Fachzeitschrift >

Schutz von Kindern und Jugendlichen im Sport

“The entire sports process for the elite child athlete should be pleasurable and fulfilling.” 2008 International Olympic Committee (IOC) 20081).

Situation in der Schweiz

2015 erschien das Buch „Leiden im Licht“, eine Biografie über Ariella Käslin2). Darin berichtet sie über ihre Erfahrungen in Magglingen, während ihrer Zeit als Kunstturnerin. In Magglingen befindet sich das Nationale Zentrum für Kunstturnen und Rhythmische Gymnastik. Alle Athletinnen, die erfolgreich werden möchten, trainieren in Magglingen. Diese zwei Sportarten sind überdurchschnittlich häufig von Missbrauch betroffen, da junge Mädchen diese Sportarten ausüben. Diese Offenlegungen der beliebten Schweizer Sportlerin hatte jedoch keine Konsequenzen. Dies obwohl im Vorfeld schon verschiedene erschreckende Schlagzeilen von Missbrauch, wie diejenige von Larry Nassar, dem ehemaligen Teamarzt der Elite-Turnerinnen der USA, durch die Medien gingen. 140 Turnerinnen hatten gegen Nassar Anklage erhoben. Als er verhaftet wurde, fand man über 37.000 Bilder und Videos mit kinderpornografischen Inhalten. Er soll sich an 265 Mädchen und Frauen vergangen haben. Es wird davon ausgegangen, dass die Dunkelziffer höher ist, die Opfer es aber vorziehen zu schweigen.

In der Schweiz führte erst die Publikation der „Magglingen Protokolle“ Ende Oktober 2020 der Journalisten Gertsch und Krogerus im „Magazin“ des Tages Anzeigers wirklich zu Aufsehen. Möglich machten dies acht Athletinnen, die ihr Schweigen brachen. Im Artikel berichten diese ehemaligen Spitzenturnerinnen der Disziplinen Kunstturnen und rhythmische Gymnastik von schweren Verfehlungen, physischen und verbalen Übergriffen, die sie erlebt hatten von Seiten der TrainerInnen.

Für Erfolge im Spitzensport müssen Athleten sich vielem unterordnen. Im Fall der TurnerInnen aber wurden die Grenzen überschritten. Marine Périchon erzählt: «Im Trainingslager wusste ich nicht mehr, ob es Tag oder Nacht ist, solange behielt man uns in der Halle. Mit der Zeit verlor ich die Verbindung zu meinem Körper. Ich spürte ihn nicht mehr, spürte mich nicht. Ich wurde ein Roboter, der keinen Schmerz empfand. Wir durften nichts essen, nichts trinken. Als ich vor Erschöpfung zusammenklappte, zeigte Vesela (Vesela Dimitrova, bis 2013 Nationaltrainerin in der rhythmischen Gymnastik) auf einen leeren Plastiksack: Schau, Marine, das bist du. Du bist nichts. Ich glaubte ihr. Ich war schon so kaputt, dass ich dachte: Ja, sie hat recht. Das bin ich. Ich bin ein Nichts. Dann riss sie den Sack in zwei Teile»3).

Der Aufschrei, ausgelöst durch die Publikation, wurde auch vom zuständigen Departement, von Parlament und Bundesrat gehört. Unter Führung von Sportministerin Viola Amherd, der das Schicksal der Opfer naheging, wurden Massnahmen ergriffen. «Ihr Leid können wir nicht ungeschehen machen, aber wir schulden es ihnen, dass wir diesen Fall nun nicht beiseitelegen, sondern Instrumente schaffen, die künftigen Generationen von Sportlern nützen»4).

Innert einem Jahr wurde ein Untersuchungsbericht erstellt zu den Missständen beim Turnen. 108 persönliche Interviews wurden geführt, eine Umfrage mit nahezu 1000 beteiligten Sportlerinnen und Sportlern. 2500 gesichtete Dokumente, 805 Seiten dick. Die VBS-Aufarbeitung bestätigt die im Oktober 2020 im „Magazin“ erschienene Recherche, dass es vor allem in den Disziplinen Kunstturnen Frauen und Rhythmische Gymnastik zu Übergriffen psychischer, aber auch physischer Art gekommen war. An der Spitze des Verbandes fehlte das Gespür dafür, diese Missstände nur schon als solche wahrzunehmen.

