inzidenz nach
Altersgruppen mit einer Peakinzidenz im
Kleinkindesalter sowie die Häufigkeit em-
Tabelle 2: Anzahl Patienten im Schweizerischen Kinderkrebsregister
(Alter bei Diagnose < 15 Jahre, Zeitraum vom 1.1.19 7 6 bis 31.12.2004)
Anzahl Patienten %
Total am 31 Dezember 2004 4987 100.0
Verstorben 1140 23.0
Aus den Augen verloren 897 18.0
Lebend 2950 59.0
Lexikon
Tumorsuppressorgene: Ihre Mutation
führt zur erhöhten Inzidenz für gewisse
Malignome
Beispiele:
p53 Protein 53
Rb Retinoblastomprotein
WT1/2 Wilmstumor-Gen 1/2
NF1/ Neurofibromatose-Gen,
NF2 Typ 1 und 2
DNA-Reparatur- Gene: Ihre Mutation
führt zur erhöhten Inzidenz für gewisse
Malignome
Beispiele:
XP Xeroderma pigmentosum
FA Fanconi-Anämie
AT Ataxie-Telangiektasie
(Proto)- Onkogene: Gene, deren Expres-
sion das Risiko von gewissen Maligno-
men mit agressivem Charakter erhöht
Beispiele:
C-myc Medulloblastom,
gewisse Sarkome
N-myc metastasierendes
Neuroblastom
EWS Ewing-Sarkom
Transkriptionsfaktoren: Peptide, welche
die Transkription (Dekodierung) der DNA
und somit die Synthese der mRNA aus-
lösen
Beispiele:
ERG
FLI-1
Abbildung 1: Verteilung pädiatrischer Malig-
nome nach Geschlecht (Quelle: SCCR)
female
42%
mamalele5858%%
Abbildung 2: Alter bei Diagnosestellung
(Quelle: SCCR)
<1yr
6%
1– 4yrs
36%
5–9 yrs
26% 10–
14yrs
24%>14yrs
8% Jahre Jahr
J.
Jahre
J.
männlich58 %
weiblich
42 %
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bryonaler Ursprungszellen in vielen päd-
iatrischen Malignomen, lassen eine bereits
intrauterine Entstehung vermuten. Es ist seit
langem bekannt, dass multiple Syndrome
mit quantitativen Chromosomenanomalien
(Aneuploidien, z. B. Trisomie 21, Turner
Syndrom) oder qualitative Veränderungen
(Keimzellmutationen) von Tumorsuppres-
sorgenen (p53, Rb, WT1, NF1, NF2 etc.)
sowie von Genen, die an DNA-Reparatur-
prozessen beteiligt sind (XP, FA, AT etc.),
zur Entwicklung von Krebserkrankungen im
Kindesalter prädisponieren. Erst kürzlich
konnte gezeigt werden
4), 5) ; dass gewisse
chromosomale Translokationen, welche in
blastären Zellen verschiedener kindlicher
Leukämien gefunden wurden, bereits wäh-
rend der fetalen Hämatopoiese aufgetreten
sind: Studien bei monozygoten Zwillingen
mit Leukämien und Untersuchungen aus
Guthrie-Karten-Blut von Neugeborenen,
welche später an Leukämien erkrankt sind,
haben dies bewiesen. Tatsächlich weisen je-
doch viel mehr Neugeborene diese «präleu-
kämischen» Chromosomenanomalien auf,
als später an Leukämien erkranken; es muss
somit postuliert werden, dass zusätzliche
postnatale Ereignisse unerlässlich sind, um
den onkogenen Prozess in Gang zu setzen.
Seltene virale Infekte in den ersten zwei
Lebensjahren
6) und gewisse berufliche Ex-positionen der Väter
7) wurden in zahlreichen
Studien zur akuten lymphatischen Leukämie
(ALL) als Risikofaktoren postuliert. Die Rolle
von elektromagnetischen Feldern (Stark-
stromleitungen) wird in verschiedenen Stu-
dien aktuell sehr kontrovers diskutiert
8), 9) .
