Das Arzt1a)-Patienten-Gespräch ist das am häufigsten angewendet Heilmittel – mit Risiken und Nebenwirkungen – wie jedes andere Heilmittel auch. Misslingt diese Form der Kommunikation, ist der Behandlungserfolg insgesamt gefährdet. Auch in einer Zeit, in der das ärztliche Zeitmanagement immer mehr von technischen und ökonomischen Überlegungen durchdrungen ist, bleibt das Gespräch und die Beziehung zwischen Arzt, Patient und Eltern eine zentrale Grösse für eine erfolgreiche Behandlung. Shared Decision-Making (SDM) oder partizipative bzw. partnerschaftliche Entscheidungsfindung gilt dabei zunehmend als ideales Modell für Kommunikation und Entscheidungs- findung im klinischen Kontext und scheint sich auch in der Kinder- und Jugendmedizin zu etablieren1). Im folgenden Artikel möchten wir aufzeigen, was sich hinter dem Begriff verbirgt und wie das Konzept in der Praxis umgesetzt werden kann.
12
Einleitung
Das Arzt 1a )-Patienten-Gespräch ist das am
häufigsten angewendet Heilmittel – mit Risi –
ken und Nebenwirkungen – wie jedes andere
Heilmittel auch. Misslingt diese Form der
Kommunikation, ist der Behandlungserfolg
insges amt gef ähr det . Auch in einer Zeit , in der
das ärztliche Zeitmanagement immer mehr
von technischen und ökonomischen Überle –
gungen dur chdr ungen is t , bleibt das G espr äch
und die B eziehung z w ischen A r z t , Patient und
Eltern eine zentrale Grösse für eine erfolgrei –
che Behandlung. Shared Decision-Making
(SDM) oder partizipative bzw. partnerschaft –
liche Entscheidungsfindung gilt dabei zuneh –
mend als ideales Modell für Kommunikation
und Entscheidungsfindung im klinischen Kon –
text und scheint sich auch in der Kinder- und
Jugendmedizin zu etablieren
1). Im folgenden
A r tikel möchten w ir au f zeigen, was sich hinter
dem Begriff verbirgt und wie das Konzept in
der Praxis umgesetzt werden kann.
Historischer Hintergrund
Wie andere Möglichkeiten der modernen Medi –
zin unterliegt auch die Arzt-Patienten-Kommu –
nikation einem steten Wandel: Bis in die 2.
Hälfte des 20. Jahrhunderts war die medizini –
sche Entscheidungsfindung durch das paterna –
listische Pr inzip dominier t. Der Ar z t wusste und
bestimmte, ähnlich einem gutmeinenden väter –
lichen Familienoberhaut, was für seine Patienten
gut und richtig ist (daher « paternalismus»).
Massgeblich angetrieben durch die menschen –
verachtenden Verbrechen und Gräueltaten im
zweiten Weltkrieg und den 1947 folgenden
Nürnberger Kodex wurde in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts der informed consent
bzw. die informierte Einwilligung zu einem
zentralen Prinzip für medi zinische Behand-
lungsvereinbarungen mit Patien
ten. Während
der Nürnberger Kodex primär die Forschung
am M enschen r egelte, weitete sich der B eg r if f
des informed consent schnell auch auf die therapeutische Handlung am Patienten aus
und wurde Teil einer Bewegung weg vom pas
–
siven Patientenverständnis hin zum Ideal des
mündigen, selbstbestimmten «Klienten».
Parallel dazu erfuhr auch die Kinder- und Ju –
gendmedizin eine tiefgreifende Wandlung.
Erst mit der Erkenntnis, dass Kinder nicht
einfach «kleine Erwachsene» sind, konnte im
19. Jahrhundert die Kinder- und Jugendmedi –
zin überhaupt als eigene Disziplin entstehen.
Im 20. Jahrhundert erweiterte sich dann zu –
dem die Vorstellung vom Kind als «Mensch in
Entwicklung» mit der Vorstellung vom Kind als
«Per son aus eigenem Re cht». Diese B ewegung
mündete in der 1989 formulierten UNO-Kin –
derrechtskonvention, welche als Grundlage
für das SDM-Konzept in der Kinder- und Ju –
gendmedizin gesehen werden kann. So for –
dern die Kinderrechte nicht nur den Schutz
und die Förderung des Kindes, sondern auch
eine angemessene, altersentsprechende Par –
tizipation an Entscheidungen
2).
