In unserer schweizerischen Gesellschaft besteht ein unerschütterliches Einvernehmen darüber, dass Kinder verletzliche Wesen sind, die um jeden Preis geschützt werden müssen. Dennoch sind viele Erwachsene echt überrascht, wenn sie den Umfang der Prävalenz von Kindesmisshandlung aller Art in der Schweiz entdecken, und noch mehr, was den Anteil sexuellen Missbrauchs anbetrifft. Die Blicke richten sich da verständlicherweise auf die politischen Entscheidungsträger auf Bundes- oder kantonaler Ebene, mit dem Aufruf, die Rahmenbedingungen des Kinderschutzes so umzusetzen, dass sie entscheidender dazu beitragen, die Zahl minderjähriger Opfer von Misshandlung aller Art zu mindern.
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In unserer schweizerischen Gesellschaft be-
steht ein unerschütterliches Ein\bernehmen
darüber, dass Kinder \berletzliche Wesen sind,
die um jeden Preis geschützt werden müssen.
Dennoch sind \biele Erwachsene echt über –
rascht, wenn sie den Umfang der Prä\balenz
\bon Kindesmisshandlung aller Art in der
Schweiz entdecken, und noch mehr, was den
Anteil sexuellen Missbrauchs anbetrifft. Die
Blicke richten sich da \berständlicherweise auf
die politischen Entscheidungsträger auf bun –
des- oder kantonaler Ebene, mit dem Aufruf,
die Rahmenbedingungen des Kinderschutzes
so umzusetzen, dass sie entscheidender dazu
beitragen, die Zahl minderjähriger Opfer \bon
Misshandlung aller Art zu mindern.
Ein bindender rechtlicher Rahmen,
dem die Schweiz unterworfen ist
Glücklicherweise gibt es diesen rechtlichen
Rahmen, in der Form der 1997 \bon der
Schweiz ratifizierten UN-Kinderrechtskon\ben –
tion. Artikel 19 ist explizit:
«1. Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten
Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, \bozial- und
Bildungsmassnahmen, um das Kind vor jeder
Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwen –
dung, \bchadenszufügung oder Misshandlung,
vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor
schlechter Behandlung oder Ausbeutung ein –
schliesslich des sexuellen Missbrauchs zu
schützen, solange es sich in der Obhut der El –
tern oder eines Elternteils, eines Vormunds
oder anderen gesetzlichen Vertreters oder ei –
ner anderen Person befindet, die das Kind
betreut.»
In seinen Allgemeinen Bemerkungen 13 (AB
13 ) ( 2011) b eg r üs s t der U N – K inder r e cht s aus –
schuss (Ausschuss) die zahlreichen, weltweit
erreichten Fortschritte, um Gewalt gegenüber
Kindern \borzubeugen und zu unterdrücken,
stellt jedoch bedeutungs\bolle Schwierigkeiten
fest, insbesondere dass:
Wie Kindesmisshandlung wirksam
vorbeugen? Durch vermehrte Forschung!
Philip D. Jaffé 1, Genf
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
1 Leiter des Centre interfacultaire en droits de l’enfant der Universität Genf
«Die ergriffenen Massnahmen verzeichnen
eine begrenzte Wirkung, weil Kenntnisse und
Daten fehlen, weil Gewalt gegen Kinder und
ihre Ursachen unzureichend erforscht sind,
weil reaktive Interventionen sich in erster Linie
auf die \bymptome und nicht auf die Ursachen
konzentrieren (…)»
Unter den in AB 13 an die Schweiz ger ichteten
Empfehlungen des Ausschusses findet sich
die Ermunterung «Prä\bentionsmöglichkeiten
z u pr ü fen un d Mas s nahm en z ur För der ung \bon
Forschung und Datensammlung zu unterstüt –
zen (…)».
\borschung über Kindesmisshand –
lung fördern
Um Daten und Er kenntnis se f ür eine w ir ks ame –
re Prä\bention zu erlangen, müssen Forscher –
gruppen, die sich erheblichen methodologi –
schen Herausforderungen gegenübersehen,
unbedingt unterstützt werden. Forschungspro
–
jekte müssen wissenschaftliche Daten so früh
wie möglich im Verlaufe des Lebensweges
misshandlungsgefährdeter oder misshandelter
Kinder erfassen können… und diese Daten
sollen nicht nur das Kind betreffen sondern
auch sein familiäres und soziales Umfeld. Die
wissenschaftliche Forschung stösst dabei na
–
mentlich auf zwei Schwierigkeiten:
1. Wie soll man zu\berlässig mit immer jünge –
ren, sich in ihrer Entwicklung an der Gren –
ze befindenden und kaum der Sprache
mächtigen Kindern kogniti\b \berwirrende
Phänomene erörtern?
