Kindesmisshandlung ist ein weltweites Problem – auch in reichen westlichen Nationen mit ausgebautem Sozialstaat kommt sie nach wie vor häufig vor [1]. Die Betroffenen leiden in Folge oft unter psychischen Problemen, erleben posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen [2]. Auch verschiedene körperliche Belastungen und somatische Krankheiten treten bei ehemaligen Opfern von Kindesmisshandlung gehäuft auf [3]. Die unterschiedlichen Folgen reichen oft bis ins hohe Erwachsenenalter [4]. Bisher wurden in Studien zu Misshandlungserfahrungen in der Kindheit jedoch meist retrospektiv Erwachsene befragt [5]. Wenig beforscht ist die kurz und mittelfristige Entwicklung nach Misshandlungserfahrungen in der Kindheit selbst. Da Daten fehlen, welche misshandelten Kinder sich nach Gewalterfahrungen resilient zeigen und welche nachhaltig in ihrer Entwicklung beeinträchtig sind, fehlen auch Erkenntnisse, wie die Angebote für die Betroffenen verbessert und ihr Schutz effektiver gewährleistet werden können.
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Kindesmisshandlung ist ein weltweites Prob-
lem – auch in r eichen westlichen Nationen mit
ausgebautem Sozialstaat kommt sie nach wie
vor häufig vor [1]. Die Betroffenen leiden in
Folge oft unter psychischen Problemen, erle –
ben posttraumatische Belastungsstörungen
und Depressionen [2]. Auch verschiedene
körperliche Belastungen und somatische
Krankheiten treten bei ehemaligen Opfern von
Kindesmisshandlung gehäuft auf [3]. Die un –
terschiedlichen Folgen reichen oft bis ins
hohe Erwachsenenalter [4]. Bisher wurden in
Studien zu Misshandlungserfahrungen in der
Kindheit jedoch meist retrospektiv Erwachse –
ne befragt [5]. Wenig beforscht ist die kurz-
und mittelfristige Entwicklung nach Miss –
handlungserfahrungen in der Kindheit selbst.
Da Daten fehlen, welche misshandelten Kin –
der sich nach Gewalterfahrungen resilient
zeigen und welche nachhaltig in ihr er Ent w ick –
lung beeinträchtig sind, fehlen auch Erkennt –
nisse, wie die Angebote für die Betroffenen
verbessert und ihr Schutz effektiver gewähr –
leistet werden können.
Erste Studie der Kinderschutzgrup –
pe am Kinderspital Zürich
Die Kinderschutzgruppe am Kinderspital Zü –
r ich hat z w ischen 20 07 und 2010 er s tmals f ür
Europa unter sucht , w ie sich b ei ihr gemeldete
Misshandlungsopfer im Vergleich zu einer
Kontrollgruppe entwickelten [6]. Kinder aller
Altersstufen wurden zwei bis drei Jahre nach
Intervention der Kinderschutzgruppe unter –
sucht. Eine zentrale Erkenntnis aus dieser
Studie sind die grossen Unterschiede zwi –
schen der Selbsteinschätzung der Kinder und
der Einschätzung der kindlichen Befindlichkeit
durch die Eltern: Wenig überraschend emp –
fanden die misshandelten Kinder ihre Lebens –
qualität auch zwei bis drei Jahre nach Inter –
vention der Kinderschutzgruppe gegenüber
Gleichaltrigen als signifikant eingeschränkt.
Ihre Eltern hingegen sahen die misshandelten
Kinder nicht belasteter als die Eltern einer
Kontrollgruppe von Kindern, die keine Miss –
handlungserfahrung hatten [6]. Diese unge –
Wie sich misshandelte Kinder entwickeln
und warum wir das nicht wissen
Andreas Jud, Sabine Weber, Markus A. Landolt, Markus Wopmann, Ulrich Lips
nügende Wahrnehmung der kindlichen Be-
dürfnisse durch die Eltern kann auch ein
Ausgangspunkt für Vernachlässigung und
Misshandlung sein. Zur Erhärtung des Be –
funds fehlten bei dieser Querschnittsstudie
jedoch Daten zum Zeitpunkt der Aufdeckung
der Misshandlung.
Eine prospektive Studie zur Ent –
wicklung misshandelter Kinder
Erst mit einer prospektiven Studie werden
Zusammenhänge zwischen Ursache und Wir –
kung plausibler. Bei mehreren Untersuchungs –
zeitpunkten lassen sich zudem Entwicklungs –
verläufe abbilden. Diese methodischen
Verbesserungen hat die Kinderschutzgruppe
am Kinderspital Zürich gemeinsam mit der
Kinderklinik des Kantonsspitals Baden AG in
einer neuen Studie umgesetzt1: Eine Baseli –
ne-Datenerhebung sollte kurz nach Vorstel –
lung des Falls in der Kinderschutzgruppe er –
folgen, anschliessend im Abstand von einem
und zwei Jahren je eine Verlaufskontrolle. Um
die rund 30 % an Patienten der Kinderschutz –
gruppen mit Migrationshintergrund nicht aus –
zuschliessen, wurden Fragebögen in verschie –
denen Fremdsprachen angeboten. Die
Möglichkeit, die Untersuchung am eigenen
Wohnort durchzuführen, sollte den organisa –
torischen Aufwand für die interessierten Fa –
milien verringern.