Auch wenn hier nur schemenhaft aufgezeich –
net, so wird doch deutlich, dass sich die Vor –
stellung von einer guten medizinischen Ent –
scheidung in relativ kurzer Zeit stark gewan –
delt hat. Bis heute gibt es keine einheitliche
Praxis der Entscheidungsfindung, sondern eine Vielzahl von verschiedenen Ansätzen, die
in Tabelle 1 schematisch dargestellt sind.
Definition und Klassifikation
SDM bezeichnet den Interaktionsprozess zwi
–
schen Eltern, Patient und Arzt bei dem eine
gemeinsam erarbeitete und verantwortete
Ent scheidung au f B asis von geteilten Infor ma –
tionen zustande kommt
3). Damit liegt das
Modell zwischen den Extremen einer einseiti –
gen Experten- und einseitigen Konsumenten-
bestimmten Entscheidungsfindung (Tabelle
1) . Der zentrale Unterschied zu den anderen
Konzepten liegt vor allem darin, dass sich
die Beteiligung von Eltern, Kind und Fach –
personen über alle Phasen der Entscheidungs –
findung (Informationsaustausch, Abwägungs –
prozess, Treffen und Umsetzen der Ent –
scheidung) erstreckt und sich die Art und
Weise der Beteiligung über die Zeit und in den
unterschiedlichen Phasen ändern kann. Dies
bedeutet auch, dass die Rolle der mitverant –
wortlichen Personen kontinuierlich überprüft
und angepasst werden muss
4).
Entscheidungen
im Kindes- und Jugendalter
Noch heute werden Kinder am Ideal des
«autonomen Erwachsenen» gemessen. Da die
Anforderungen an eine autonome Willens –
äusserung im Kindesalter kaum zu erfüllen
sind
2a), g r eif t man mit g r os ser Selbs t ver s t änd –
lichkeit auf eine Stellvertreterentscheidung
der Eltern zurück, die sich am (subjektiven)
mutmasslichen Willen und den (objektiven)
«Shared Decision-Making»
in der Kinder- und Jugendmedizin
Jürg Streuli a),b) , Eva Bergsträsser a)
a) Universitäts-Kinderspital Zürich
b) Institut für Biomedizinische Ethik, Universität Zürich
Patientenvignette 1: Tina, ein 15 -jähriges Mädchen mit Asthma, kommt mit ihrer Mutter
zur Asthma-Sprechstunde. Bereits im Wartezimmer herrscht dicke Luft zwischen der Mutter
und ihrer Tochter. Während der Konsultation schweigt die Jugendliche grösstenteils. Die
Mutter, welche den ambulanten Termin organisiert hat, berichtet über die veränderten Frei –
zeitgewohnheiten ihrer «pubertierenden» Tochter. Sie mache kaum noch Sport, gehe dafür
f as t je den A b end mit ihr en Kolleginnen in die St adt . Die Mut ter er wähnt gegenüb er dem A r z t
ihre Vermutung, dass die Tochter die Asthmamedikation gar nicht oder nur unregelmässig
einnimmt. Dies wiederum wird von der Tochter vehement verneint.
Patientenvignette 2: Remo, ein 9-jähriger Knabe mit Non-Hodgkin Lymphom kommt mit
seinen Eltern zum Erstgespräch vor Beginn der Chemotherapie. Die Eltern nehmen die zustän –
dige Är z tin vor dem G espr äch zur Seite und forder n vehement , dass ihrem Sohn nichts von der
Bösartigkeit der Erkrankung erzählt wird, schon gar nicht soll von «Krebs» gesprochen werden.
Patientenvignette 3: Jan, ein bisher gesunder 2-jähriger Knabe musste mit akutem Organ –
versagen aufgrund einer schweren Sepsis soeben auf die Intensivstation verlegt werden. Die
Prognosen sind schlecht. Es wird nun diskutiert, ob eine extrakorporale Membranoxygenie –
rung (ECMO) noch sinnvoll sein könnte.
12Das Assrzastss )-P
12Das Arzt)
13
Schritten beschrieben. Wie bereits erwähnt,
handelt es sich dabei um einen kontinuierli-
chen Prozess, der stets wieder bei Schritt 1
beginnt. Zudem ereignen sich in der Realität
gewisse Schritte gleichzeitig, während andere
in den Hintergrund rücken können bzw. erst
im Verlauf des weiteren Entscheidungsfin –
dungsprozesses als relevant erscheinen.