Letztlich soll noch die Rolle der Interaktion
zwischen Genen und Umwelt in der Ent-
stehung der ALL erwähnt werden: gewisse
Enzympolymorphismen wie CYP1A1*2A
oder GSTM1 waren in der weissen Bevöl-
kerung der kanadischen Provinz Québec
mit einem erheblich erhöhten Risiko, eine
ALL zu entwickeln, vergesellschaftet. Das
Enzym CYP1A1 ist ein Zytochrom, welches
an der Aktivierung von aromatischen poly-
zyklischen Kohlenwasserstoffen, wie sie im
Zigarettenrauch gefunden werden, beteiligt
ist. Bei Kindern, welche Träger des Allels CY-
P1A1 *2A sind und deren Mütter während
der Schwangerschaft oder deren Väter in
der postnatalen Phase zuhause rauchten,
wurde ein entsprechend massiv erhöhtes
ALL-Risiko festgestellt
10 ).
Häufigste Krebsform im
Kindesalter: Akute Leukämien
(Abbildung 3)
In der ersten Welt stellen akute Leukämien
einen Drittel aller malignen Erkrankungen des Kindesalters dar. Die altersstandardi-
sierte Inzidenz (age-standardized rate, ASR)
schwankt zwischen 35 und 50 pro Million
Kinder und Jugendlicher
1). 80% entfallen auf
akute lymphatische Leukämien (ALL), 20%
auf akute myeloische Formen (AML). 80%
der ALL entstammen B-Zell-Vorläuferzellen
(Prä-B-Zell- bzw. Early–Prä-B-Zell-ALL) und
zeigen eine Peakinzidenz im Alter von 4
Jahren. 15 bis 20% der ALL sind T-Zell-Leu-
kämien und weniger als 5% entfallen auf
reife B-Zell-Leukämien. Die beiden letzte-
rwähnten treten gehäuft bei älteren Pati-
enten auf (Schulalter, Jugendliche).
Maligne Hodgkin und Non-Hodgkin
Lymphome
Die malignen Hodgkin (MH) und Non-Hodg-
kin Lymphome (NHL) haben eine ASR von
10–12 pro Million
1). Auf den Morbus Hodg-
kin entfallen zirka 40%, auf die NHL 60%
der Fälle. Das Genom des Epstein-Barr-
Virus (EBV) findet sich häufig im Erbgut
der malignen Zellen: In 60% der Fälle in
der westlichen Welt und in bis zu 80% in
Entwicklungsländern. Dies lässt eine we-
sentliche aetiologische Rolle des EB-Virus
vermuten, kombiniert mit sozio-ökonomisch
bedingten Kofaktoren in den betroffenen
Populationen
11).
Das Burkitt-Lymphom (eine Form des NHL
mit Proliferation immaturer B-Zellen) zeigt
endemische Formen in Schwarzafrika und
Papoua Neu-Guinea, wo es das häufigste
pädiatrische Malignom darstellt
12 ). Praktisch
alle Burkitt-Lymphom-Fälle dieser Regionen
sind EBV-assoziiert (mit Malaria als Kofak-
tor), während in unseren Breitengraden
die sporadischen Burkitt-Lymphome nur in
20% der Fälle EBV-positiv sind. Die hiesigen
Risikofaktoren (genetische Prädisposition?)
bleiben unbekannt. Interessanterweise fin-
den sich auf zytogenetischer Ebene sowohl
in endemischen wie auch sporadischen Bur-
kitt-Lymphomen eine Translokation [t(8;14)],
welche sozusagen pathognomonisch für
diese Erkrankung ist; die Bruchstelle (break-
point) auf dem Chromosom 8 befindet sich
bei den endemischen Formen an anderer
Stelle als bei sporadischen Fällen. In beiden
Fällen führt die Translokation jedoch zur
Aktivierung des Proto-Onkogens c-myc,
indem sein normaler Genlokus (8q24) auf
das Chromosom 14q32 verschoben wird,
wo es in unmittelbarer Nähe zum Pro-
motorgen für die schweren Ketten der
Immunglobuline zu liegen kommt, welches
in B-Zellen physiologischerweise aktiv ist.
