Der kindliche Spitzfuss (lat.Pes equinus) begegnet dem Pädiater im Rahmen verschiedener Krankheitsbilder. Definitionsgemäss handelt es sich um eine erhöhte Plantarflexion im oberen Sprunggelenk (OSG). Die Definition trifft jedoch keine Aussage über den Winkel des Fusses zum Boden. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Entitäten: Entweder handelt es sich um ein «dynamisches/funktionelles Problem», d. h. einen Spitzfuss ohne Verkürzung des Musculus triceps surae, oder um ein «strukturelles Problem», d. h. einen Spitzfuss mit Verkürzung des Musculus triceps surae.
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UrsacheErläuterung
Nicht-neurologisch Immobilität
Plantar flexoren im OSG sind ca. 5 x stärker als die Dorsalextenso –
ren, d. h. kann bereits der Druck der Bettdecke bei langer Immobi –
lität eine Spitzfüssigkeit auslösen
Systemerkrankungen z. B. Hämophilie mit rezidivierenden Einblutungen, posttrauma –
tisch, kongenitaler Klumpfuss
Habitueller Zehenspitzengang gewohnheitsbedingtes spitzfüssiges Gehen, keine Spastizität,
DD: milde spastische Diplegie
Kompensatorischer Zehenspitzengang funktionelle Verlängerung des kürzeren Beines bei Beinlängendif –
ferenz, Spitzfussstellung zum Erreichen eines Beckengeradstandes
Neurologisch Infantile Zerebralparese
Paradebeispiel für neurologische Ursachen; der neurogene Spitz –
fuss, ist hier die häufigste Deformität
(unvollständige Liste) St. n. apoplektischem Insult
Friedreichsche Ataxie
Multiple Sklerose
Definition und Diagnose
Der kindliche Spitzfuss (lat.Pes equinus) be –
gegnet dem Pädiater im Rahmen verschiede –
ner Krankheitsbilder. Definitionsgemäss han –
delt es sich um eine erhöhte Plantarflexion im
oberen Sprunggelenk (OSG). Die Definition
trifft jedoch keine Aussage über den Winkel
des Fusses zum Boden. Grundsätzlich unter –
scheidet man zwei Entitäten: Entweder han –
delt es sich um ein «dynamisches/funktionel –
les Problem», d. h. einen Spitzfuss ohne
Verkürzung des Musculus triceps surae, oder
um ein «strukturelles Problem», d. h. einen
Spitzfuss mit Verkürzung des Musculus tri –
ceps surae.
Dur ch eine genaue A namnese sollen B agatel –
len (z. B. Dornwarzen) oder andere Ursachen,
welche eine Schmerzsituation im Bereich des
Rückfusses hervorrufen, ausgeschlossen wer –
den. Mit einer sorgfältigen klinischen Unter –
suchung sowie Überprüfung des Gangbildes
kann die Diagnose bestätigt werden. Hierbei
gilt es vor allem zu unterscheiden, ob eine
Verkürzung des Musculus triceps surae oder
lediglich einer seiner Anteile vorliegt. Die
Dorsalextension bei gebeugtem Knie mit in
Supination blockiertem unterem Sprungge –
lenk (USG), ergibt die Länge des Musculus
Update: Spitzfuss
Erich Rutz 1, Carlo Camathias 2, Bernhard Speth 2, Basel
soleus. Die Dorsalextension bei gestrecktem
Knie und durch Supination blockiertem USG
ergibt die Länge der Musculi gastrocnemii, da
es sich dabei um zweigelenkige Muskeln han –
delt ( welche üb er das K niegelenk ziehen ) . Die
Dorsalextension bei gestrecktem Knie und
freiem USG ergibt ligamentäre und kapsuläre
Einschränkungen.
Bei einer Spitzfussproblematik handelt es
sich klassischerweise um ein Problem der
Standphase. Bei einer Fallfüssigkeit hingegen
liegt ein Schwungphasenproblem vor. Um
derartige dynamische Probleme, insbesonde –
re während dem Gehen zu untersuchen, und
um weitere Gangpathologien zu erkennen
(oder auch auszuschliessen), ist die instru –
mentierte, dreidimensionale Ganganalyse,
insbesondere vor operativen Verlängerungen
das diag nos tische Mit tel der Wahl. Dab ei w ir d
nach streng definierten Kriterien die Bewe –
gung einzelner Körpersegmente entspre –
chend einem muskuloskeletalen Modell be –
rechnet. Dadurch kann zu jedem Zeitpunkt
des Gangzyklus, die exakte Position eines
Körperteils im Raum beschrieben werden.
