Mit dem Begriff «Verkehrsmedizin» verbinden die meisten Ärzte die ausschliessliche Beurteilung der Fahrfähigkeit und Fahreignung (Tabelle 1) von Motorfahrzeuglenkern. Die Ver kehrsmedizin gilt damit als «Erwachsenengebiet» – Kinder fahren ja nicht Auto! Kinder und Jugendliche können und dürfen in der Schweiz jedoch – abhängig vom Alter – in verschiedener Weise aktiv am Strassenverkehr und an der privaten Binnenschifffahrt teilnehmen. Kinder und Jugendliche müssen analog zu den Erwachsenen gewisse medizinische Mindestanforderungen erfüllen, um sicher am Strassenverkehr und – als nachrangiges Problem – an der privaten Binnenschifffahrt teilnehmen zu können. Nachfolgend soll auf die gesetzlich erlaubten Möglichkeiten der aktiven Verkehrsteilnahme von Kindern und Jugendlichen (bis zum vollendeten 16. Lebensjahr) und auf die für eine sichere Verkehrsteilnahme notwendigen medizinischen Voraussetzungen eingegangen werden. Ergänzend werden die juristische Pro blematik der Fahrfähigkeits-/Fahreignungsaufklärung sowie die Bedeutung verkehrsmedizinischer Überlegungen für die Berufswahl angesprochen.
26
Einleit\bng
\bit dem Begriff «Verkehrsmedizin» verbinden
die meisten Ärzte die ausschliessliche Beur-
teilung der Fahrfähigkeit und Fahreignung
( Ta b e l l e 1) von \botorfahrzeuglenkern. Die
Ver
ke
hrsmedizin gilt damit als «Erwachsenen-
gebiet» – Kinder fahren ja nicht Auto !
Kinder und Jugendliche können und dürfen in
der Schweiz jedoch – abhängig vom Alter – in
verschiedener Weise aktiv am Strassenver –
kehr und an der privaten Binnenschifffahrt
teilnehmen. Kinder und Jugendliche müssen
analog zu den Erwachsenen gewisse medi
–
zi
nische \bindestanforderungen erfüllen, um
sicher am Strassenverkehr und – als nach
–
ra
ngiges Problem – an der privaten Binnen-
schifffahrt teilnehmen zu können.
Nachfolgend soll auf die gesetzlich erlaubten
\böglichkeiten der aktiven Verkehrsteilnahme
von Kindern und Jugendlichen (bis zum voll –
endeten 16. Lebensjahr) und auf die für eine
sichere Verkehrsteilnahme notwendigen me –
dizinischen Voraussetzungen eingegangen
werden. Ergänzend werden die juristische
Pro
bl
ematik der Fahrfähigkeits-/Fahreig –
nungsaufklärung sowie die Bedeutung ver –
kehrsmedizinischer Überlegungen für die
Berufswahl angesprochen.
Mit welchen Fahrze\bgen
dürfen Kinder \bnd J\bgendliche
am Verkehr teilnehmen?
Kinder dürfen laut Strassenverkehrsgesetz
(SVG) ab dem vollendeten sechsten Lebens –
jahr auf Hauptstrassen ohne Begleitung Velo –
fahren (davor nur unter Aufsicht einer mindes –
tens 16 Jahr e alten Per son, A r t . 19 A bs. 1 SVG ) .
Bei Erreichen des nachfolgend angegebenen
\bindestalters und Erlangen des entsprechen –
den Führerausweises können gemäss Ver –
kehrszulassungsverordnung (VZV) folgende
Fahr zeuge gef ühr t wer den ( A r t . 6 A bs. 1 V Z V ) : Ab dem 14. Lebensjahr:
•
\bo
torfahrräder (Spezialkategorie \b)
•
E-
Bikes
( f
ür 14 –16 – Jähr ige f ür alle Ty p en Führ er aus
–
weis Spezialkategorie \b erforderlich, ab 16
Jahr e f ür E – B ikes mit elek tr ischer Tr etunter –
stüt zung bis 25 km/Std. und mit ma x imaler
Nennleistung bis 0.25 kW – entsprechend
sog. Leicht-\botorfahrrad – kein Ausweis
erforderlich).