Abbildung 3: Verteilung der pädiatrischen Malignome nach ICCCC-3
Histiocytosis
4%
Leuk aemias
32%
Lymphomas
13% CNS
Neoplas ms
16% Retinoblas toma
5%
Sy mpathetic
Nervous
System
Tumours
7% Renal Tumours
5% Hepat ic
Tumours
1% Bone Tumours
5%Soft Tissue
Sarcomas
6%Germ Cell
Neoplas ms
3%Other
Neoplas ms
3%
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Vol. 17 No. 2 2006 Fortbildung / Formation continue
Das Protein c-myc wird somit in der B-Zelle
kontinuierlich gebildet. Da dieses Protein
für die Zellproliferation unentbehrlich ist,
kann man sich einfach vorstellen, dass die
aberrante und ununterbrochene c-myc-Ex-
pression die B-Zelle in Dauerproliferation
hält. Dennoch ist es wenig wahrscheinlich,
dass die c-myc-Proliferation alleine für das
Burkitt-Lymphom verantwortlich ist, dies
weil c-myc auch eine stimulierende Wirkung
für Apoptose-Prozesse hat. Es muss daher
postuliert werden, dass in der Onkogenese
des Burkitt-Lymphoms zusätzlich zur c-
myc-Expression auch Anomalien in der von
c-myc kontrollierten Apoptose-Regulation
vorliegen, wie z. B. auf Ebene des Fas – Fas
Liganden
13 ).
Tumore des zentralen Nervensystems
Die Tumore des zentralen Nervensystems
(Gehirn, Hirnstamm, Kleinhirn, Rückenmark)
stellen die häufigsten soliden Tumore des
Kindesalters dar und machen zirka 15–25%
der pädiatrischen malignen Neoplasien der
ersten Welt aus
1). Sie sind in Entwicklungs-
ländern deutlich seltener (bis zu 50%); dieser
Umstand ist jedoch höchstwahrscheinlich
die Folge einer mangelhaften Diagnostik
oder einer ungenügenden Registrierung;
ein tatsächlich reduziertes Risiko in diesen
Regionen ist eher unwahrscheinlich. Die
Astrozytome (benigne [WHO Grad 1 und 2]
und maligne [WHO Ggrad 3 und 4]) sind die
häufigsten Tumore des ZNS, gefolgt von pri-
mitiv-neuroektodermalen Tumoren (PNET),
welche, falls in der hinteren Schädelgrube
und meistens im Kleinhirnwurm lokalisiert,
als Medulloblastome bezeichnet werden.
In der westlichen Welt nimmt die Inzidenz
jährlich um 1% zu, was wahrscheinlich mit
einer verstärkten Exposition toxischer Um-
weltfaktoren zu erklären ist
14 ).
Tumore des sympathischen
Nervensystems
Die Tumore des sympathischen Nervensys-
tems sind im Kindesalter nahezu exklusiv
mit dem Neuroblastom vertreten, welches
den häufigsten soliden Tumor ausserhalb
des zentralen Nervensystems darstellt. Es
macht zirka 7% aller pädiatrischer Malig-
nome aus
1). Das Neuroblastom stellt ein
klassisches Beispiel eines embryonalen
Tumors dar; seine Biologie und sein kli-
nisches Verhalten sind äusserst variabel: die
Prognose reicht von exzellent (bei Kindern
jünger als 1 Jahr und günstigen biologischen
Merkmalen kann auch eine metastasierende Form ohne Chemotherapie spontan aushei-
len!) bis hin zu extrem eingeschränkt (ältere
Kinder mit metastasierendem Leiden und
nicht günstiger Biologie zeigen eine Morta-
lität von über 50%).
Embryonale Tumore der Nieren
und der Retinae
Die embryonalen Tumore der Nieren und
der Retinae (das Nephroblastom [Wilms
Tumor] beziehungsweise das Retinoblastom
machen je zirka 5% der pädiatrischen Tumo-
re aus) sind wiederum Beispiele maligner
tumoraler Proliferation von Zellen, die in
einem embryonalen Stadium verharren und
somit eine sozusagen uneingeschränkte mi-
totische Kapazität haben. Sie entziehen sich
damit grösstenteils jeglicher apoptotischer
Kontrolle und sind ausserdem nicht in der
Lage, zu reifen und zu renalen oder reti-
nalen Zellen zu differenzieren. Sowohl das
Nephroblastom als auch das Retinoblastom
weisen germinale oder erworbene chromo-
somale Anomalien (Mutationen) von gewis-
sen Tumorsuppressorgenen auf, welche
eine bedeutende Rolle in der Onkogenese
spielen (WT1 oder WT2 beim Wilms Tumor,
Rb beim Retinoblastom)
15 ).
