Fachzeitschrift >

Vertraulichkeit bei der Betreuung von Jugendlichen? Der Gesichtspunkt der Jugendlichen und ihrer Eltern

Was mich emotional und persönlich am meisten forderte, war es, die Zügel aus der Hand zu geben und ihn auf eigenen Füssen stehen zu lassen, dieser Übergang ist es.“ Eine Mutter.

Einführung

Das Herstellen von Vertraulichkeit* im Rahmen der Sprechstunde mit Jugendlichen hat positive Auswirkungen auf den Autonomieerwerb und das Erlernen von Unabhängigkeit und Verantwortung1). Auch werden dadurch die Kommunikation und die Früherkennung von Risikoverhalten2) erleichtert.

Der Arzt muss den Rahmen der Vertraulichkeit und deren Grenzen klar darstellen und einhalten3)4). In der Schweiz hat ein Jugendlicher das Recht auf Vertraulichkeit, sobald er als urteilsfähig betrachtet wird. Konkret bedeutet dies, dass die Konsultation teilweise mit dem Jugendlichen alleine stattfindet, und dabei Themen zur Sprache kommen können, die insbesondere seine Beziehung zu den Angehörigen betreffen. Dabei kann es sich für den Arzt als schwierig erweisen, mit den Beziehungen im Dreiecksverhältnis Jugendlicher-Arzt-Eltern umzugehen, und dabei das Vertrauen des Jugendlichen und der Eltern zu wahren5)6). Er muss einerseits die bedingte Vertraulichkeit gegenüber dem Jugendlichen gewährleisten7), ihm andererseits zu verstehen geben, dass es wichtig ist seine Eltern einzubeziehen im Interesse seiner Gesundheit und damit die Eltern sich nicht von seiner Betreuung ausgeschlossen fühlen8).
Die klinische Forschung hat sich vor allem auf die theoretische Haltung der Eltern bezüglich Vertraulichkeit bei Konsultationen mit Jugendlichen konzentriert9-11). In der Schweiz hat eine qualitative Studie die Vorstellungen bezüglich Urteilsfähigkeit und Vertraulichkeit untersucht12). Trotz geteilter Meinung zur Vertraulichkeit, anerkennen die Eltern deren Stellenwert in der ärztlichen Sprechstunde und deren Bedeutung für die Jugendlichen6) 9-13). Diese Vertraulichkeit kann gewisse Eltern beunruhigen, das Vertrauen in die klinische Kompetenz und die Erfahrung des betreuenden Arztes sind dann wesentlich9-11). Gewisse Eltern betrachten sich als „Experten“ in Bezug auf die Gesundheit ihres Jugendlichen und wünschen auf Grund ihres Status als gesetzlichen Vertreter, den gesamten Inhalt der Konsultation zu kennen. Sie können das Gefühl haben, die Kontrolle als Verantwortliche zu verlieren und so Misstrauen gegenüber dem Konzept der Vertraulichkeit entwickeln9-11).
Die Erfahrung der Kliniker einer spezialisierten Abteilung wie die DISA  (Division Interdisciplinaire de Santé des Adolescents, CHUV, Lausanne) weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Jugendlichen und Eltern, trotz positiver theoretischer Stellungnahme zur Vertraulichkeit, in der konkreten klinischen Situation komplexer oder gar ambivalent sein kann. Die Art und Weise wie die Vertraulichkeit durch den Arzt gehandhabt und von den Jugendlichen und den Eltern erlebt wird, kann Unverständnis und damit Spannungen hervorrufen und die Betreuung beeinträchtigen.
Ziel dieser Forschungsarbeit war es, die Vorstellung und Wahrnehmung von Eltern und Jugendlichen rund um Vertraulichkeit im klinischen Kontext zu untersuchen.

Methodik

Design und Sampling
Qualitative monozentrische Studie an der DISA (CHUV), inspiriert durch die Methodologie der konstruktivistischen Grounded Theory. Dazu wurde eine gezielte Probensammlung («purposeful sampling») durchgeführt, d.h. die Ärzte der DISA haben die Studie Adoleszenten zwischen 12 und 18 Jahren und deren Eltern vorgeschlagen, bei denen sie mögliche Fragestellungen zur Vertraulichkeit identifizierten. Von den 5 angesprochenen Eltern-Jugendlichen-Dyaden beteiligten sich 4 an der Studie. Eine weitere Jugendliche beteiligte sich, ohne dass ihre Mutter kontaktiert werden konnte.