Ein Grossteil der Befragten gab an, angstfrei ins Training oder zu Wettkämpfen zu gehen. Auch werde auf Verletzungen Rücksicht genommen. 16 Prozent berichteten allerdings, dass sie regelmässig beschimpft wurden. 15 Prozent erlebten im Trainingsalltag Kollektivstrafen, und 21 Prozent gaben an, wegen Erniedrigungen und Ungerechtigkeiten aufgehört oder zumindest Gedanken daran gehabt zu haben. Noch häufiger werden als Grund für das frühe Karriereende jedoch der grosse zeitliche Aufwand (43 Prozent) oder die verlorene Freude am Sport (37 Prozent) genannt.

5 Prozent der Befragten gaben an, dass kontrolliert worden sei, ob sie Essen in ihrem Gepäck hätten, bei 8 Prozent wurde überprüft, wie viel und was sie essen. 1 Prozent schliesslich, 11 Personen, erlebten sexuell anzügliche Bemerkungen. Nach Sportarten aufgeschlüsselt, ist da der Anteil beim Wasserspringen (22 Prozent) und Synchronschwimmen (sogar 26 Prozent) signifikant (und alarmierend) höher5).

Prävalenz und Formen der Gewalt

Grundsätzlich findet man in allen Altersgruppen und Sportlevel Fälle von Missbrauch im Sport. Besonders betroffen sind aber Elite-Athleten, Kinder resp. Mädchen und auch Sportler mit Behinderungen (31% versus 9%). Sportler mit ethnischer Minderheit und LGBTQ + Community sind sogar 4-5 x häufiger gefährdet.6)

Neglect bedeutet, dass grundlegende physische oder psychische Bedürfnisse nicht erfüllt werden, dass ein Training trotz Verletzung oder Erschöpfung durchgeführt wird oder Richtlinien für sichere Praktiken im Sport ignoriert werden und Kinder einem erhöhten Verletzungsrisiko ausgesetzt werden. Physische Misshandlung beinhaltet die Bestrafung durch exzessives Training, Schütteln, Schlagen, der körperlichen Entwicklung unangemessene Trainingsbelastungen oder erzwungene Dopingpraktiken. Zu den historischen Beispielen gehört das systematische, institutionalisierte Doping in der ehemaligen DDR in Sportarten wie Leichtathletik und Schwimmen. Andere Beispiele sind der Einsatz von Diuretika als Verstoss gegen die Antidoping-Vorschriften z.B. bei Gewichtshebern.6)

Psychische Gewalt umfasst Muster der Herabsetzung, Verunglimpfung, Anschreien, Bedrohung, Einschüchterung, Diskriminierung, öffentliches Verspotten oder auch Ignorieren. «Ich war elf, als es anfing, keine Freude mehr zu machen. Iliana war meine Trainerin. Sie konnte so wütend werden, dass sie uns anschrie, und dann wieder so distanziert und kalt sein, dass sie mich eine Woche lang nicht beachtete. Sie schaute einfach weg, wenn ich reinkam, sagte kein Wort zu mir. Ich war elf! Es machte mich fertig. Manchmal redete sie erst wieder mit mir, wenn ich am Wettkampf eine gute Leistung gezeigt hatte. (Ehemalige Turnerin RLZ Rhythmische Gymnastik, Magglinger Protokolle Magazin TA)3).

Hinsichtlich der Prävalenz zeigten die Ergebnisse einer Befragung von jungen französischsprachigen Schweizer Sportlern 2021, dass von den 210 Befragten 75 % psychische Gewalt, 53 % körperliche Gewalt, 28 % sexuelle Gewalt und 21 % keine Gewalt angaben.7) Gewalt im Sport wird von Mitgliedern des ärztlichen oder Trainerteams, von Coaches oder auch Eltern ausgeübt. Jüngere Untersuchungen haben ergeben, dass in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen auch Peers verantwortlich sind, speziell bei Formen von Gewalt wie Mobbing und Schikanen.8) Der Kontext, in dem sich die Gewalt abspielen kann, hat sich über das Trainings- oder Wettkampfumfeld hinaus auf die sozialen Medien erweitert9).