•
Lan
dwirtschaftliche \botorfahrzeuge mit
einer Höchstgeschwindigkeit bis 30 km/
Std. sowie gewerblich immatrikulierte Ar –
beitskarren, \botorkarren und Traktoren mit
einer Höchstgeschwindigkeit bis 30 km/
Std. auf landwirtschaftlichen Fahrten (Spe –
zialkategorie G, unter Ausschluss der Aus-
nahmefahrzeuge)
•
Se
gelschiffe mit einer Segelfläche von >15
m
2 (Art. 81 Abs. 1 Binnenschifffahrtsver –
ordnung)
Ab dem 16. Lebensjahr:
•
\bo
torräder der Unterkategorie A1 (\botor –
räder mit einem Hubraum bis 50 cm³ bei
Fremdzündungsmotoren oder einer Nenn-
bzw. Dauerleistung bis 4 kW bei anderen
\botoren).
•
Ar
beitsmotorfahrzeuge und Traktoren mit
einer Höchstgeschwindigkeit bis 45 km/Std.
sowie \botorkarren und landwirtschaftliche
Fahrzeuge (Spezialkategorie F)
Ab dem 14. Lebensjahr dürfen auch Tierfuhr –
werke geführt werden (Art. 21 Abs. 1 SVG).
Was sind die Vora\bssetz\bngen z\br
Erlang\bng eines Führera\bsweises?
Ein Führerausweis wird erteilt, wenn folgende
Voraussetzungen vorliegen (Art. 14 Abs. 1
und 2 SVG):
•
Be
stehen der Prüfung
•
er
reichtes \bindestalter
•
au
sreichende körperliche und
gei
stige Leistungsfähigkeit
•
ke
ine die Fahreignung
au
sschliessende Sucht
•
ch
arakterliche Eignung
Die physischen und psychischen Vorausset
–
z
un
gen zur Erteilung eines Führerausweises
werden in den medizinischen \bindestanfor –
derungen aufgeführt (Art. 7 Abs. 1 und An-
hang 1 VZV). Diese sind (ausser z.
B.
bezüg-
lich Visus) sehr allgemein gehalten. Von den
medizinischen \bindestanforderungen kann
abgewichen werden, wenn dies von einer
Spezialuntersuchungsstelle (z.
B.
verkehrsme-
dizinische Abteilung) befürwortet wird und
zudem die notwendige Verkehrssicherheit
gewährleistet ist (Art. 7 Abs. 3 VZV). Die
medizinischen \bindestanforderungen für die
3. medizinische Gruppe (\botorfahrrad, land –
wirtschaftliche Fahrzeuge, aber auch Pw) sind
in Tabelle 2 im Originaltext der Verordnung
aufgeführt. Die \bindestanforderungen für die
1. und 2. Gruppe (z.
B.
Car und Lkw) haben für
PädiaterInnen keine unmittelbare Bedeutung
und werden hier nicht weiter besprochen.
Ein Führerausweis kann von der Zulassungs –
behörde bei Verkehrsregelverstössen für eine
bestimmte Zeit (Warnungsentzug) sowie bei
fehlender medizinischer/charakterlicher Eig –
nung oder einer Suchtproblematik auf unbe –
stimmte Zeit entzogen werden (vorsorglicher
Entzug/Sicherungsentzug). In ausgewählten
Fällen kann auch f ür eine nicht f ühr er ausweis –
pflichtige Verkehrsteilnahme ein Verbot aus –
gesprochen werden (z.
B. F
ahrradverbot).
Verkehrsmedizin im
Kindes- und Jugendalter
\batthias Pfäffli a), Simone Srivastava a), Antoine Roggo b)
a) Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern
V erkehrsmedizin, -psychiatrie und -psychologie
Su
lgenauweg 40, 3007 Bern
b)
Inst
itut für Rechtsmedizin der Universität Bern
Medizinrecht, Bühlstrasse 20, 3012 Bern
Fahrfähigkeit Momentane physische und psychische Befähigung des Individuums zum
sicheren Lenken eines Fahrzeugs
Fahreignung Allgemeine, zeitlich nicht umschriebene und nicht ereignisbezogene,
physisch, psychisch und charakterlich genügende Voraussetzungen
des Individuums zum sicheren Lenken eines Fahrzeugs. Diese Voraus
–
se
tzungen müssen stabil vorliegen.