1. Schritt: Schaffen einer
vertrauensvollen Basis für eine
Arzt-Patient-Eltern-Beziehung
Vertrauen ist das wohl kostbarste Gut im the –
rapeutischen Dreieck und muss ebenso wie
eine nachfolgende Entscheidung im Prozess
gemeinsam erarbeitet und gepflegt werden.
Beschönigungen, falsche Versprechen oder
das Verschweigen von Befunden sollten eben –
so vermieden werden wie eine über mässige
Dramatisierung oder ein vorschnelles Bewer –
ten der Situation. Mediziner tendieren dazu,
aufgrund ihres grossen fachlichen Wissens
bereits nach wenigen Sekunden den Eltern
o der dem K ind ihr e B eur teilung mit zuteilen und
ihnen damit ins Wort zu fallen. In kritischen
Notfallsituationen kann dies durchaus sinnvoll
und von den Eltern gewünscht sein. Aus Sicht
des SDM-Konzeptes sind die Bereitschaft Zu –
zuhören und das Schaffen von Raum und Zeit
für die nachfolgenden Schritte aber die wich –
tigsten Bausteine der Vertrauensbildung. 2. Schritt: Herausarbeiten der
aktuellen Wünsche und Präferenzen
zu Informationen und Beteiligung
in der Entscheidung
Die Kommunikation im therapeutischen Drei
–
eck kennt zahlreiche Fallstricke und es ist mit
Studien belegt, dass eine schlechte Kommu –
nikation auch mit schlechteren Behandlungs –
resultaten in Verbindung steht
7). Was aber
genau f ür ein K ind o der eine Familie eine gute
Kommunikation ist und wie stark und auf
welche Weise die einzelnen Familienmitglie –
der in eine Entscheidung miteinbezogen wer –
den möchten, ist sehr individuell. Deshalb
gehört die Ermittlung und Klärung von Wün –
schen bezüglich Information und Mitentschei –
dung zur Grundlage für alle weiteren Schritte.
Die Entscheidungsgrundlagen können sich
dabei im Verlauf ändern und müssen deshalb
regelmässig überprüft werden.
3. Schritt: Ermitteln, Klären und
Zusammenfassen der Vorstellungen,
Befürchtungen und Erwartungen
seitens der Familie und des Teams
Die Kernkompetenz des dritten Punktes kann
gut mit dem Prinzip des aktiven Zuhörens
umbeschrieben werden. Diese fördert neben
der gegenseitigen Wertschätzung («Erzählen
Sie bitte, wie genau es dazu kam …») auch
inhaltliches Verständnis («Ich fasse hier ein –
Interessen des Patienten orientieren. Erst
durch die UNO-Kinderrechtskonvention erhielt
das K ind den Subjek t s t atus mit eigenen Re ch
–
ten und sich entwickelnden Fähigkeiten (evol –
ving capacities)
2). D emgemäs s kann und sollte
ein Kind bereits im Kleinkindalter angemessen
über einen Eingriff informiert werden und
seine Meinung äussern können sowie eine
Entscheidung bis zu einem bestimmten Mass
beeinflussen können. Gerade im Verlauf eines
längeren Krankheitsprozesses kann das Kind
in bestimmten Situationen sogar als Hauptent –
scheidungsträger in Erscheinung treten
5).
In der Realität sind Kinder bei schwerwiegen –
den Entscheidungen jedoch nur selten aktiv
beteiligt und wünschen eine solche Beteili –
gung meist auch erst ab dem Jugendalter
6).
Diese Fakten entbinden Fachpersonen aber
nicht davor die Kinder entwicklungsgerecht zu
informieren, anzuhören und ihre Meinung
miteinzubeziehen
2). Das hier vorgestellte SDM-
Modell unterliegt nicht dem Alles-oder-
Nichts-Prinzip, sondern fördert eine ange –
messene Kinder- und Familien-orientierte
Entscheidungsfindung.