Datensammlung und Analyse
Die Daten konnten mittels 9 semi-strukturierten Gesprächen von 1 bis 1½ Stunden Dauer durch den Versuchsleiter (BVR) zwischen November 2017 und August 2018  gesammelt werden, anhand zuvor festgelegter Richtlinien und nach Erhalten des schriftlichen Einverständnisses aller Beteiligten. Die Gespräche wurden aufgenommen und anschliessend wortgetreu schriftlich festgehalten. Die Namen der Beteiligten wurden geändert. Die iterative und vergleichende Analyse der Daten gemäss der grounded Theory wurde durch eine Folge von Datenkodierungsetappen in Zusammenarbeit mit dem Forschungsteam (YT und AEA) durchgeführt. Die Kodierung wurde mit dem Online-Programm Dedoose® umgesetzt.

Die Studie wurde durch Swissethics genehmigt.

Ergebnisse

I) Dynamische Anpassung an das Selbstständigwerden
Die Gespräche mit den Eltern wie mit den Jugendlichen ergaben, dass durch das Thematisieren des Begriffs der Vertraulichkeit im Rahmen der ärztlichen Betreuung die entscheidende Problematik des Selbstständigwerdens des Jugendlichen und der elterlichen Wahrnehmung dieses Bedürfnisses offenbart wird.

Im allgemeinen vertreten die Eltern zum Prinzip der Vertraulichkeit eine sehr offene Haltung, „Ich habe Mühe, in der Vertraulichkeit etwas Negatives zu sehen, denn ich finde, es ist etwas Gutes“ (Patricia, Mutter von Gabriel), und geben an, dieses Bedürfnis der Jugendlichen bei ihrer Suche nach Verantwortung gut zu verstehen.

Die Gesprächsanalyse erlaubte es, ein zentrales Thema hervorzuheben: Die «Dynamische Anpassung an das Selbstständigwerden“. Drei weitere Themen drehen sich um dieses zentrale Thema: „Das Betreuungsverhältnis“, „frühere Erfahrungen“ und „die Wahrnehmung der Folgen der Vertraulichkeit auf die Gesundheit“.

Abbildung 1:
Dynamische Anpassung an das Selbstständigwerden.

Es besteht jedoch ein dynamischer Anpassungsprozess der Vorstellungen und der theoretischen Einstellung gegenüber dem Selbstständigwerden und dem Begriff der Vertraulichkeit. Diese Anpassung erfolgt unter dem Aspekt der Erfahrungen und der Ambivalenz, die das Umsetzen der Vertraulichkeit in der Konsultation insbesondere bei den Eltern hervorrufen kann.

a) Der geheime Garten der Jugendlichen
Jugendliche assoziieren den Begriff der Vertraulichkeit mit dem Bedürfnis, einen „geheimen Garten“ zu haben, eine „Schutzzone“ zu welcher die Eltern keinen Zugang haben und die Daten zu ihrer Gesundheit enthalten kann. Es ist wesentlich, dass er respektiert wird: “Der Arzt, vor allem. Aber auch irgendwer anderer, jedermann muss den geheimen Garten respektieren können.“ (Louise)
Obwohl die Eltern die Wichtigkeit eines „geheimen Gartens“ für die Jugendlichen anerkennen, drücken sie eine gewisse Ambivalenz aus, was beinhaltet, dass die Anpassung für sie nicht immer einfach war „Sie weiss, dass es einen Stopp gibt, und dass wir nicht zudringlich sein werden. Jedenfalls versuchen wir es.“ (Florence, Mutter von Chloé).

b) Der Rahmen der elterlichen Verantwortung
Die Studienteilnehmer haben in den Gesprächen einen Rahmen der elterlichen Verantwortung umrissen, einen Bereich ausserhalb dessen die Vertraulichkeit, aufgrund der elterlichen Rolle und Verantwortung, nicht aufrecht erhalten werden kann. Verschiedene Faktoren definieren diesen Rahmen:

  • Die Wahrnehmung der Ernsthaftigkeit der Situation, bedingt durch eine Gefährdung der physischen oder psychischen Gesundheit, „Wenn der Jugendliche klar gefährdet ist, sei es physisch, psychisch (…) muss man vorwärts schauen.“ (Valérie, Mutter von Louise).
  • Die Art der Situation/Fragen die vertraulich diskutiert werden, eine positive Haltung der Eltern gegenüber Vertraulichkeit vorausgesetzt, betreffend Themen der Sexualität oder dem Gefühlsleben des Adoleszenten.
  • Die Interpretation des gesetzlichen Rahmens bezüglich Alter des Jugendlichen. Gewisse Eltern denken, dass – weil sie vor dem Gesetz verantwortlich sind – auch berechtigt sind, Zugang zu bestimmten Informationen zu haben.

c) Ambivalenz und dynamische Anpassung der Erfahrungen gegenüber der Selbständigkeit Angesichts der Entwicklung des Jugendlichen in Richtung zunehmender Verantwortung, nehmen gewisse Eltern eine theoretisch positive Haltung ein, doch kann ihr Erleben konkreter Situationen ambivalent sein: „Vielleicht eine Vertraulichkeit betreffend wirklich somatischer Rückmeldungen, die vielleicht uns gegenüber weniger absolut wäre.“ (Florence, Mutter von Chloé).
Diese Ausschnitte zeigen, dass die Eltern lernen müssen, mit der zunehmenden Selbständigkeit ihres Jugendlichen umzugehen, sie loszulassen, sich mit der Übertragung von Verantwortungen abzufinden:
Was mich emotional und persönlich am meisten forderte, war es, die Zügel aus der Hand zu geben und ihn auf eigenen Füssen stehen zu lassen, dieser Übergang ist es.“ (Patricia, Mutter von Gabriel).
In Hinsicht auf ihr Selbstständigwerden erkennen die Jugendlichen ihrerseits die entscheidende Bedeutung, über einen Freiraum zu verfügen: „Man beginnt sich in Anführungszeichen zu verselbstständigen, Dinge tun zu wollen von denen unsere Eltern nichts wissen, unseren geheimen Garten zu haben.“ (Chloé). Das Übernehmen von Verantwortung dank der Vertraulichkeit vermittelt das Gefühl,  sich im Zentrum der Betreuung zu befinden.
Die Jugendlichen befürworten es jedoch, dass die meisten sie betreffenden Informationen weitergegeben werden, unter der Bedingung, dass ihr „geheimer Garten“ respektiert wird. „Ich, schliesslich, nochmals, mich stört es nicht, dass meine Eltern in Anführungszeichen alles wissen.“ (Gabriel).
Die Gespräche erlaubten es auch, die Vorstellung oder Interpretation zu ergründen, die Jugendliche von der elterlichen Ambivalenz haben können: „Ich glaube, es beunruhigt sie, es stresst sie (…), ich denke einerseits gefällt es ihnen nicht allzu sehr und zugleich akzeptieren sie es, weil sie denken es ist gut so.“ (Chloé).

II) Betreuungsbeziehung
a) Kontext des Betreuungsbeziehung
Je nach Studienbeteiligten müssen verschiedene Gesichtspunkte im Zusammenhang mit der Betreuungsbeziehung berücksichtigt werden: Das Gebäude in welchem sich der schulärztliche Dienst befindet, das Team aus welchem der Dienst besteht oder das Setting in welchem die Sprechstunde stattfindet. Diese Elemente unterstreichen die Bedeutung eines den Jugendlichen angepassten Umfeldes, um den Zugang zu erleichtern und Vertraulichkeit zu wahren.

b) Vertrauen als Bedingung und Auswirkung
Die Jugendlichen unterstreichen die Bedeutung des Vertrauensverhältnisses, sowohl als Auswirkung als auch als Bedingung der Vertraulichkeit: „Denn wenn man die Vertraulichkeit respektiert, dann besteht für mich Vertrauen, automatisch, das sich zwischen Patient und Arzt einstellt.“ (Louise).