Die Einteilung des Spitzfusses erfolgt nach
W inter s und G age
1) anhand der kinematischen
Daten aus der Ganganalyse.
Ursachen
Im Wesentlichen wird zwischen nicht-neuro –
logischen und neurologischen Ursachen un –
terschieden ( Ta b .1). Bei einer neurologischen
Ursache findet man in der Regel in der klini-
schen Untersuchung auch eine Spastik. Der
Spitzfuss kann auch kompensatorisch auftre –
ten, z. B. zum Ausgleich einer Beinlängendif –
ferenz im Sinne einer funktionellen Verlänge –
rung des kürzeren Beines.
Klinische Probleme
Die typischen klinischen Probleme des spitz –
füssigen Gangbildes beinhalten eine Überlas –
tung des Vor f us ses mit z. B . Dr uckstellen üb er
dem Metatarsale-V-Köpfchen, im Extremfall
sogar Frakturen der Ossa metatarsalia. Das
Gangbild einer leichten Spitzfüssigkeit kann
sowohl mit geb eug tem K nie er folgen als auch
mit retrogradem Abrollen und folgender Hy –
perextension im Kniegelenk. Bei anhaltender
Gangpathologie kann es auch zur Kniebeuge –
kontraktur und verstärkter Hüftinnenrotation
kommen ( Abb. 1 aus der Broschüre «Spitz –
fussprobleme», mit Genehmigung von und
erhältlich bei Ortho Team, Bern).
Behandlungsmethoden
Konservative Behandlung
Diese erfolgt beim Kleinkind üblicherweise
mit Redressionsgipsen. Nach unserer Erfah –
rung besteht damit beim habituellen Zehen-
spitzengang ein sehr gutes Ansprechen in
jungen Jahren, insbesondere vor Erreichen
des Kindergartenalters und klassischerweise
Tabelle 1: Nicht-neurologische und neurologische Ursachen des Spitzfusses
1 Leitender Arzt Neuroorthopädie, Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)2 Kinderorthopädie, Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)
1Prof. ffRTofaff.bai
1Prof. RTabin,R.Sor.e(chitrocPl,R.h
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in Kombination mit Physiotherapie und/oder
Hippotherapie.
Orthopädietechnische Hilfsmittel
Hier wird unterschieden zwischen funktionel-
len O r thesen und L ager ungsor thesen ( Abb. 2,
funktionelle US-Orthese, mit Genehmigung
von Basler Orthopädie, René Ruepp AG).
Funktionelle Schienen werden beim Gehen
getragen. Ihr Hauptziel ist das Erreichen eines
Fersenballenganges. Lagerungsorthesen wer –
den in Ruhe und ohne Belastung verwendet.
Der Einsatz dieser Orthesen dient der Deh –
nung der Muskulatur, sowie der Verbesserung
der Gelenksbeweglichkeit. Gemäss unseren
Liter atur r echer chen b esteht we der b eim neu –
rogenen Spitzfuss noch beim habituellen Ze –
henspitzengang eine Evidenz für die Wir-
kungsweise von sensomotorischen Einlagen
oder Pyramideneinlagen.
Botulinumtoxin-Injektion
Die Injektionen erfolgen in den betroffenen
(spastischen) Muskel sonographisch oder
elektromyographisch gesteuert. Repetitive
Botulinumtoxin-Injektionen sind jedoch unse –
rer Meinung nach kritisch zu betrachten, da
sie langfristig zum Umbau des Muskels im Sinne einer vermehrten Vernarbung, sowie
gestörter Muskelstruktur führen können. Vor
einer allfälligen Muskelverlängerung verwen
–
den wir den sog. präoperativen Botulinumto –
xin-Test, um eine funktionelle Verschlechte –
rung vorzeitig zu erkennen
2).