Praktische Durchführung
in sechs Schritten
Die Umsetzung von SDM in der Kinder- und
Jugendmedizin wird hier schematisch in sechs
Tabelle 1: Modelle zur Entscheidungsfindung im klinischen Kontext (adaptiert von
4) , 16) )
Modell Paternalistisches
ModellInterpretatives
ModellShared Decision-
Making-Modell Informations-
ModellKonsumenten-
Modell
Entscheidungsträger
Gemeinsame
EntscheidungPatient/Eltern
Patient/Eltern
Informations –
austausch
Einseitig:
Ausschliesslich Arzt
entscheidet und
informiert Einseitig:
Arzt vermittelt
Wissen; Eltern/
Patienten informieren
über Wünsche Gegenseitig:
Kontinuierlicher
Austausch über
Fakten und Werte
Einseitig:
Arzt vermittelt Wissen
Einseitig:
Arzt vermittelt Wissen
bei Bedar f
Arztrolle Beschützer, Wohl
–
täter, Hüter der
ärztlichen Kunst Stellvertreter
Partner Technischer ExperteDienstleister
Ethischer Auftrag
des Arztes
Wählen der objektiv
besten Behandlung Interpretieren der
ob jektiven und sub –
jek tiven Interessen
des Kindes basierend
auf Präferenzen der
Eltern Ermutigung und Unter-
stützung von Kind und
Eltern basierend auf
aktueller Evidenz
ge
meinsam und im
Prozess eine optimale
Behandlung zu wählen Information auf voll-
ständige, neutrale
und verständliche
Weise; Intervention
einzig bei möglicher
Kindeswohlgefährdung
Intervention einzig
bei möglicher
Kindeswohlgefährdung
Patient/Eltern-Bild Patient/Eltern können
individuell unter fach-
licher Begleitung am
Entscheidungsprozess
teilnehmenPatient/Eltern können
nach Vermittlung
von Wissen selber
entscheiden
Patient/Eltern können
sich mit unterschied
–
lichen Informations-
quellen selber infor –
mieren und die für sie
beste Option wählen
Arzt entscheidet,
Patient/Eltern geben Zustimmung
Keine Entscheidungsträger aufgrund
mangelndem Verständnis für komplexe
Zusammenhänge
12Das Assrzastss )-P
12Das Arzt)
14
antwortung in der erfolgreichen Umsetzung des
Lösungsvorschlags und sollte dabei auch das
Vertrauen der Mutter nicht verlieren, sondern
diese ebenso wie Tina in die «partnerschaftli-
che» Entscheidungsfindung einbeziehen.
Patientenvignette 2
Beim 9-jährigen Remo erscheint primär das
Vertrauen der Eltern wichtig, um Zugang zu
ihrem Sohn zu erhalten. Verständlicherweise
möchten diese ihren Sohn bestmöglich schüt –
zen. Dementsprechend kann man den Eltern
mit aktivem Zuhören möglichst wertschät –
zend begegnen und so auch ihre Ängste be –
nennen. Gleichzeitig ist für eine erfolgreiche
Durchführung der Behandlung eine vertrau –
ensvolle und offene Beziehung zu Remo
grundlegend und die meisten Kinder wissen
oder ahnen ohnehin meist mehr über ihre
Krankheit, als man ihnen gemeinhin zutraut.
So kann man die Eltern respektieren und eine
gemeinsame Sprache für das Lymphom su –
chen. Trotzdem gibt es klare Grenzen, die den
Eltern empathisch aufgezeigt werden müssen.
So sollten Eltern informiert werden, dass das
Team einen Patienten nicht anlügen wird,
wenn er beispielsweise selber Fragen stellt.
Man weiss heute, dass Kinder zusätzlich lei –
den wenn sie keine Möglichkeit haben, über
ihre Eindrücke und Ängste zu sprechen.
Deshalb erklären Fachpersonen Kindern
wie Remo regelmässig und in Kind- und Situ –
ations-gerechter Art und Weise den Krank –
heitsverlauf, die Befunde und die nächsten
Behandlungsschritte. Je nach Temperament,
Präferenz und Entwicklungsstand des Kindes
w ir d er dadur ch schr it t weise in die Üb er legun –
gen zu Therapie und Pflege eingebunden.