Seitens der Eltern wird ebenfalls die Bedeutung des Vertrauens hervorgehoben, doch eher im Sinne einer Bedingung die es erlaubt, den Begriff der Vertraulichkeit zu akzeptieren und sich an das Selbstständigwerden des Jugendlichen anzupassen: „Also dieses Vertrauensverhältnis muss auch in Bezug auf Vertraulichkeit wichtig sein, und der Tatsache dass man (die Eltern) überzeugt ist, dass wenn es schlimm ist, man es erfährt, wenn es vital ist, man es erfährt, und so.“ (Florence, Mutter von Chloé). Wenn im Gegensatz dazu das Vertrauen in die Fähigkeiten der Pflegenden oder in den Reifegrad ihres Jugendlichen fehlen, kann dies die Akzeptanz der Vertraulichkeit erschweren.

c) Das Gleichgewicht im Betreuungsverhältnis
Das Dreiecksverhältnis Jugendlicher-Arzt-Eltern (Abbildung 2) steht im Zentrum des Betreuungsprozesses Jugendlicher. Die Jugendlichen einerseits äussern den Wunsch, bei der Betreuung im Vordergrund zu stehen, um sich für die Verbesserung ihrer Gesundheit einsetzen zu können, was ihrem Wunsch nach Verselbstständigung entspricht: Dass ich an vorderster Front bin und dann nicht immer die Informationen nach 4 Ärzten bekomme, meine Eltern (….) ich denke, das ist das Wichtigste.» (Gabriel)
Die Eltern ihrerseits wünschen genügend Informationen zu erhalten, um beruhigt zu sein: „Man muss sie aber immerhin informieren, die Eltern, selbst wenn man nichts zu sagen hat , (…) zu einem bestimmten Zeitpunkt muss man mentale Sicherheitsschleusen schaffen, beruhigen,“ (Patricia, Mutter von Gabriel). Sie unterstreichen auch ihre Schwierigkeiten, die Vertraulichkeit zu akzeptieren, wenn sie sich vom Arzt-Patienten-Verhältnis ausgeschlossen fühlen. Dies kann besonders der Fall sein, wenn es um Entscheidungen geht, die sie für wichtig halten, wie zum Beispiel die Verordnung eines Medikamentes.
Jugendliche wie Eltern heben die zentrale und gleichzeitig komplexe Rolle hervor, die der Arzt im Umgang mit diesem Gleichgewicht und dem Einbezug aller Beteiligten in das Betreuungsverhältnis innehat: „Sie müssen sich manchmal wie zwischen Hammer und Amboss vorkommen, zwischen dem Bedürfnis eine Beziehung zu ihrem Patienten herzustellen, (,,,) und dem Druck der Eltern (…) weil ich denke, dass gewisse Eltern alles wissen wollen.“ (Florence, Mutter von Chloé)

Abbildung 2:
Betreuungsverhältnis

d) Kommunikation als unabdingbares Instrument
Der Arzt muss ein Vertrauensverhältnis schaffen, was eine präzise und transparente Kommunikation zur Rolle eines jeden in der gegenseitigen Beziehung voraussetzt, sowie den Informationsfluss innerhalb dieser Beziehungen gewährleisten: „Eltern müssen verstehen, dass sie nicht uneingeschränkte Vollmacht haben. (…) Sie müssen eben verstehen wo ihr Platz ist. (…) Wenn dies nicht klar erklärt wird, (…) wird es nicht unbedingt von jedermann verstanden.“ (Patricia, Mutter von Gabriel).

Die ausdrückliche Erläuterung zum Rahmen der Vertraulichkeit, insbesondere zu deren Grenzen ist wesentlich; „Sie sollen erklären, wo die Grenzen des Vertraulichen liegen (…) sie sollen erklären, weshalb es eine bestimmte Grenze geben wird.“ (Gabriel). Transparenz und Klarheit sind auch notwendig, wenn die Vertraulichkeit verletzt wird, um dem Jugendlichen in dieser Situation so gut wie möglich beizustehen.