Fahrkompetenz Durch Schulung und Fahrpraxis erworbene technische Fertigkeiten zum
sicheren Lenken eines Fahrzeuges
Ta b e l l e 1: Grundlegende Begriffe
Aus: «Handbuch der verkehrsmedizinischen Begutachtung», Arbeitsgruppe Verkehrsmedizin der Schweizerischen
Gesellschaft für Rechtsmedizin, Verlag Hans Huber, Bern, 2005
1Prof. ffRTofaff.bin
1Prof. RTab
27
Fallvignette 1
Ein 14 Jahre altes \bädchen mit Schielen und
Pendelnystagmus infolge einer beidseitigen
Foveahypoplasie will den Führerausweis für
ein \botorfahrrad («\boped») erlangen. Der
bestkorrigierte Fernvisus beträgt rechts 0.32,
links 0.5 (gesetzliche \bindestanforderung:
besseres Auge mindestens 0.6, schlechteres
Auge mindestens 0.1). Das Gesichtsfeld ist
unauffällig. Verkehrsmedizinisches Vorgehen?
(Auflösung am Schluss)
Entwickl\bngsbedingte
Besonderheiten von Kindern
\bnd J\bgendlichen im Verkehr
1)
Kinder – und in geringerem \basse auch Ju-
gendliche – sind entwicklungsbedingt im Ver
–
gl
eich zu Erwachsenen im Strassenverkehr
übermässig gefährdet.
Kinder haben aufgrund ihrer Körpergrösse ein
erhöhtes Risiko von Verkehrsteilnehmern
nicht oder nicht rechtzeitig wahrgenommen
zu werden.
Die visuellen und auditiven Fähigkeiten entwi –
ckeln sich erst im Laufe des Heranwachsens:
z.
B.
ist eine zuverlässige räumliche Zuord-
nung von Geräuschquellen erst mit dem
Schulalter gegeben. Visuell können Entfernun –
gen et wa ab dem 6. Leb ensjahr, G eschw indig –
keiten ab dem 10. Lebensjahr situativ richtig
eingeschätzt werden.
Die reellen Gefahren des Verkehrs nimmt ein
Kind ebenso erst mit zunehmendem Alter und
dem Verlust des «egozentrischen» Weltbildes
und des spielerisch-ablenkbaren Verhaltens
wahr. Eine Abschätzung der Folgen eigenen
Handelns entwickelt sich in der Regel ab dem
6. Lebensjahr. Die Aufmerksamkeitsfunktio –
nen sind für die heutige Verkehrsdichte, na –
mentlich in urbanen Räumen, ungenügend
und erst mit etwa 14 Jahren adäquat ausge-
bildet.
Insgesamt ist eine sichere, selbständige Ver –
kehrsteilnahme mit dem Fahrrad vor dem
etwa 10. Lebensjahr mit einem deutlich er-
höhten Risiko verbunden; eine Begleitung ist
im Interesse des Heranwachsenden noch
sinnvoll.
Wohlgemerkt: Hier soll nicht das Verhalten
des Kindes als Verkehrsteilnehmer kritisiert
werden; als schwächster Teilnehmer gebührt
ihm Unterstützung und Nachsicht für seine
(nicht absichtlichen) Fehler. Sicherheitsüber –
legungen sollen auch nicht den Lebensraum
und die Bewegungsfreiheit des Kindes unnötig
einschränken, sondern das Kind unterstützen
und damit schützen. Aufklärung über die Ge -fahren, eine Verkehrserziehung und die Ver
–
wendung von Schutzmitteln (z.
B.
Velohelm,
Leuchtweste) können die entwicklungsbe –
dingten Einschränkungen zumindest teilweise
kompensieren.
Im Folgenden soll der Einfluss ausgewählter
Krankheiten/Krankheitsgruppen auf die Fahr –
eignung angesprochen werden.
Epilepsie
Die meisten aktiven Epilepsien sind aufgrund
der mit einem Anfall einhergehenden Symp –
tomatik nicht mit der sicheren Teilnahme am
Strassenverkehr zu vereinbaren. Zur Beurtei –
lung der Fahreignung für die 3. Gruppe sind
die «Richtlinien zur Fahrtauglichkeit» der
Schweizerischen Liga gegen Epilepsie zu be –
achten
2). Diese können auch in Bezug auf
nicht führerausweispflichtige Fahrzeuge als
Richtschnur – selbstverständlich unter Be –
rücksichtigung des verwendeten Fahrzeugs
und des individuellen Falles – herangezogen
werden. Dabei ist zu beachten, dass eine er-
höhte Unfallhäufigkeit bei radfahrenden Kin –
dern und Jugendlichen mit Epilepsie in der
Literatur kontrovers diskutiert wird
3 ) , 4) .