Operative Behandlung
Im Falle eines operativen Vorgehens gilt es
vor allem, eine iatrogene Überlänge der Achil –
lessehne zu verhindern. Eine hierdurch her –
beigeführte Schwäche des Musculus triceps
surae führt zu einem Kauergang. Besonders
stark gefährdet sind hierfür Patienten mit ei-
ner spastischen Diplegie.
Aus diesem Grund führen wir eine operative
Verlängerung in der Regel erst um oder nach
Wachstumsabschluss durch.
Die operative Verlängerung des Triceps surae
kann im klassischen Ansatz in drei verschie-
denen Zonen vorgenommen werden. Je weiter
distal am Muskel verlängert wird, desto grö –
s ser is t der G ew inn an L änge, gleichzeitig ab er
auch der damit verbundene Kraftverlust: Mit
einer aponeurotischen Verlängerung erreicht
man ein Längengewinn von wenigen Millime –
tern, dafür entsteht praktisch kein Kraftver-
lust. Durch eine Achillessehnenverlängerung
hingegen, können mehrere Zentimeter unter
deutlicher Krafteinbusse gewonnen werden.
Dementsprechend sollte z. B. bei einer Achil –
lessehnenverlängerung bei spastischer Diple –
gie intraoperativ eine Spitzfussstellung von
ca. 10 –15° Plantarflexion belassen werden.
Abbildung 1: Ty pische B ein, – und A r mstellun –
gen b ei st ar k ausgepr äg ter spastischer H emi –
parese rechts. Spitzfussstellung rechts mit
Kniebeugekontraktur und Hüftinnenrotation
am rechten Bein, sowie rechtes Handgelenk
in Palmarflexions,- und Ulnarabduktionsfehl –
stellung Abbildung 2: flexible Unterschenkelorthese
Durch unsere Klinik wurde vor einigen Jahren
zur Verlängerung der Wadenmuskulatur ein
operatives Verfahren entwickelt, das die Ver-
längerungsoperation mit einer Verkürzung des
antagonistisch wirkenden Fusshebers M. tibi –
alis anterior kombiniert
3). Dadurch kann in
fast allen Fällen eines neurogenen Spitzfusses
postoperativ ein schienenfreies Gangbild mit
aktiver Dorsalextension erreicht werden.
Fazit
Beim habituellen Zehenspitzengang sollte
eine neurologische Grunderkrankung (Spas –
tik?) ausgeschlossen werden. Das Behand –
lungsziel ist ein Fersenballengang. Die diffe –
renzierte Abklärung des strukturellen
Spitzfusses sollte stets interdisziplinär und
gemeinsam mit den behandelnden Neuropä –
diatern und Neuroorthopäden erfolgen. Dabei
ist die instrumentierte, dreidimensionale
Ganganalyse das Diagnostikum der Wahl. Die
Therapie kann konservativ oder nach Ab –
schluss des Längenwachstumes (oder kurz
davor) operativ erfolgen. Übermässige Verlän-
gerungen führen zu einem deutlichen Kraft –
verlust. Der iatrogene Kauergang sollte vor
allem bei der infantilen Zerebralparese in je –
dem Fall vermieden werden.
Referenzen
1) Winters Jr, T., J. Gage, and R. Hicks, Gait patterns in
s pastic hemiplegia in children and young adults.
The Journal of bone and joint surger y. American
volume, 1987. 69(3): p. 437.
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Ru
tz, E., E. Hofmann, and R. Brunner, Preoperative
botulinum toxin test injections before muscle
lengthening in cerebral palsy. Journal of orthopa –
edic science: of ficial journal of the Japanese Ortho –
paedic Association, 2010. 15(5): p. 647.
3)
Ru
tz, E., et al., Tibialis anterior tendon shortening
in combination with Achilles tendon lengthening in
spastic equinus in cerebral palsy. Gait & posture,
2011. 33(2): p. 152.
Korrespondenzadresse
PD Dr. Erich Rutz
Leitender Arzt Neuroorthopädie
Orthopädie, Universitätskinderspital
beider Basel (UKBB)
Postfach, Spitalstrasse 33
CH- 4056 Basel
Tel.: +41-61-704 12 12
erich.rutz@ ukbb.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und
keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit
diesem Beitrag deklariert.
1Prof. ffRTofaff.bai
1Prof. RTabin,R.Sor.e(chitrocPl,R.h
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Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
E. Rutz C. Camathias B. Speth