III) Einfluss früherer Erlebnisse
a) Frühere Betreuungserlebnisse
Persönliche frühere Betreuungserlebnisse, insbesondere bei chronischen Erkrankungen, sind ein wesentliches Element, das beachtet werden muss. Eine Mutter drückt dies durch ihre Befürchtung aus, die Kontrolle über die seit Geburt übernommene Betreuung ihres chronisch kranken Kindes zu verlieren, „Dieses Dreiecksverhältnis in Bezug auf Vertraulichkeit (…) seit 15 Jahren wendet man sich an mich und schaut immer mit mir, also verletzt es vielleicht besonders mich (…) es kommt mir sonderbar vor, dass man sich zuerst an ihn wendet, vor mir, aber wer wird schliesslich sein Leben gestalten? Er selbst.“ (Patricia, Mutter von Gabriel).

b) Individuelle und familiäre Charakteristika
Persönliche Eigenarten, namentlich die Persönlichkeit eines jeden, das Familiensystem und die Beziehungen unter den Familienmitgliedern, insbesondere die Beziehung Jugendlicher-Eltern ausserhalb des medizinischen Kontextes, können die Akzeptanz der Vertraulichkeit beeinflussen. Zudem können sich Kultur und Herkunft auf die Wahrnehmung der Vertraulichkeit auswirken: „Ja, ich denke vor allem für Ausländer. Ich denke, sie sind nicht daran gewöhnt (…) für mich ist es neu, wissen Sie.“ (Nathalie, Mutter von Jade).

IV) Wahrnehmung der Auswirkungen von Vertraulichkeit auf die Gesundheit
Die Wahrnehmung der Auswirkungen von Vertraulichkeit auf die Gesundheit wurde in mehreren Gesprächen erörtert und erlaubte es, dem Begriff Vertraulichkeit einen Sinn zu verleihen. Hingegen war es interessant festzustellen, dass bei den Studienteilnehmern Verwirrung zwischen einer vertraulichen Konsultation und einer Konsultation alleine mit dem Arzt bestand, was erneut darauf hinweist, dass der Prozess der Verselbstständigung und Verantwortungsübernahme die massgebliche Herausforderung darstellt. Die mit dem Arzt alleine verbrachte Zeit ermöglicht es nach Ansicht der Eltern dem Jugendlichen, Probleme ungehemmt aussprechen, verraten, anvertrauen zu können. „Es ist wichtig für Gabriel, über einen Freiraum zu verfügen, wo er sich aussprechen kann, ohne mich beschützen zu müssen.“ (Patricia, Mutter von Gabriel). Diesen Gesichtspunkt teilen auch die Jugendlichen.
Durch die bereits zitierten, unmittelbaren Auswirkungen (sich anvertrauen, Verselbstständigung, Hilfe finden, …) erlaubt die Vertraulichkeit eine Verbesserung der Betreuungsqualität der Jugendlichen. Allerdings ist die Wahrnehmung einer Verbesserung ein wesentlicher Faktor dafür, wie Vertraulichkeit erlebt wird. Eine Mutter, die eine negative Erfahrung gemacht hat, drückt ihre Ohnmacht bei der Betreuung, ihre Frustration in Bezug auf die Vertraulichkeit und ihre Unsicherheit bezüglich deren Nutzen aus: „Ich hätte es anders erlebt, wenn ich Resultate gehabt hätte, (…) da ich keine Resultate erhielt (…) stelle ich alles in Frage!“ (Nathalie, Mutter von Jade).

Diskussion

Die Analyse der im Rahmen dieser Studie geführten Gespräche erlaubt vorerst die Feststellung, dass die zentrale, vom Begriff der Vertraulichkeit untrennbare Herausforderung, um die herum die Studienteilnehmer ihre Erfahrungen und Vorstellungen ausdrückten, der Prozess der Verselbstständigung der Jugendlichen ist.
Die Gespräche ergaben, dass Vertraulichkeit im Rahmen der ärztlichen Betreuung in erster Linie als eine notwendige Bedingung zum Selbstständigwerden betrachtet, und somit prinzipiell gut akzeptiert wird. Die Eltern anerkennen die Notwendigkeit für den Jugendlichen, seinen Arzt alleine sehen zu können, und unterstützen theoretisch die Wichtigkeit der vertraulichen Konsultation11)14), was mit den Ergebnissen früherer Studien übereinstimmt9-12).