A\bfmerksamkeitsdefizitsyndrom
mit/ohne Hyperaktivität, AD(H)S
Ein AD ( H ) S kann – je nach klinischer Ausprä –
gung – mit verkehrsrelevanten Störungen der
exekutiven Funktionen, der Aufmerksamkeit
und einer im Verkehrssetting unerwünschten
Impulsivität einhergehen. In einer Studie
konnte für Jugendliche mit einem ADHS
(Durchschnittsalter 14 Jahre 7 \bonate) ein
9-fach erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle im
Vergleich zu Jugendlichen ohne ADHS gezeigt
werden
5). Das Vorliegen eines ADHS wird in
der Literatur (für erwachsene Verkehrsteil –
nehmer) mit einem riskanteren Fahrverhalten,
mehr Verkehrsregelverletzungen, einem er –
höhten Unfallrisiko und substanzbedingten
Verkehrsdelikten in Verbindung gebracht,
wobei namentlich das erhöhte Unfallrisiko
nicht unwidersprochen blieb
6 ) , 7 ) . Eine Behand –
lung mit Stimulantien (z.
B.
\bethylphenidat)
steht einer Verkehrsteilnahme nicht entge –
gen; vielmehr scheint sie positiven Einfluss
auf die Fahreignung zu haben
8).
Erkrank\bngen a\bs
dem A\btism\bs-Spektr\bm 9)
Bei Vorliegen eines frühkindlichen Autismus
(ICD -10 84.0) ist eine sichere Verkehrsteil- nahme aufgrund der ausgeprägten psychopa
–
thologischen Symptomatik zumeist fraglich
resp. nicht möglich. Dies gilt nicht bei Vorlie –
gen eines Asperger-Syndroms ohne Intelli –
genzminderung (ICD-10 84.5); Patienten mit
dieser Erkrankung können später zumeist
auch Auto fahren. Entscheidende Faktoren
sind hier u.
a.
die Fähigkeit zur raschen Inter
–
pretation der sozialen Umwelt und der non –
verbalen Kommunikation sowie eine gute ex-
ekutive Flexibilität, z.
B.
in Zusammenhang mit
raschen Entscheidfindungen.
Umschriebene Entwicklungsstörungen (z.
B.
Dyslexie, Dyskalkulie) haben bei nicht beein –
trächtigter Intelligenz keinen Einfluss auf die
sichere Verkehrsteilnahme.
Intelligenzminder\bng \bnd
psychomotorische Retardier\bng 10 )
Eine Verkehrsteilnahme setzt die zeit- und
situationsgerechte Wahrnehmung des Ver –
kehrsraumes und -geschehens voraus. Der
heutige dichte Verkehr stellt hohe intellektu-
elle Anforderungen. Als untere Grenze für ei –
nen Fahrzeuglenker der 3. Gruppe gilt als
Faustr egel ein IQ von 70. G enauso w ichtig w ie
ein gegebener IQ-Wert sind jedoch andere
Faktoren wie Risikobewusstsein, Kritikfähig –
keit, Einsicht in die eigenen Defizite, Sozial-
verhalten und Impulsivität. Weiter ist auf eine
allfällige sensorische und motorische Symp –
tomatik zu achten.
Diabetes mellit\bs
Aus verkehrsmedizinischer Sicht stehen beim
Diabetes mellitus im Kindes-/Jugendalter Hy –
poglykämien mit Einfluss auf die Handlungs
–
fä
higkeit oder gar einem Bewusstseinsverlust
im Vordergrund. Eine stabile Blutzuckerein –
stellung ist Voraussetzung für eine sichere
Verkehrsteilnahme. Für Lenker von führeraus-
weispflichtigen Fahrzeugen existieren Richt
–
li
nien der Schweizerischen Gesellschaft für
Endokrinologie und Diabetologie
11 ). Diese kön –
nen sinngemäss auch zur Beurteilung von
Lenkern nicht ausweispflichtiger Fahrzeuge zu
Rate gezogen werden. Diabetische Spätschä –
den (z.