2. Wie können gleichzeitig die Gebote des
persönliche Datenschutzes beachtet und
eine genügend grosse und repräsentati\be
Auswahl an Kindern, für welche ein Miss –
handlungsrisiko besteht oder die bereits
Opfer \bon Misshandlung sind, gefunden
werden? Zu Punk t 1: Die For t schr it te der w is senschaf t
–
lichen Forschung sind derart, dass wir über
Methoden \berfügen, die uns ermöglichen, in
juristischer Hinsicht hinreichend zu\berlässige
Daten zu erhalten, um selbst sehr junge Kin –
der als \bertrauenswürdige Zeugen betrachten
zu können.
Punkt 2 ist eindeutig komplexer. Der Schutz
persönlicher Daten stellt oft eine beinahe
unüberwindbare Barriere dar und \berhindert,
dass zu Forschungszwecken Gruppen \bon
Kindern gebildet werden, obwohl entspre –
chende Informationen sie in Risikokategorien
\bergangener, aktueller oder zukünftiger Miss –
handlung einordnen lassen.
Die Schwierigkeiten ergeben sich nicht so
sehr aus der Tatsache, dass Kinderschutz –
fachleute auf Grund dieser Informationen und
im Namen \bon Schutzmassnahmen zugunsten
der Kinder eingreifen. Klippen treten \bielmehr
dann auf, wenn Forscher die notwendigen
Einwilligungen einholen müssen, um die Kin –
der kontaktieren und sie und die mit Miss –
handlung konfrontierten Familien in ihr For –
schungsprojekt einschliessen zu können.
Nebst der administrati\ben Schwerfälligkeit,
die zahlreiche Schritte über Zwischenperso –
nen erfordert, ist es auch so, dass \biele Ent –
scheidungsträger der wissenschaftlichen
Forschung nur ungenügend Beachtung schen –
ken, obwohl sie die Möglichkeit hätten, das
Zusammenstellen \bon Forschungsdaten zu
erleichtern.
Notwendige Entwicklungen ethi –
scher Überlegungen zum besseren
Schutz der Kinder
Unseres Erachtens müssen wir, aus einem
gesellschaftlich-juristischen Standpunkt aus,
die Entwicklung administrati\ber und ethischer
Vorgehensweisen unterstützen. Der Schutz
persönlicher Daten muss in einer demokrati –
schen Gesellschaft zweifellos ein Grundstein
des Respektes jedes Menschen sein. Dieser
Schutz darf uns jedoch nicht der Pflicht ent –
binden, die Kinder zu schützen, die in allzu
grosser Zahl Opfer \bon Misshandlungen \ber –
schiedenster Art sind. Um das Phänomen
Misshandlung besser zu \berstehen und ihm
besser \borbeugen zu können, muss wissen –
schaftliche Forschung und Datensammlung
möglich sein. D er Schut z der P r i \bat sphär e und
die Einwilligung zu Forschungsprojekten der
42In us ern c uhwi
42In userchwizGeulnIuaftbi-ücGE2s2hub
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Personen, welche über die elterliche Gewalt
über Kinder \berfügen, die potentielle For-
schungsobjekte sein können, sowie der Kin –
der selbst, muss eine Forderung jeglicher
wissenschaftlicher Forschungstätigkeit sein.
Wir müssen fortschreiten… Vor kaum einer
Generation, anlässlich einer unserer For
–
schungsarbeiten, hat ein Ethikausschuss zu –
nächst \berlangt, dass alle Eltern, selbst jene,
die möglicherweise ihr Kind sexuell miss
–
brauchten, ihr Ein\bernehmen zur Beteiligung
ihres Kindes an der Studie geben mussten. Es
war absurd, entsprach aber den damaligen
Protokollen. Die heute geltenden Kinderrech
–
te, zum Schut z aller K inder, B ür ger w ie ander e
in unserer schönen eidgenössischen Gesell
–
schaft, bedingen, dass \berantwortungsbe –
wusste Erwachsene Mittel und Weg finden
müssen, um legitime wissenschaftliche For
–
schung durchzuführen. Die gründliche Prüfung
inno\bati \ber Vor gehen w ir d es er laub en, schüt
–
zende B ar r ier en zu er r ichten, damit die K inder
und ihre Familien nicht ausgenutzt werden.
Korrespondenzadresse
Philippe.Jaffe @ unige.ch
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Weitere Informationen
Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Ph. D. Jaffà