Wie mehrere frühere8)11)13) Studien warf auch unsere Studie die Frage der Ambivalenz auf, vor allem der Eltern, zwischen theoretischer Befürwortung der Vertraulichkeit und dem Auftreten von Widerständen bei deren Anwendung. Wir haben auch Ängste und Widerstände erlebt, einerseits gegenüber der Notwendigkeit einen Prozess des Loslassens und Übertragens von Verantwortung auf den Jugendlichen zu durchlaufen, andererseits auch gegenüber dem Arzt bei der Transition in der Betreuung. So haben gewisse Eltern, trotz der theoretisch positiven Einstellung gegenüber dem „geheimen Garten“, Schwierigkeiten, wenn sie sich dem Ausbleiben von Informationen ihrer Jugendlichen betreffend gegenüber sehen. Sie stehen dann vor dem Dilemma, ihren Adoleszenten selbstständig werden lassen und ihrem Wunsch einbezogen zu werden, um ihm die bestmögliche Betreuung zu garantieren11)15).
Ein ungünstiger Verlauf der Situation des Jugendlichen wird bei den Eltern eine negative Einstellung begünstigen; im Gegensatz dazu wird die Erkenntnis, dass Vertraulichkeit ein Mittel ist, eine adäquate ärztliche Betreuung zu gewährleisten, das Verarbeiten der mit den vertraulichen Konsultationen gemachten Erfahrungen günstig beeinflussen. Bei den Jugendlichen scheint weniger Ambivalenz zu bestehen, unter der Bedingung dass ihr „geheimer Garten“ geschützt wird und sie sich im Rahmen ihrer Betreuung im Zentrum fühlen, Faktoren die bei ihnen eine positive Anpassung begünstigen. Die befragten Adoleszenten verlangen demnach keine absolute Vertraulichkeit und scheinen sich bewusst zu sein, dass das Vermitteln von Informationen in ihrem Interesse sein kann.
Der Prozess der dynamischen Anpassung wird weitestgehend durch das Betreuungsverhältnis beeinflusst, wovon das Vertrauen ein wesentlicher Bestandteil ist. Für die Jugendlichen ist die Vertraulichkeit eine massgebliche Voraussetzung um Vertrauen gegenüber seinem Arzt aufzubauen, was wiederum ein wesentliche Bedingung für ihre Betreuung ist. Andererseits ist das Vertrauensverhältnis zu den Eltern die conditio sine qua non, um die Vertraulichkeit und damit den Prozess des Selbstständigwerdens zu akzeptieren. Bei diesem Prozess des Selbstständigwerdens sehen sich die Eltern einem doppelten Verantwortungs-Transfer gegenüber, zuerst zu ihrem Kind und dann zum Arzt. Fehlendes Vertrauen der Eltern dem Arzt gegenüber bleibt ein wesentliches Hindernis, um ihm die Betreuung des Jugendlichen anzuvertrauen, wie Sasse et al. betonen11). Wie Tebb et al.9) ihrerseits hervorheben, ist eine klare und präzise Kommunikation betreffend Vertraulichkeit ein unabdingbarer Bestandteil des Betreuungsverhältnisses, da dadurch auch das Verständnis der Eltern für die Vertraulichkeit stark beeinflusst wird.
Eine weitere grosse Herausforderung im Dreiecksverhältnis betrifft das Gleichgewicht im Betreuungsverhältnis, d.h. Rolle und Einbezug eines jeden. Die Jugendlichen äussern ihren Wunsch, erster Ansprechpartner zu sein und das Ausmass der elterlichen Involvierung bestimmen zu können. Sie verneinen jedoch nicht den Nutzen, ihre Eltern in einem gewissen Mass einzubeziehen, indem sie diese gar als mögliche Hilfe in problematischen Situationen betrachten. Die Eltern ihrerseits äussern die Befürchtung, von der Betreuung ausgeschlossen zu werden. Dieser Punkt ist wichtig, denn das Gefühl, im Rahmen der ärztlichen Betreuung in ihrer Rolle als Eltern „enteignet“ zu werden, wird das Erleben der Vertraulichkeit negativ beeinflussen11). Wie stark die Eltern einbezogen werden müssen, um die Vertraulichkeit positiv zu erleben, ist von einem Elternpaar zum anderen verschieden und reicht von einer einfachen Zustimmung zu einer Information hin zu einem viel aktiveren Einbezug in die Entscheidungsfindung. Dies widerspiegelt die manchmal irrige Auffassung ihrer Rolle, weil gewisse Eltern den gesetzlichen Rahmen missverstehen und das Gefühl haben, unbeschränkten Zugang zu Informationen betreffend die Gesundheit ihres Jugendlichen zu haben, wie dies auch in einer australischen Studie erwähnt wird11). Es zeigt auch, wie wichtig es ist, dass der Arzt die Eltern bei der zunehmenden Selbstständigkeit ihres Jugendlichen aktiv begleitet.