Patientenvignette 3
Für die Situation des zweijährigen Jan mag die
Anwendung des SDM-Konzeptes fragwürdig
erscheinen. Tatsächlich wäre es juristisch
strafbar und ethisch nicht zu rechtfertigen,
eine akut lebensnotwenige Handlung mit
Aussicht auf Erfolg zu unterlassen oder durch
lange Gespräche zu verspäten. Viele Eltern
sind zudem in der geschilderten Situation
nicht in der Lage an einem Entscheidungsfin –
dungsprozess aktiv teilzunehmen und gewis –
sen Eltern ist es aus religiös-kulturellen
Gründen prinzipiell untersagt, über einen
Therapieabbruch mitzuentscheiden. Wäre
des halb nicht besser das interpretative Mo –
dell zu wählen (s. Tabelle 1) und den Eltern
lediglich zu kommunizieren, was als nächstes
gemacht wird, bzw. dass bei Verzicht auf
ECMO «alles Mögliche» gemacht worden war?
Entscheidungen (e.
g. Therapieabbruch) mit
Hilfe eines ethischen Gesprächs vorgängig
einen Konsens im Team herzustellen und
diesen dann als Empfehlung gegenüber den
Eltern gut vorbereitet zu vertreten
10 ).
6. Schritt: Festlegen eines Behandlungs –
planes mit gegenseitiger Zustimmung
Ebenso wichtig wie die Entscheidung selbst ist
ihre Umsetzung. Im sechsten Schritt soll diese
gemeinsam, möglichst detailliert und für alle
verständlich ausgearbeitet werden. Bespro –
chen werden sollen an dieser Stelle auch die
möglichen Nebenwirkungen oder Notfallsitua –
tion inkl. den empfohlenen Lösungen und An –
sprechpersonen. Zudem wird im sechsten
Schritt der Zeitpunkt einer Überprüfung von
Durchführbarkeit und Wirkung bestimmt und
damit wieder bei Schritt 1 begonnen.
Kritische Würdigung des Modells
anhand der Patientenvignetten
Auf der Suche nach einer optimalen Behandlung
und Begleitung des Kindes orientiert sich SDM
individuell an den Bedürfnissen und Kompeten –
zen der beteiligten Personen. So wird auch ein
Arzt individuell und auf die ihm eigene Art und
Weise mit dem Patienten und den Eltern kom –
munizieren. Die hier diskutierten Patientenvig –
netten sind daher nicht als Empfehlung für ein
«richtiges» Verhalten aufzufassen, sondern sind
neben einer Veranschaulichung der theoreti –
schen Grundlagen auch als Gedankenanstoss
für eigene Vorgehensweisen gedacht.
Patientenvignette 1
Im Beispiel der 15 -jährigen Tina ist Tinas Ver –
trauen und Offenheit gegenüber dem Arzt von
besonderer Bedeutung. Möglicherweise bedarf
es dazu einer separaten Konsultation mit Tina
ohne Mutter, damit offen über ihre (potenziell
lebensbedrohliche) Asthma-Symptomatik und
die Gründe für die scheinbar schlechte Adhä –
renz (früher Compliance) bezüglich Medikamen –
teneinnahme gesprochen wird. Zusätzlich wäre
möglicherweise auch ein Gesprächsangebot
bezüglich Drogenkonsum und Schutz vor Ge –
schlechtskrankheiten angezeigt. Auf der Basis
dieser gegenseitigen Information über Gefahren
und Probleme sollte neben einer einfachen Er –
fassung der aktuellen Asthma-Symptomatik
(beispiels weise mittels einer App auf dem Mo –
biltelefon) mit Tina ein Stufen-Therapie-Schema
erarbeitet werden, welches mit ihrem aktuellen
Leb ens s til möglichs t gut ver einbar is t . Im Unter –
schied zum Informations- und Konsumentenmo –
dell behält der Arzt im SDM-Modell eine Mitver –
mal kurz zusammen, was ich bisher verstan
–
den habe …») sowie emotionales Verständnis
(«Das war sicherlich schwer zu ertragen»)
8).
Folgende Gesprächstechniken können dazu
angewendet werden (adaptiert nach
8) , 9) ):
• Paraphrasieren
(inhaltliche Wiederholung ohne Bewertung)
• Zusammenfassen des Gesagten
• Emotionen spiegeln
• Ausreden lassen
• offene Fragen stellen («W-Fragen»)
• konkrete Fragen stellen und Details
klären durch Nachfragen
• Trennung von Wahrgenommenem
und Interpretationen
• zur Weiterrede ermutigen.
