Im Mai 1993 konnte die Faculté des Sciences de la Santé in Cotonou, dank einem Technologietransfer ein Projekt für Neugeborenenscreening der Sichelzellanämie und Betreuung der befallenen Säuglinge starten. Ziel war es, die spezialisierten medizinischen Möglichkeiten industrialisierter Länder den lokalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zwängen anzupassen.
16
Problematik
Paradoxerweise profitieren die Patienten in
Afrika, wo die Sichelzellanämie die grösste
Verbreitung findet, am wenigsten von den
Fortschritten, die zu einer signifikanten Ab-
nahme der durch diese Krankheit bedingten
Morbidität und Mortalität geführt haben. Es
ist leider so, dass die Hälfte der Kinder mit
Sichelzellanämie das Alter von 5 Jahren nicht
erreicht, und zahlreich sind jene, die sterben,
bevor die Diagnose überhaupt gestellt wurde.
Mehrere Gründe erklären, unter anderen,
diese Tatsache:
• Fehlen von Programmen für ein frühzeitiges
Screening und von Strukturen zur medizini –
schen Betreuung der so diagnostizierten
Säuglinge
• Ungenügende Anzahl medizinisches Fach –
personal mit entsprechender Ausbildung in
Pathophysiologie und klinischen Kenntnis –
sen der Sichelzellanämie
• Der gängige Gebrauch unnötiger und teurer
Behandlungen
• Fehlende oder dürftige Präventionspolitik
• Mangelnde Sensibilisierung der Öffentlich –
keit
• Einfluss von Volksglauben und Armut.
Das sanitäre, wirtschaftliche, soziokulturelle
und klimatische Umfeld der Länder südlich
der Sahara ist kinderfeindlich. Unter diesen
Bedingungen wird die Sichelzellanämie ein
wichtiger Faktor, der alltägliche Pathologien
wie Malaria, akute Durchfall- und Atemwegs –
erkrankungen, Mangelanämien und Unterer –
nährung verschlimmert. Gemäss WHO bezah –
len die K inder in Af r ika dieser K r ankheit einen
enormen Tribut: Die Sichelzellanämie alleine
ist für über 16 % der kindlichen Todesfälle
verantwortlich.
Stellenwert und Machbarkeit eines Modells
medizinischer Versorgung, wie es in den in –
dustrialisierten Ländern entwickelt wurde, muss in einem solchen Zusammenhang in
Frage gestellt werden.
In Benin erprobte Strategie
Im Mai 1993 konnte die Faculté des Sciences
de la Santé in Cotonou, dank einem Techno
–
logietransfer ein Projekt für Neugebore –
nenscreening der Sichelzellanämie und Be –
treuung der befallenen Säuglinge starten. Ziel
war es, die spezialisierten medizinischen
Möglichkeiten industrialisierter Länder den
lokalen wirtschaftlichen, sozialen und kultu –
rellen Zwängen anzupassen.
Ausbildung
Die Anstrengungen konzentrierten sich zuerst
darauf, ein kleines Team ausgebildeter und
motivierter Hebammen, unter der Leitung ei –
nes in Immunhämatologie spezialisierten Kin –
derarztes, aufzubauen.
Screening
Das Screening richtete sich, in einer ersten
Phase, an N eugeb or ene von Schwanger en , die
während ihrer Schwangerschaft als Trägerin –
nen von HbS erkannt, und für die Vorteile ei –
ner frühzeitigen Erfassung, gleich nach der
Geburt, der Trägerschaft für Sichelzellanämie
sensibilisiert wurden. Anschliessend wurde
das Screening auf alle jungen Säuglinge aus –
geweitet, deren Eltern als HbS-Träger bekannt
waren.
Betreuung
Der Grundgedanke bei der Betreuung der
durch das Screening entdeckten Säuglinge
war, f r ühzeitig me dizinische und soziale Mas s –
nahmen zu ergreifen, um die klinischen Er –
scheinungen der Krankheit positiv zu beein –
flussen. Die Massnahmen konzentrierten sich
auf Prävention und Behandlung der wichtigs –
ten bekannten Morbiditäts- und Mortalitäts –
ursachen bei Kindern und Jugendlichen in
Afrika. Wesentliche Inhalte dieses Vorgehens:
i)
Planung und Umsetzung eines dauerhaften
Programmes für Ernährungserziehung; es
erlaubt, den Ernährungszustand der Kinder
ohne spür bar e M ehr kos ten zu ver b es ser n.