B.
diabetische Retinopathie, mikro- und
makrovaskuläre Komplikationen) erreichen bei
Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen
noch kein verkehrsrelevantes Ausmass.
Stör\bngen des vis\bellen Systems
Über das visuelle System nimmt ein Verkehrs –
teilnehmer die überwiegende \behrheit der
1Prof. ffRTofaff.bin
1Prof. RTab
28
Informationen zum ihn umgebenden Ver-
kehrsraum auf. Eine sichere Teilnahme am
Strassenverkehr ist also nur bei ausreichen –
den Sehfunktionen möglich.
Verkehrsmedizinisch stehen dabei die Seh –
schärfe und das Gesichtsfeld im Vordergrund.
Weiter haben Augenmotilität und -stellung,
das Dämmerungssehvermögen und die Blend
–
em
pfindlichkeit zusätzliche Relevanz für die
Verkehrsteilnahme. Störungen des Farbense –
hens scheinen demgegenüber nicht sicher mit
einem erhöhten Risiko für Unfälle einherzuge –
hen.
Zum Lenken von führerausweispflichtigen
Fahr zeugen der 3. G r upp e sind die \bindest an –
forderungen gesetzlich vorgegeben: \bindest –
sehschärfe von 0.1/0.6 am schlechteren/
besseren Auge (Einäugige 0.8), horizontale
Ausdehnung des Gesichtsfeldes von mindes –
tens 140°, kein Doppelsehen. Zusätzlich ist
aus verkehrsmedizinischer Sicht ein intaktes
(binokulares) zentrales Gesichtsfeld (bis ca.
20°) zu fordern.
Für nicht führerausweispflichtige Verkehrs –
mittel existieren bislang keine derartigen ge –
setzlich festgelegten \bindestanforderungen.
In der Literatur wird jedoch aufgezeigt, dass
ab einem (binokularen) Visus von 0.2 oder
einer horizontalen Gesichtsfeldausdehnung
<60° oder einem binokularen Zentralskotom
>10° die Unfallhäufigkeit bei Radfahrern deut- lich ansteigt 12 ). In einer chinesischen Studie
mit Jugendlichen (Durchschnittsalter 14.6
Jahre) war das Unfallrisiko für männliche
Fahrradfahrer und myope Brillenträger erhöht
(Einschränkung des peripheren Gesichtsfel –
des durch die Brille?)
13 ).
Alkohol \bnd Drogen 14 )
Vierzig Prozent der 15-Jährigen in der Schweiz
war en gemäs s einer auf Selbst angab en basie –
renden Studie schon mindestens einmal im
Leben betrunken, 24
%
schon mehrfach.
Zwanzig Prozent der 15-Jährigen trinken min –
destens einmal in der Woche alkoholische
Getränke. \bännliche Jugendliche konsumie –
ren häufiger und zudem mehr Alkohol als
gleichaltrige \bädchen. Dies zeigt sich auch
bei anderen Suchtmitteln: So wurde Cannabis
von etwa 24
% d
er 15-jährigen \bädchen und
von ca. 35
% d
er 15-jährigen männlichen Ado –
leszenten schon mindestens einmal konsu –
miert (Lebenszeitprävalenz). Der Konsum
anderer illegaler Drogen ist gemäss der glei –
chen Untersuchung in dieser Altersgruppe
selten.
Die «Voraussetzungen» für eine Verkehrsteil –
nahme unter Substanzeinfluss sind somit ab
den Teenagerjahren im praktischen Alltag
gegeben. Einer Person, welche ein Fahrzeug unter Ein
–
fluss von Alkohol und/oder Drogen gelenkt
hat, drohen eine Busse sowie ein Führeraus-
weisentzug. Falls der Verdacht auf einen Al-
kohol-/Drogenmissbrauch besteht, kann von
der Zulassungsbehörde eine Eignungsunter –
suchung angeordnet werden. Als Verdachts –
grund reicht eine Fahrt unter Drogeneinfluss
aus. Die Eignungsuntersuchung ist mit nicht
unerheblichen Kosten verbunden.