Ein zentraler Teil des aktiven Zuhörens sind
die Umformulierungen, Paraphrasierungen
und Zusammenfassungen des Gesagten. Mit –
tels folgender Formulierungshilfen kann man
zudem dabei das Gespräch in wichtigen The –
menpunkten vertiefen [adaptiert nach
8)):
• Faktenverständnis «Habe ich Sie/Dich so
richtig verstanden?»
• Bedürfnisse: «Um X zu tun benötigen Sie/
benötigst Du …?»
• Wertehintergrund: «Ihnen/Dir liegt sehr am
Herzen, dass …»
• Persönliche Regeln: «Für Sie/Dich ist un –
verzichtbar, dass …»
• Erklärungsmodelle: «Für Sie/Dich ist selbst –
verständlich, dass …»
• Ziele und Erwartungen: «Ihr/Dein Hauptziel
i s t … »
• Einschränkungen: «Sie können sich/Du
kannst dir nicht vorstellen, dass …»
4. Schritt: Zusammenstellen und
angemessene Präsentation der
aktuellen Handlungsoptionen inkl.
der vorhandenen Evidenz
Er s t im v ier ten Punk t und nun im W is sen üb er
die grundlegenden Werte, Ängste und Erwar –
tungen, werden die Handlungsoptionen be –
sprochen. Die Information soll gemäss dem
Wissens-, Bildungs- und Entwicklungsstand
der einzelnen Familienmitglieder besprochen
werden und bei Bedarf individuell erfolgen.
5. Schritt: Konsensfindung bezüglich
einer Entscheidung
Im fünften Punkt schliesslich geht es um die
eigentliche Entscheidung, die im Konsens
zwischen allen verantwortlichen Personen
getroffen werden soll. Im Universitäts-Kinder –
spital Zürich haben wir gute Erfahrungen da –
mit gemacht, bei besonders schwierigen
12Das Assrzastss )-P
12Das Arzt)
15
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Abkürzungen
SDM: Shared Decision-Making
ECMO: Extrakorporale Membranoxygenierung
Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein
Interessenskonflikt besteht.
Korrespondenzadresse
Dr. med., Dr. sc. med. Jürg C. Streuli
Oberarzt Palliative Care Team
Universitäts-Kinderspital Zürich
Steinwiesstrasse 24
CH-8032 Zürich
juerg.streuli @ kispi.uzh.ch
des (aktiven) Zuhörens Vorstellungen und Vor
–
behalte frühzeitig klärt
15 ). Je komplexer und
vielfältiger die Behandlungsoptionen werden,
umso wichtiger wird nicht nur die Klärung der
zugrundeliegenden Wertehaltung und Einstel –
lung, sondern auch die Fähigkeit des Arztes,
einen Sachverhalt verständlich machen zu
können. In der ärztlichen Ausbildung verdient
das SDM-Modell deshalb ebenso einen hohen
Stellenwert wie auch die Ausarbeitung von
Entscheidungshilfen, mit deren Hilfe komplexe
Sachverhalte anschaulich und verständlich er –
klärt werden können (Bilder, Videos, Apps etc.).
Schlussfolgerung
Die Medizin im 21. Jahrhundert ist geprägt
dur ch eine bisher nicht gekannte O ptions – und
Wertevielfalt und es gibt gute Gründe weshalb
das SDM-Modell auch für die Kinder- und Ju –
gendmedizin als Goldstandard der Entschei –
dungsfindung gelten kann: Erstens bringt das
Modell die unterschiedlichen Rechte, Bedürf –
nisse und P flichten von K ind, Elter n und Fach –
personen in allen Phasen der Entscheidung
und Kontext-sensibel in Einklang. Zweitens
werden die Behandlungsoptionen mit Blick auf
die verfügbare Evidenz verständlich darge –
stellt und gegeneinander abgewogen. Drittens
gibt es zahlreiche Hinweise, dass SDM unnö –
tige, kostenintensive und nebenwirkungsrei –
che Behandlungen verhindern kann (von ein –
fachen Antibiotika bei viralen Infekten bis zu
umfangreichen Eingriffen der hochspezialisier –
ten Medizin bei schwerstkranken Patienten)
4).
Obwohl gut belegt ist, dass eine schlechte
Kommunikation zu schlechteren Behand –
lungsr esult aten f ühr en kann , bleibt unklar, ob
SDM auch zu besseren Behandlungsresulta –
ten für Kinder und Jugendliche führt. Gerade
mit Blick auf die eingangs genannte Feststel –
lung zum «Gespräch als Heilmittel» sind wei –
ter e Studien zu W ir kungen und N eb enw ir kun –
gen von SDM, besonders im Kindes- und
Jugendalter, dringend notwendig. Bis diese
Resultate vorliegen gibt es aus unserer Sicht
aber keinen Grund das Modell den Patienten
und ihren Familien vorzuenthalten.