Parallel dazu regelmässige Wachstumskon –
trolle der Kinder;
ii) Ausarbeitung und Umsetzung eines Prä –
ventions- und Behandlungsprogrammes
für Infektionskrankheiten, das unter ande –
rem Massnahmen zur Malariavorbeugung,
tägliche Penizillineinnahme, Beachtung
des erweiterten nationalen Impfprogram –
mes und Versorgung mit Impfstoffen zu
verbilligten Preisen umfasst;
iii) Einführung eines Präventions-, Screening-
und Behandlungsprogrammes für Mikro –
nährstoffmängel, die in tropischen Regio –
nen gängig sind;
iv) Ausarbeitung eines Programmes für regel –
mässige medizinische Betreuung, für Er –
wachsenenbildung betreffend Sichelzel –
lanämie, Elternbildung und Förderung von
Hygienemassnahmen, Sicherung des fi –
nanziellen Zugangs zu medizinischer Be –
treuung.
Nota bene: Diese Strategie zur Betreuung der
durch das Screeningprogramm erfassten
Säuglinge kam auch Kleinkindern zugute, bei
welchen die Sichelzellanämie anlässlich einer
Komplikation diagnostiziert und die deshalb
zugewiesen wurden.
Ergebnisse
Die ersten Ergebnisse waren ausserordentlich
ermutigend:
• Signifikante Reduktion von Häufigkeit und
Schweregrad akuter Komplikationen
• Zufriedenstellende Wachstumskurven
• Bemerkenswerte Abnahme der Mortalität
im Kindes- und Jugendalter auf 15.5 ‰,
während die Sterblichkeit in der allgemei –
nen pädiatrischen Bevölkerung zur gleichen
Zeit 160 ‰ betrug
• Bemerkenswerte Akzeptanz des Projektes
durch die Eltern, die ihren hergebrachten
Glauben in Bezug auf Sichelzellanämie än –
derten; die Adhärenz an das Programm
beträgt weiterhin über 80 % .
Die hier aufgeführten Ergebnisse wurden pu –
bliziert
1) –9) .
Ausweitung des Projektes auf Grund
der erreichten Ergebnisse
i) Die Strategie dieses ursprünglich individu –
ellen Projektes wurde 2000 vom Gesund –
Kann die Gesundheit der an
Sichelzellanämie leidenden Kinder
in Afrika verbessert werden?
In Benin erprobte Strategie.
Mohamed Cherif Rahimy, CotonouÜbersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
16Pardorrxearwrrdis
16Pardoxewi
17
besserung der Gesundheit der an Sichelzell-
anämie leidenden Kinder Afrikas könnte dazu
beitragen, diese Kluft abzubauen.
Referenzen
1) Rahimy MC et al. La Drépanocytose: Connaissan –
ces et pratiques des femmes enceintes hétérozy –
gotes ou homozygotes. Nouv Rev Fr Hematol 1995;
37 (1) 5.
2) Rahimy MC et al. Outpatient Management of Fever
in Children with Sickle Cell Disease in an African
Setting. Am J Hematol 1999; 62: 1–6.
3) Rahimy MC et al. Effect of active prenatal manage –
ment on pregnancy outcome in sickle cell disease
in an African setting. Blood 2000; 96: 1685–9.
4) Rahimy MC et al. Ef fect of a Comprehensive Clini –
cal Care Program on Disease Course in Severely Ill
Children with Sickle Cell Anemia in a Sub -Sahara
Africa Setting. Blood 2003 Aug 1; 102(3): 834–8.
5.) Rahimy MC. Problèmes posés par la transfusion
chez l’enfant atteint de drépanocytose en Afrique.
Arch Pediatr 2005; 12: 802–4.
6) Dossou-Yovo OP et al. Variants of the mannose –
binding lectin gene in the Benin population: hete –
rozygosity for the p.G57E allele may confer a selec –
tive advantage. Hum Biol. 2007 Dec; 79 (6): 687–97.
This paper has been awarded «The Gabriel Ward
Lasker Prize 2007».
7) Rahimy MC et al. Newborn screening for sickle cell
disease in the Republic of Benin. J Clin Pathol 2009
Jan; 62 (1): 46–8.
8) Dossou-Yovo OP et al. Ef fects of RANTES and MBL2
gene polymorphisms in sickle cell disease clinical
outcomes: Association of the g.In1.1T > C RANTES
variant with protection against infections. Am J
Hematol 2009 Jun; 84 (6): 378–80.