Teilnahme zu gering
Leider musste diese erste prospektive Studie
von Spital-Kinderschutzgruppen zur Entwick –
lung misshandelter Kinder Ende 2016 auf –
g r und einer zu ger ingen Teilnehmer z ahl abge –
brochen werden: Mit nur 17 statt geplanten
100 teilnehmenden misshandelten Kindern
lag die Teilnehmerzahl weit unter den Erwar –
tungen. Sie ist so nicht repräsentativ und zu
klein für ausführliche und verlässliche statis –
tische Analysen. Im Folgenden werden für die
Planung künftiger Studien Hürden bei der
Rekrutierung identifiziert und Empfehlungen
formuliert. Zusammenhänge zwischen Merkmalen der
Stichprobe und Studienteilnahme
Hängt die geringe Teilnahme systematisch mit
Merkmalen der Stichprobe zusammen? Dazu
wurden verschiedene Variablen geprüft: Alter,
Geschlecht und Nationalität des Kindes, Alter
der Eltern, Ar t und Gewissheit der Misshand
–
lung. Ausserdem wurde untersucht, ob es
Unterschiede zwischen stationären und am –
bulanten Fällen gibt, ob sich Strafanzeigen
und Gefährdungsmeldungen oder ein intrafa –
miliärer Täter negativ auf die Teilnahme aus –
wirken. Schliesslich wurde geprüft, ob Fami –
lien eine unterschiedliche Bereitschaft zur
Teilnahme zeigen, je nachdem wer die fallbe –
arbeitende Person bei der Kinderschutzgrup –
pe war.
Ein signifikanter Unterschied zeigte sich für
die Art der Misshandlung: Trotz des verhält –
nismässig hohen Anteils an sexuell miss –
brauchten Kindern in der Stichprobe (30 %)
waren lediglich ein sexuell missbrauchtes
Kind und seine Familie bereit, teilzunehmen.
Für die weiteren Merkmale der Kinder, Fami –
lien und Misshandlungssituationen zeigten
sich keine signifikanten Zusammenhänge zur
Teilnahmebereitschaft. Jedoch waren einige
betroffene Kinder und ihre Eltern deutlich
weniger bereit teilzunehmen, wenn Person A
von der Kinderschutzgruppe die Fallverant –
wortung innehatte, als wenn Person B oder
Person C für den Fall zuständig war.
Formal-juristische Hürden
Besonders gravierend für die Teilnahme war
jedoch eine formal-juristische Hürde: Die
Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich
fungiert zusätzlich als kantonal anerkannte
Opferberatungsstelle. Diese Stellen haben
eine Geheimhaltungspflicht, die erheblich
weiter geht, als im Gesundheitswesen üblich.
Fälle, die über die Opferhilfe entschädigt
wurden, konnten daher nicht wie die übrigen
Patienten an den Kinderkliniken rekrutiert
werden. Die Kontaktdaten konnten dem Stu –
dienteam erst weitergegeben werden, wenn
die fallverantwortliche Fachperson der Opfer –
hilfe von der Familie postalisch eine schriftli –
che Einwilligung zur Weitergabe der Kontakt –
daten eingeholt hatte. Schriftliche
Rückmeldungen sind jedoch fast gar nie er –
folgt, eine Rekrutierung war fast nur dann
möglich, wenn die Betroffenen persönlich
1 Die Umsetzung wurde dank finanzieller Beiträgen der Stiftungen Maiores, Vaduz, Perspektiven von Swiss Life, Zürich, Wyeth Stiftung für die Gesundheit von Kindern und
Jugendlichen, Zug, Stiftungen Anna Müller- Grocholski, Zürich, und Olga Mayenfisch, Zürich, möglich. Ihnen gebühr t ein herzlicher Dank.
32Kindennsminhnndalu
32Kindesmhalug sdtiKdwProub-h –2e2ado
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angesprochen werden konnten – was eben
nicht erlaubt war.
Warum sind Studien mit Opfern
von Kindesmisshandlung beson-
ders schwierig?