Primäre Knochentumore
Die primären Knochentumore des Kindes
und Jugendlichen sind in osteogene Sar-
kome (Osteosarkome) und in Ewing Sarkome
eingeteilt. Zusammen machen sie zirka 5%
aller pädiatrischer Malignome aus
1). Das
Osteosarkom tritt klassischerweise wäh-
rend der Pubertät auf und ist präferenziell
in unmittelbarer Nachbarschaft der Wachs-
tumszonen der langen Röhrenknochen zu
finden, währenddem das Ewing Sarkom
in jedem Alter auftritt und sowohl in Röh-
renknochen als auch im restlichen Skelett
(Wirbelsäule, Rippen, Becken) vorkommen
kann. Die pathogenetischen Mechanismen
und zytogenetischen Charakteristika des
Osteosarkoms sind noch weitgehend unbe-
kannt (Mutationen in den Genen Rb und p53
wurden beschrieben)
16 ); das Ewing Sarkom
dagegen stellt eine Proliferation von pluri-
potenten embryonalen Zellen dar, welche
dem Neuralrohr entstammen und die mit
einer sozusagen pathognomonischen Chro-
mosomenanomalie charakterisiert sind,
welche das EWS-Gen auf Chromosom
22q1217 betrifft, vergesellschaftet in 90
bis 95% der Fälle mit einer Translokation
t(11;22) (q24;q12), die zu einem Fusions-
gen zwischen EWS und FLI-1, einem Gen, das für einen Transkriptionsfaktor codiert,
führt. Das chimere Protein EWS-FLI-1 ist in
der Lage, Fibroblasten in vitro zu transfor-
mieren; es besteht somit der hochgradige
Verdacht, dass dieses Fusionsprotein eine
zentrale Rolle in der Pathogenese des Ewing
Sarkoms spielt. Seltener (d. h. in 5 bis 10%
der Fälle), ist das ERG-Gen der Translokati-
onspartner des EWS-Genes; das ERG-Gen,
ein anderer Transkriptionsfaktor, ist auf dem
Chromosom 21q22 lokalisiert. Die zytoge-
netische Untersuchung von Biopsiematerial
bei V.a. Ewing Sarkom ist heute integraler
Bestandteil der diagnostischen Routineun-
tersuchungen. Ein besseres Verständnis
der ätiologischen und pathogenetischen
Mechanismen könnte zur Entwicklung neuer
Medikamente (smart drugs) führen, welche
beispielsweise auf chimere Proteine oder
ihre Mitspieler abzielen; damit könnten
die therapeutischen Resultate verbessert
werden, so etwa in den therapeutisch be-
sonders schwierig anzugehenden metasta-
sierenden Formen
18 ).
Weichteilsarkome
Die Weichteilsarkome entstammen von we-
nig bis undifferenzierten embryonalen Zellen
des Mesoderms und machen 5 bis 10% der
pädiatrischen Malignome aus (ASR 5–10
pro Million Kinder und Jugendliche)
1). Sie
bilden histologisch eine sehr heterogene
Gruppe, die zu einer guten Hälfte aus Rhab-
domyosarkomen besteht; die Zellen des
Rhabdomyosarkomes zeigen histologisch
und immunhistochemisch Zeichen einer
quergestreiften muskulären Differenzierung.
Die meisten Weichteilsarkome treten spo-
radisch auf; selten besteht eine Assoziation
mit einer Neurofibromatose (NF1) oder
einem Li-Fraumeni-Syndrom (germinale
Mutationen von p53)
19 ). Eine sehr seltene
Form von Weichteilsarkomen ist das Ka-
posi-Sarkom; im subsaharischen Afrika ist
die Inzidenz dieses Tumors als Folge der
AIDS-Epidemie dramatisch gestiegen; die
pathogenetische Rolle der Koinfektion mit
dem HI-Virus (human immunodeficiency
virus) und dem HHV8 (Human Herpes Virus
type 8) konnte klar gezeigt werden
20).
Maligne Keimzelltumore
Die malignen Keimzellltumore machen we-
niger als 4% aller pädiatrischer Krebser-
krankungen aus
1). Sie können sich primär in
den Gonaden, aber auch ausserhalb dieser
Strukturen, klassischerweise im zentralen
Nervensystem (supraselläre und epiphysäre
Fortbildung / Formation continue
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Vol. 17 No. 2 2006
Region) oder beim Neugeborenen in der sa-
crococcygealen Region entwickeln. Teilwei-
se sezernieren die Keimzelltumore AFP oder
-HCG, bei Sekretion von Gonadotropinen
manifestieren sie sich teilweise mit einer
Pubertas praecox.