Je höher das Wettbewerbsniveau, desto häufiger werden Trainer als Täter von körperlicher Gewalt und psychischer Gewalt identifiziert. Das Gleiche gilt für sexuelle Belästigung7).

Es ist belegt, dass Gewalt und Missbrauch in bestimmten Sportorganisationen begünstigt werden. Dazu gehören die räumliche, organisatorische und kommunikative Abschottung gewisser Institutionen (z. B. Trainingszentren), die Suspendierung gängiger sozialer Regeln, die oft mit der Ausrichtung auf Höchstleistungen legitimiert wird10), damit verbunden die Normalisierung von Gewaltanwendung11) und schliesslich eine weitverbreitete Schweigekultur12).

Folgen

Gewalt im Sport führt nicht nur zum Ausscheiden des Betroffenen aus dem Sport. Angst- und Essstörungen, Depressionen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Selbstverletzung und Suizidgedanken sind bekannte Folgen, wie man auch von namhaften Sportlerinnen und Sportlern immer wieder in der Öffentlichkeit erfährt.

Schutzmassnahmen

Kinder und Jugendliche, die Sport treiben, haben oft TrainerInnen und Coaches, die sie bewundern und respektieren. Sie entwickeln ein Gefühl der Zugehörigkeit, weil sie Teil eines Teams sind, mit dem sie trainieren und dem sie Nahe stehen. Die oben genannten Faktoren erschweren es den jungen Sportlern, über Missbrauch, dem sie ausgesetzt sind oder waren, zu sprechen. Es ist schwierig, den Tätern aus dem Weg zu gehen, wenn es sich um angesehene Personen oder enge Teamkollegen handelt. Franco wurde Opfer von sexuellem Missbrauch: «Man hat mir gesagt, dass ich diese Dinge tun muss, wenn ich Fussballer werden will. Ich wollte als Kind immer nur Fussballer werden. Er [der Trainer] drohte damit, dass er meinen Eltern und meinen beiden Brüdern etwas antun würde, wenn ich jemals etwas sage.»

Ein weiterer Schritt hinsichtlich Schutzmassnahmen war die Schaffung von rechtlichen Grundlagen für Sanktionen und eine unabhängige Meldestelle bei ethischen Verstössen. Die Delegierten der Sportverbände genehmigten an ihrer Versammlung Änderungen in den Statuten von Swiss-Olympic und ein neues Ethik-Statut. Die beiden Reglemente bilden die Basis für die neue nationale Meldestelle für Ethikverstösse und die neue Stiftung, die aus Antidoping Schweiz hervorgeht. Aus der Stiftung Antidoping Schweiz wurde die Stiftung Swiss Sport Integrity, welche nebst Dopingverstössen neu auch Ethikverstösse behandelt. Das Meldeportal von Swiss Sport Integrity steht allen Personen offen, die eine Meldung über mögliche Verstösse oder Missstände machen wollen. Bei der Erstberatung wird über Vorgehensmöglichkeiten informiert und gegebenenfalls für eine vertiefte Beratung an eine geeignete Beratungsstelle weitergeleitet. Die eingegangene Meldung wird geprüft und wenn angebracht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet. Bei Zuständigkeit von Swiss Sport Integrity wird eine Untersuchung durchgeführt und ein Schlussbericht zuhanden der Disziplinarkammer des Schweizer Sports verfasst, welche über mögliche Sanktionen befindet. Diese Sanktionen können beim internationalen Sportgerichtshof angefochten werden.

Weiter soll die Verteilung von Fördermitteln an die einzelnen Sportverbände künftig nicht mehr allein nach Resultaten getätigt, sondern andere Faktoren, wie die Integration Erziehungsberechtigter, Good Governance, Ethik und Prävention, sollen ebenfalls berücksichtigt werden. Ziel ist es, die Nachwuchsförderung in der Schweiz zu reformieren, im Sinne einer «kindergerechten, gesunden und sicheren Nachwuchsförderung». Schon in J+S-Kursen sollen künftig «Haltungen und Werte vermittelt werden, auf denen eine ethische Sportförderung beruht». Bis Ende 2023 soll die Ausbildung entsprechend angepasst sein.