1a) Zur besseren Lesbarkeit ver wenden wir in der Regel
die männliche Form; es sind immer alle Geschlech –
ter mitgemeint.
2a) Damit eine Entscheidung im klassischen Sinn als
informiert und autonom gilt, muss sie aufgeklärt
(mit dem nötigen Wissen) und kompetent (im Besitz
eines Mindestmasses an kognitiven Fähigkeiten)
gefällt werden, intentional d. h. lösungsorientiert
sein, authentisch und insbesondere emotional
stabil sowie freiwillig also unabhängig von Präfe –
renzen anderer Personen wie der Eltern erfolgen.
Es ist anzumerken, dass auch zahlreiche Erwach –
sene diese Bedingungen nicht (immer) erfüllen.
Man weiss aus Untersuchungen, dass die
Präferenzen von Eltern, bezüglich Beteiligung
an einer medizinischen Entscheidung sehr
unterschiedlich sind, grundsätzlich eine Betei –
ligung am Entscheid aber oft gewünscht
wird
11 ). Gleichzeitig gibt es zunehmend Evi –
denz, dass Eltern, welche in eine kritische
Entscheidung mit guter Aufklärung über Prog –
nose und Optionen miteinbezogen wurden, die
Situation besser verarbeiten können
2). Die
Stärke des SDM-Konzeptes liegt darin, dass
Kontext-bezogen auf die aktuellen Bedürfnisse
und Kompetenzen von Kind und Eltern einge –
gangen werden kann. Gerade in der geschil –
derten, kritischen Situation mag es von beson –
derer Bedeutung sein, frühzeitig und in ruhiger
Umgebung mit den Eltern zusammenzusitzen,
den Eltern (und dem Kind ) Of fenheit zu signa –
lisieren, gleichzeitig aber entsprechend den
oben genannten Schritten zuerst ihre aktuelle
Gefühlslage und Wertehaltung zu explorieren.
Basierend auf der verfügbaren Evidenz und
unter Einbezug der Wertehaltung von Eltern
und Kind kann dann ein Behandlungsplan
ausgearbeitet werden. Auch falls die ECMO
oder andere invasive, lebenserhaltende Mass –
nahmen bereits installiert wurden, ist es
wichtig, Indikatoren im Behandlungsplan zu
definieren, welche einen Therapieerfolg oder
ein Therapieversagen erkennen lassen.
An dieser Stelle ist zu betonen, dass im thera –
peutischen Dreieck nicht die Präferenzen der
Elter n, sonder n das Wohl des K indes im Mit tel –
punkt steht. Trotzdem bleiben die Präferenzen
der Eltern als Teil des Kindeswohls relevant
13 ).
Man weiss zudem, dass die Einschätzung der
Lebensqualität durch Fachpersonen nur unge –
nügend mit der Einschätzung durch Patienten
korreliert
14 ). Zusammenfassend gibt es aus
praktischer, ethischer und rechtlicher Sicht
keine Alternative, als sich dem schwierigen
Interaktionsprozess im therapeutischen Drei –
e ck zu s tellen. Das SDM – Mo dell is t aus unser er
Sicht das einzige in Tabelle 1 genannte Kon –
zept, welches die unterschiedlichen und sich
im Verlauf einer Behandlung verändernden
Erwartungen, Anforderungen und Kompeten –
zen angemessen berücksichtigen kann.
Ist SDM zu aufwändig?
Insgesamt, so mag man einwenden, ist das
SDM-Modell zu zeitaufwändig und deshalb im
Praxis- und Klinikalltag nicht umsetzbar. Unter –
suchungen hab en je doch gezeig t , das s sich das
Gespräch durchschnittlich nur 3 Min. verlängert
und sich sogar Zeit sparen lässt, wenn man
Entscheidungshilfen verwendet und mit Hilfe
12Das Assrzastss )-P
12Das Arzt)
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med., Dr. sc. med. Jürg C. Streuli , Oberarzt Palliative Care Team Universitäts-Kinderspital Zürich Eva Bergsträsser Andreas Nydegger