Es gehört zur Verantwortung des Arztes, ein Vertrauensklima zu schaffen, das den Transfer der Verantwortung von den Eltern auf den Arzt und die Kommunikation mit dem Jugendlichen begünstigt. Darüber hinaus muss er vorangehende Erfahrungen mit Vertraulichkeit erforschen, um mögliche Widerstände zu eruieren und abzubauen  und mögliche verborgene Zusammenhänge zu verstehen (Einfluss vorangegangener Erlebnisse mit Pflege, Erfahrungen mit Übertragen von Verantwortung, Selbstständigwerden des Jugendlichen, notwendige elterliche Involvierung), um eine positive Anpassung an das Selbstständigwerden zu fördern.
Die vorliegende Studie hat mehrere Vorzüge. Der Einschluss von Jugendliche-Eltern-Dyaden erlaubt den Vergleich von Erfahrungen und damit die Darstellung einerseits der Gemeinsamkeiten in der theoretischen Haltung und andererseits Unterschiede in Bezug auf das Anpassen von Erfahrungen mit der Verselbstständigung. Es ermöglicht somit, die elterliche Ambivalenz aus der Sicht der Jugendlichen zu beobachten. Dadurch dass die jugendlichen Studienteilnehmer aufgrund spezifischer Probleme tatsächlich in ärztlicher Behandlung waren, konnte die Ambivalenz zwischen theoretischer Haltung und konkret Erlebtem, insbesondere bei Eltern chronisch kranker Jugendlicher, noch klarer dargestellt werden.
Die Studie hat auch Grenzen. Wegen der begrenzten Anzahl Teilnehmer konnte keine Vollständigkeit der Daten erreicht werden, es wäre somit interessant, Gespräche zu anderen für die Adoleszenz spezifischen Problemen zu führen. Ein weiterer limitierender Faktor war das Fehlen väterlicher Aussagen, was es erlaubt hätte, die Ansichten zu differenzieren und eventuelle geschlechtsbedingte Unterschiede festzustellen.

Fazit

Die elterliche Ambivalenz in Bezug auf die Vertraulichkeit widerspiegelt grösstenteils die Schwierigkeiten mit der Verselbstständigung des Jugendlichen im Rahmen der ärztlichen Betreuung. Dabei findet sich auf der einen Seite der nach Autonomie und Verantwortung strebende Jugendliche und auf der anderen Seite Eltern, die einen Verantwortungstransfer- und Loslassprozess durchmachen. Diese Etappe ist grundlegend, um die in der Adoleszenz unabdingbare Transition in der ärztlichen Betreuung einzuleiten. Diese doppelte Transition in Bezug auf das Selbstständigwerden des Jugendlichen ist gekennzeichnet durch einen dynamischen Prozess aus den Erfahrungen von Eltern und Adoleszenten, welcher weitgehend vom Dreiecksverhältnis Jugendlicher-Eltern-Arzt abhängig ist. Für den Arzt sind das Wahren des Vertrauens und der Umgang mit dem Gleichgewicht der Rollen und der Kommunikation eine Herausforderung und eine Notwendigkeit, will er die vertrauliche Konsultation zu einer positiven Erfahrung werden zu lassen. Damit fördert er die Jugendlichen darin, schrittweise die Verantwortung für ihre Gesundheit zu übernehmen sowie auch eine optimale Transition.