Maligne Lebertumore
Die malignen Leberzelltumore (ASR < 1 pro
Million)
1) sind in Hepatoblastome (embryo-
nale Leberzellen mit geringer bis fehlender
Differenzierung), welche vorwiegend beim
Kleinkind im Alter von 0–3 Jahren auftreten
und in hepatozelluläre Karzinome, welche
bei älteren Kindern und Jugendlichen vor-
kommen, eingeteilt. Das Hepatoblastom
produziert praktisch immer AFP (selten
auch -HCG) in hoher Konzentration, was
bei der Diagnosestellung, dem Monitori-
sieren des Therapieerfolges und dem Er-
kennen allfälliger Rezidive hilfreich ist. Die
Leberzellkarzinome können als Folge einer
Leberzirrhose jeder Aetiologie entstehen,
so nach chronischer Infektion mit dem
Hepatitis-B- oder C-Virus aber auch infol-
ge metabolischer Erkrankungen wie der
Galaktosämie, der Tyrosinämie oder dem
-1-Antitrypsin-Mangel
21).
Karzinome
Karzinome (maligne epitheliale Tumore),
sehr häufig bei erwachsenen Patienten,
machen weniger als 5% aller malignen
Tumore im Kindes- und Jugendalter aus.
Erwähnenswerte Formen sind das Schild-
drüsenkarzinom (deutlich zunehmend in
Ländern wie der Ukraine, Russland und
Weissrussland nach dem Reaktorunglück
von Tschernobyl
22)), das adrenokortikale
Karzinom und das nasopharyngeale Kar-
zinom.
Malignes Melanom
Das maligne Melanom verdient eine spezi-
elle Erwähnung, auch wenn es im Kindesal-
ter sehr selten ist (ASR zirka 1 pro Million).
Es ist eindeutig assoziiert mit der Sonnenex-
position, wie dies mit der aussergewöhnlich
hohen Inzidenz in der weissen Bevölkerung
Ozeaniens gezeigt werden konnte
23). Die
Inzidenz des malignen Melanoms hat sich
seit dem Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich
etwa verzehnfacht und das Risiko innerhalb
eines Menschenlebens ein Melanom zu
entwickeln, beträgt mittlerweile 1:140. Auch
wenn sich ein Melanom teilweise vor dem
Hintergrund einer präkanzerösen Läsion wie
dem Xeroderma pigmentosum, einem dys-plastischen Nävus oder einem kongenitalen
melanozytären Riesennävus entwickelt, be-
hält die Prävention exzessiver UV-Exposition
von Geburt auf ihre volle Gültigkeit.
Schlussfolgerung
Die Ursachen der meisten pädiatrischen
Krebserkrankungen bleiben mysteriös. Epi-
demiologische Arbeitsinstrumente wie das
Schweizer Kinderkrebsregister und die Zu-
sammenarbeit im Rahmen internationaler
und multizentrischer Netzwerke sind uner-
lässlich für ein besseres Verständnis der bio-
logischen und genetischen Faktoren, welche
diesen Krankheiten zugrunde liegen. Auch
wenn bezüglich Therapie der häufigsten
Neoplasien (ALL, Lymphome, gewisse Hirn-
tumore, Nierentumore) in den letzten Jahren
beträchtliche Fortschritte erzielt werden
konnten, besteht nach wie vor eine Reihe
von pädiatrischen Krebserkrankungen, für
welche die Prognose düster bleibt (dis
-
seminierte Neuroblastome und Sarkome,
Hirnstammtumore, die meisten Rezidive);
auf der anderen Seite weisen viele Langzei-
tüberlebende Spätfolgen ihrer Erkrankung
und Therapie auf (Sterilität, Zweittumoren,
kognitive Störungen, schlechte psychoso-
ziale Integration). Die Verbesserung dieser
Situation stellt eine grosse Herausforderung
dar, welche die Entwicklung neuer Ansätze
benötigt, die selektiver und individualisierter
ausgerichtet sind und auf einem besseren
Verständnis der Tumorbiologie basieren;
dies wird dank Grundlagen- und klinischer
onkologischer Forschung ermöglicht.
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Korrespondenzadresse:
PD Dr. med. Nicolas von der Weid
Médecin-associé
Unité d’hémato-oncologie péd.
DMCP
1011 Lausanne-CHUV
Tel.: +41 21 314 35 44
Fax: +41 21 314 33 32
nicolas.von-der-weid@chuv.ch
Weitere Informationen
Übersetzer:
Simon Fluri
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Nicolas von der Weid , UKBB, Basel