9) Hans – Moevi A A et al. Résultats préliminaires de la
prise en charge ambulatoire de la nécrose asep –
tique de la tête fémorale chez les enfants atteints
de drépanocytose. Rev CAMES 2010; 10: 122–6.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Mohamed Cherif Rahimy
Centre de Prise en Charge Médicale
Intégrée du Nourrisson et de la Femme
Enceinte atteints de Drépanocytose
01 BP 2640 RP, Cotonou, Bénin
Zentren, näher zu bringen. Ein partner
–
schaftliches Projekt entstand in Form ei –
ner ersten Antenne im September 2010.
Durch den Erfolg dieser ersten Erfahrung
ermutigt, wurde am 21. Februar 2014 z wi –
schen den beiden Partnern ein Rahmen –
vertrag für eine Dauer von fünf Jahren un –
terzeichnet. Die Schaffung einer zweiten
Antenne ist im Gange und deren Einwei –
hung f ür die z weite Septemb er wo che 2015
vorgesehen.
iii) Diese Strategie hat auch die WHO -Strate –
gie zur Kontrolle der Sichelzellanämie in
Afrika inspiriert und wurde von den Ge –
sundheit sminis ter n am 30. Augus t 2010 in
Malabo, Äquatorialguinea, ratifiziert (Reso –
lution AFRO/RC60/8).
Schlussfolgerung
Die Mortalität im Kindes- und Jugendalter gilt
als ein Indikator für den Entwicklungsstand
eines Landes. Die Sichelzellanämie trägt we –
sentlich zur noch immer hohen Kindermorta –
lität im subsaharischen Afrika bei und illust –
riert den wachsenden Graben zwischen Afrika
und den industrialisierten Ländern. Die Ver –
heitsministerium Benins übernommen
und, nach mehreren institutionellen Refor
–
men, im Juni 2010 durch ein präsidentielles
Dekret zur öffentlichen Institution mit so –
zialem und wissenschaftlichem Charakter
erklärt, im Sinne einer finanziell unabhän –
gigen juristischen Person mit entsprechen –
den Infrastrukturen, Centre de Prise en
Charge Médicale Intégrée du Nourrisson
et de la Femme Enceinte atteints de
Drépanocytose (CPMI-NFED) (Zentrum zur
integrierten medizinischen Betreuung von
Säuglingen und Schwangeren mit Sichel –
zellanämie) genannt.
ii) Die überzeugenden Resultate dieser inno –
vativen Strategie, beruhend auf einer an
die B esonder heiten einer K r ankheit und an
die lokalen soziologischen, kulturellen und
wirtschaftlichen Bedingungen angepass –
ten Gesundheitserziehung, überzeugte die
internationale Organisation Médecins du
Monde Suisse. Sie beschloss, sich für die
Beschaffung finanzieller Mittel einzuset –
zen, um eine Dezentralisierung des CPMI-
NFED in die Wege zu leiten, und deren
Hilfeleistungen den Patienten, durch die
Schaffung von Antennen in peripheren
Médecins du Monde Suisse unterstützt die Projekte von Professor Rahimy in Benin, durch
Förderung der Dezentralisierung der Betreuung von Patienten mit Sichelzellanämie. Die
NGO ist ebenfalls in Kamerun, in der Demokratischen Republik Kongo, in Palästina, Haïti
und Zentralamerika, aber auch in der Schweiz tätig, wo sie Gesundheitsprogramme zu –
gunsten von Migranten und Sexarbeiterinnen entwickelt und unterstützt. Médecins du
Monde tritt für den allgemeinen Zugang zu medizinischer Betreuung ein.
Präsident von Médecins du Monde Suisse, gegründet durch Professor Nago Humbert, ist
Dr. Bernard Borel, Pädiater FMH in Monthey.
Médecins du Monde Suisse veranstaltet in Zusammenarbeit mit der Abteilung für pädi –
atrische Hämatoonkologie des CHUV in Lausanne, ein Symposium zum Thema Sichelzel –
lanämie. Experten aus Norden und Süden werden mit Professor Rahimy ihre Erfahrungen
in diesem Fachgebiet austauschen.
Die Tagung findet statt am
5. November 2015 im Auditorium César Roux des CHUV Lausanne Auskunft: www.medecinsdumonde.ch
16Pardorrxearwrrdis
16Pardoxewi
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. Mohamed Cherif Rahimy , Centre de Prise en Charge Médicale Intégrée du Nourrisson et de la Femme Enceinte atteints de Drépanocytose Andreas Nydegger