Referenzen

  1. Mirabaud M, Barbe R, Narring F. Do the adolescents have medical decision-making capacity? A sensitive issue for the doctor. Rev Med Suisse. 2013 Feb 20;9(374):415–6, 418–9.
  2. Meynard A, Haller DM, Navarro C, Narring F. Risk-taking in adolescence. Screening and counseling strategies for primary care professionals. Rev Med Suisse. 2008 Jun 11;4(161):1451–5.
  3. Ford C, English A, Sigman G. Confidential Health Care for Adolescents: position paper for the society for adolescent medicine. J Adolesc Health Off Publ Soc Adolesc Med. 2004 Aug;35(2):160–7.
  4. Ford CA, Millstein SG, Halpern-Felsher BL, Irwin CE. Influence of Physician Confidentiality Assurances on Adolescents’ Willingness to Disclose Information and Seek Future Health Care: A Randomized Controlled Trial. JAMA. 1997 Sep 24;278(12):1029–34.
  5. Caflisch M, Chappuis-Bretton B. A propos de l’adolescence : quelques réflexions éthiques. Rev Médicale Suisse. 2003;
  6. Hutchinson JW, Stafford EM. Changing Parental Opinions About Teen Privacy Through Education. Pediatrics. 2005 Oct 1;116(4):966–71.
  7. Rutishauser C, Esslinger A, Bond L, Sennhauser F. Consultations with adolescents: the gap between their expectations and their experiences. Acta Pædiatrica. 2003 Nov 1;92(11):1322–6.
  8. Rubin SE, McKee MD, Campos G, O’Sullivan LF. Delivery of Confidential Care to Adolescent Males. J Am Board Fam Med JABFM. 2010;23(6):728–35.
  9. Tebb K, Hernandez LK, Shafer M-A, Chang F, Otero-Sabogal R. Understanding the Attitudes of Latino Parents Towards Confidential Health Services for Teens. J Adolesc Health Off Publ Soc Adolesc Med. 2012 Jun;50(6):572–7.
  10. McKee MD, O’Sullivan LF, Weber CM. Perspectives on Confidential Care for Adolescent Girls. Ann Fam Med. 2006 Nov;4(6):519–26.
  11. Sasse RA, Aroni RA, Sawyer SM, Duncan RE. Confidential Consultations With Adolescents: An Exploration of Australian Parents’Perspectives. J Adolesc Health. 2013 Jun;52(6):786–91.
  12. Henninger S, Michaud P-A, Akré C. Capacité de discernement des adolescents mineurs : étude qualitative sur les représentations en Suisse romande. Rev Médicale Suisse. 2010 Jun 16;1253–7.
  13. Dempsey AF, Singer DD, Clark SJ, Davis MM. Adolescent Preventive Health Care: What Do Parents Want? J Pediatr. 2009 Nov;155(5):689–694.e1.
  14. Song X, Klein JD, Yan H, Catallozzi M, Wang X, Heitel J, et al. Parent and Adolescent Attitudes Towards Preventive Care and Confidentiality. J Adolesc Health Off Publ Soc Adolesc Med. 2018 Nov 2.
  15. Carlisle J, Shickle D, Cork M, McDonagh A. Concerns over confidentiality may deter adolescents from consulting their doctors. A qualitative exploration. J Med Ethics. 2006 Mar 1;32(3):133–7.

Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Medical Student Baptiste van Riel, Faculty of biology and medicine, Lausanne University UNIL
Dr med. Anne-Emmanuelle Ambresin, Division interdisciplinaire de santé des adolescents (Disa), Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) et Université de Lausanne (UNIL)
Dr med. Yusuke-Leo Takeuchi, Division interdisciplinaire de santé des adolescents (Disa), Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV) et Université de Lausanne (UNIL)