Fallvignette 2
Ein 15-jähriger Jugendlicher kommt mit sei –
nem \boped in eine Polizeikontrolle. Da er den
Führerausweis nicht auf sich trägt, erfolgt
eine Überprüfung der Personalien. Dabei er –
fahren die Beamten, dass der Junge schon
wegen B esit zes von Cannabis ver zeig t wor den
ist. Eine Urinprobe fällt positiv auf Cannabino-
ide aus, im Blut werden 2.8 µg/L THC und 32
µg/L THC-Carbonsäure nachgewiesen (Fahr –
fähigkeit gemäss Rechtslage nicht mehr gege –
ben). Wie ist das weitere Vorgehen? (Auflö-
sung am Schluss)
Ber\bfswahl
Bei der Berufswahl sind etwaige Einschrän-
kungen der Fahreignung rechtzeitig zu be –
rücksichtigen. Dies trifft insbesondere immer
dann zu, falls sog. höhere Führerausweiskate –
gorien (z.
B.
Car, Lkw) zur Berufsausübung
erforderlich sein sollten. Am Beispiel des
Lkw-Führerausweises (Kategorie C) soll dies
verdeutlicht werden: Bei einer einmal mani –
fest gewesenen Epilepsie ist im Allgemeinen
eine Zulassung zur Kategorie C nur möglich,
sofern eine fünfjährige Anfallsfreiheit ohne
spezifische \bedikation besteht
2). Ein Typ –
1-Diabetiker mit Insulintherapie kann nur
unter besonders günstigen Umständen und
mit sehr str ik ten Au flagen f ür Lk w zugelas sen
werden
11 ). Es sollte auch berücksichtigt wer –
den, ob nicht aufgrund des vermutlichen
Krankheitsverlaufs mittel- bis langfristig auch
bei aktueller Eignung die Fahreignung fraglich
sein wird. Für den Schienen- und Luftverkehr
(Lokführer, Pilot) gelten besondere Vorschrif –
ten, die hier nicht diskutiert werden sollen.
A\bfklär\bng 15 )
Die Aufklärung eines Patienten setzt sich
nicht nur aus der eigentlichen Behandlungs-/
Eingriffsaufklärung und der Aufklärung über
wirtschaftliche Aspekte zusammen, sondern
beinhaltet auch die Sicherungsaufklärung.
Darunter versteht man u.a. alle Verhaltensan –
NervensystemKeine schweren Nervenkrankheiten. Keine Geisteskrankheiten von Bedeu
–
tung. Kein Schwachsinn. Keine Psychopathien. Keine periodischen Bewusst –
seinstrübungen oder -verluste. Keine Gleichgewichtsstörungen
Gesicht Ein Auge korrigiert minimal 0.6, das andere korrigiert minimal 0.1. Gesichts
–
feld minimal 140° horizontal. Kein Doppelsehen. Einäugige oder einseitig Er –
blindete: korrigiert oder unkorrigiert minimal 0.8. Keine Einschränkung des
Gesichtsfeldes. Für Einäugige ferner eine Wartefrist von minimal vier Monaten
nach Zustandekommen der Einäugigkeit und eine Prüfung durch den Verkehrs –
experten unter Vorweisung eines augenärztlichen Zeugnisses. Nach Starope –
ration ist für Einäugige eine Wartefrist von vier Monaten festzusetzen. Bewer –
ber, welche die verlangte Sehschärfe nur mit Brille oder Kontaktschalen
erreichen, sind zum Tragen der Brille bzw. der Kontaktschalen während der
Fahrt verpflichtet. Die Brille mit getönten Gläsern dar f in der Dunkelheit eine
Absorption von höchstens 35 Prozent aufweisen. Einäugige Gehörlose sind
vom Fahren ausgeschlossen.