Kindesmisshandlung ist eine belastende The –
matik. Nieman d m ö chte ger ne mit dem T h ema
assoziiert sein, selbst wenn man sich nichts
zu Schulden hat kommen lassen. Daher ist es
schon schwierig, Familien für eine Kontroll –
gruppe zum Thema zu gewinnen. Wie viel
schwerer wird eine Teilnahme da für jene Fa –
milien, bei denen gesellschaftlich geächtete
Handlungen und Unterlassungen im nahen
persönlichen Umfeld des Kindes stattgefun –
den haben oder mitunter gar durch die Eltern
selbst verübt wurden. Dies trif f t im Besonde –
ren auf den sexuellen Missbrauch zu, für den
die Rekrutierung ja nochmals zusätzlich er –
schwert war. Ächtung, Scham und Furcht vor
weiteren Konsequenzen durch eine vertiefte
Betrachtung wogen für die Studie besonders
schwer, da die Anfrage zur Teilnahme kurz
nach dem Zeitpunkt der Aufdeckung der Miss –
handlung und der Intervention durch eine
Einrichtung im Kinderschutz lag.
Der Zeitpunkt der Aufdeckung ist aber auch
mit einer hohen emotionalen B elas tung f ür die
ganze Familie verbunden und kann sich als
Trigger für weitere kritische Lebensereignisse
auswirken – etwa eine Trennung oder Schei –
dung vom misshandelnden Elternteil.
Schliesslich löst die Aufdeckung richtigerwei –
se Hilfeleistungen und Unterstützungsange –
b ote f ür die B etrof fenen selbst und ihr e Fami –
lie aus. Die verschiedenen Massnahmen und
Angebote können in ihrer Zahl jedoch eine
Herausforderung an das Selbstmanagement
der Betroffenen darstellen [7].
Was ist für künftige Studien zur
Entwicklung misshandelter Kinder
zu beachten?
Um erste Verlaufsdaten zur Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen nach Intervention
im medizinischen Kinderschutz gewinnen zu
können, bietet es sich daher an, Daten zur
Entwicklung zum Zeitpunkt der Aufdeckung
über die zuständige Fachperson zu erfassen.
Das bedingt jedoch, dass routinemässig (und
nicht nur zu Studienzwecken) einige (wenige)
standardisierte Daten zur psychischen und
sozialen Entwicklung von Patientinnen und
Patienten erfasst werden – was ja im Übrigen
auch für die umfassende Beurteilung der Si –
tuation wichtig ist. Die Betroffenen selbst könnten dadurch erst zu einem späteren
Zeitpunkt, mit Abstand zur emotional belas
–
tenden Aufdeckung der Misshandlung, zur
Teilnahme an einer Verlaufsstudie angefragt
werden. Die Fachpersonen wiederholen zu
diesem Zeitpunkt ihre Einschätzung, die dann
durch die Perspektive der Betroffenen ergänzt
werden kann. Entscheidend für ein solches
Vorgehen ist, dass eine Studie von allen be –
teiligten Fachpersonen in der Praxis vollum –
fänglich mitgetragen wird. Hier hat sich ein
Zugang als hilfreich erwiesen, der die beteilig –
te Fachp er sonen von A nf ang an in die G es t al –
tung der Studie einbezieht und die Zusam –
menarbeit im Rahmen der Studie als
Partnerschaft mit wechselseitigem Nutzen
ausgestaltet [8].
Fazit
Trotz der grossen Hürden, Daten zur psycho –
sozialen Entwicklung misshandlungsbetroffe –
ner Kinder und Jugendlicher zu gewinnen und
auch wenn die Teilnahme an solchen Studien
nie eine hohe A k zept anz er r eichen w ir d , müs –
sen Bemühungen zur Gewinnung entspre –
chender Erkenntnisse weitergehen. Erst da –
durch können Aussagen zur Nachhaltigkeit
von Schutzmassnahmen und Hilfeleistungen
generiert werden und damit Einsichten, wie
die Unterstützung misshandlungsbetroffener
Kinder und Jugendlicher verbessert werden
kann.
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6) Jud A, Landolt MA, Tatalias A, Lach LM, Lips U:
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7) Jud A: Kindesschutzmassnahmen und beteiligte
Professionelle. In Zivilrechtlicher Kindesschutz:
Akteure, Prozesse, Strukturen. Edited by Voll P, Jud A, Mey E, Häfeli C, Stettler M. Luzern: Interact;
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8) Jud A, AlBuhairan F, Ntinapogias A, Nikolaidis G:
Obtaining agency participation. In Toolkit on map –
ping legal, health and social ser vices responses to
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Korrespondenzadresse
andreas.jud @ hslu.ch
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Weitere Informationen
Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. phil. Andreas Jud , «Epidemiologie und Verlaufsforschung im Kinderschutz», Universitätsklinikum Ulm, Deutschland, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit M.-A. Landolt Dr. med. Markus Wopmann , Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Baden U. Lips S. Weber