Swiss Sport Integrity

2021 wurde die unabhängige, nationale Melde- und Untersuchungsstelle für Ethikverstösse im Schweizer Sport aufgebaut, Anfang 2022 nahm sie ihre Tätigkeit auf.

Die ersten Zahlen zeigen, dass ein starkes Bedürfnis nach einer unabhängigen Meldestelle im Schweizer Sport besteht. «Wir sind von einer bis zwei Meldungen pro Woche ausgegangen, im Schnitt ist jetzt etwa eine Meldung pro Tag eingegangen», bilanzierte Markus Pfisterer, der Leiter der Melde- und Untersuchungsstelle für Ethikverstösse.

Betroffen sind Sommer- wie Wintersportarten, Indoor- wie Outdoorsportarten, Einzel- wie Teamsportarten und weibliche wie männliche Personen in allen Sprachregionen.

Der von der Politik zurecht geforderte Kampf gegen Ethikverstösse, der von Swiss Olympic durch Präventions- und Sensibilisierungsmassnahmen begleitet wird, zeigt also bereits erste Wirkungen. Pfisterer hob dabei explizit die Zusammenarbeit mit den Sportverbänden hervor. Die letzten Monate hätten gezeigt, «dass diese gewillt sind, hinzuschauen und den Handlungsbedarf und oft auch den nötigen Kulturwandel erkannt haben.»13)

Referenzen

  1. Mountjoy M, Armstrong N, Bizzini L, Blimkie C, Evans J, Gerrard D, et al. IOC Consensus Statement: training the elite child athlete. Br J Sports Med; 2008; 42(3):163–4.
  2. Gertsch C, Steffen B. Ariella Käslin – Leiden im Licht. Die wahre Geschichte einer Turnerin. Verlag: NZZ Libro; 2015.
  3. Gertsch C, Krogerus M: Die Magglingen-Protokolle. Im Kunstturnen und in der Rhythmischen Gymnastik gehören Einschüchterungen und Erniedrigungen zum Alltag. Acht Frauen erzählen. In: Das Magazin. 31. Oktober 2020.
  4. Wiederkehr D. Jetzt erhalten die Opfer immerhin etwas Genugtuung. https://www.tagesanzeiger.ch › Meinungen. 16.11.2021
  5. Externer Untersuchungsbericht im Zusammenhang mit den Vorfällen rund um die Rhythmische Gymnastik und das Kunstturnen. Im Auftrag des Eidgenössischen Departements für Verteidigung Bevölkerungsschutz und Sport VBS.
  6. Mountjoy M, Rhind DJA, Tiivas A, Leglise M. Safeguarding the child athlete in sport: a review, a framework and recommendations for the IOC youth athlete development model. Br J Sports Med; 2015; 49(13): 883-6
  7. Marsollier E, Hauw D, Crettaz von Roten F. Understanding the Prevalence Rates of Interpersonal Violence Experienced by Young French-Speaking Swiss Athletes. Front. Psychol. 2021. https://www.frontiersin.org/article/10.3389/fpsyg.2021.726635
  8. Rhind DJA, McDermott J, Lambert E, Koleva I. A review of safeguarding cases in sport. Child Abuse Rev; 2015; 14: 418–426.
  9. Kavanagh EJ, Jones I. #cyberviolence: Developing a typology for understanding virtual maltreatment in sport.  In D. Rhind & C. Brackenridge (Eds.). Researching and Enhancing Athlete Welfare. Brunel University Press; 2014:34–44.
  10. Fortier K, Parent S, Lessard G. Child maltreatment in sport: smashing the wall of silence: a narrative review of physical, sexual, psychological abuses and neglect. Br J Sports Med; 2020; 54 (1):4-7.
  11. Stirling AE, Kerr GA. Defining and categorizing emotional abuse in sport. European Journal of Sport Science; 2008; 8(4):173–181.
  12. Reardon CL, Hainline B, Aron CM, Baron D, Baum AL, Bindra A, et al. Mental health in elite athletes: International Olympic Committee consensus statement. Br J Sports Med; 2019; 53(11):667–99.
  13. www.srf.ch/sport/allgemein 19.04.2022

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autorin hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr. med.   Daniela Kaiser Pädiatrische Rheumatologie, Kinderspital Zentralschweiz, Luzern, Schweiz