Gehör Gehörlose Einäugige sind vom Fahren ausgeschlossen
Brustkorb und
Wirbelsäule Keine Missbildungen, welche die Atmung und Beweglichkeit erheblich
beeinträchtigen
Herz und
Gefässe Keine hochgradigen Kreislaufstörungen
Bauch-
und Stoff-
wechselorgane Keine schweren Stoffwechselkrankheiten
Gliedmassen Keine schweren Verstümmelungen, Versteifungen oder Lähmungen,
die nicht durch Einrichtungen genügend korrigiert werden können
Ta b e l l e 2: \bedizinische \bindestanforderungen für die 3. Gruppe
1Prof. ffRTofaff.bin
1Prof. RTab
29
weisungen (Verhaltensinstruktionen) in Ver-
bindung mit einer konkreten Gesundheitsstö –
rung, die ein Patient benötigt, um ein seiner
Erkrankung angepasstes Verhalten einzuneh –
men und um – soweit ihm selbst möglich –
Folgeschäden der Erkrankung abwenden zu
können. In diesem Zusammenhang wird auch
von der sogenannten Therapie- oder Siche –
rungsaufklärung gesprochen. Kinder und Ju –
gendliche bzw. deren Betreuungspersonen/
gesetzliche Vertreter sind daher auch bezüg –
lich möglicher Risiken einer Verkehrsteil
–
na
hme aufzuklären, die durch eine Gesund-
heitsstörung bedingt sind. Eine kurze Ver
–
ke
hrsanamnese gehört also ab einem ent-
sprechenden Lebensalter zu jeder Anamnese –
erhebung. Es empfiehlt sich, die entsprechen –
de Aufklärung in der Krankengeschichte zu
dokumentieren. Die Sicherungsaufklärung bei
urteilsunfähigen, unmündigen Patienten (Kin –
der jünger als etwa 12–14 Jahre) soll gegen-
über den Eltern (oder einem anderen gesetz –
lichen Vertreter) erfolgen. Selbstverständlich
soll das Kind entsprechend seinem Entwick –
lungsstand einbezogen werden. Besteht zwi –
schen einer Gesundheitsstörung und einem
Verkehrsunfall eine Kausalität, können bei
fehlender Sicherungsaufklärung im Extremfall
gegenüber dem Arzt Haftungsansprüche gel –
tend gemacht werden! Ärztinnen und Ärzte
haben in der Schweiz gemäss geltendem
Stras
se
nverkehrsgesetz das Recht (nicht die
Pflicht), Patienten mit fraglicher Fahreignung
direkt der Zulassungsbehörde zu melden
(gesetzliche Ausnahme von der ärztlichen
Schweigepflicht gemäss Art. 321 StGB, fest-
gehalten in Art. 15d Abs. 3 SVG).
Fallvignetten (Fortsetzung)
Fall 1: Da die 14 – jähr ige Jugendliche mit b eid –
seitiger Foveahypoplasie die medizinischen
\bindestanforderungen für \bopedlenker (3.
G r upp e ) nicht er f üllt , stellt sie sich au f Ver an –
lassung der Zulassungsbehörde bei einer
verkehrsmedizinischen Untersuchungsstelle
vor, welche nach eigenen Abklärungen und
Rücksprache mit der behandelnden Augenkli –
nik schliesslich eine Ausnahmebewilligung für
\boped befürwortet.
Fall 2: Aufgrund des Führens eines \bopeds
unter Cannabiseinfluss äussert die Zulas –
sungsbehörde beim 15 Jahre alten Jugendli –
chen den Verdacht auf eine Drogenproblema –
tik und ordnet im Rahmen eines Adminis
–
tr
ativverfahrens eine Eignungsuntersuchung
an (Kosten: knapp Fr. 600.–). In dieser wird
ein fortgesetzter Cannabiskonsum festge – stellt und die Fahreignung verneint. Der Füh-
rerausweis wird entzogen. Vor einer Wieder –
zulassung muss der Jugendliche eine mit
monatlichen Urinkontrollen dokumentierte
Cannabisabstinenz von sechs \bonaten ein –
halten.
Danksagung
Die Autoren danken Frau Dr. med. S. Jüne-
mann, Fachärztin für Kinder- und Jugendme –
dizin, Basel, für die kritische Durchsicht des
\banuskripts. Die Verantwortung für den In-
halt tragen vollumfänglich die Autoren.
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Gä
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Grundriss für Studium und Praxis. Helbing Lichter –
hahn Verlag. Basel, 2010: 129–131.
Korrespondenzadresse
Dr. med. \batthias Pfäffli
Facharzt für Rechtsmedizin
Verkehrsmediziner SGR\b
Abteilungsleiter
Institut für Rechtsmedizin
der Universität Bern
Verkehrsmedizin, -psychiatrie
und -psychologie
Sulgenauweg 40
3007 Bern
matthias.pfaeffli @ irm.unibe.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unter –
stützung und keine anderen Interessenkon –
flikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag
deklariert.
1Prof. ffRTofaff.bin
1Prof. RTab
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Matthias Pfäffli , Spécialiste en médecine légale Médecin du trafic SSML Chef de section Institut de médecine légale de l’Université de Berne Section de médecine du trafic Simone Srivastava Antoine Roggo Andreas Nydegger