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Interview mit Dr. med. Germann Clenin, Sportarzt und Leiter des Sportmedizinischen Zentrums Bern Ittigen, Präsident der Sport & Exercise Medicine Switzerland (SEMS)

Wir sind der Zusammenschluss der vier Gesundheitsfachverbände im Sport, also der Sportphysiotherapie SVSP, der Sporternährung SSNS, der Sportpsychologie SASP und der Sport- und Bewegungsmedizin SEMS.

1. Geri, du bist aktiv im Health4Sport1). Was macht ihr?

Wir sind der Zusammenschluss der vier Gesundheitsfachverbände im Sport, also der Sportphysiotherapie SVSP, der Sporternährung SSNS, der Sportpsychologie SASP und der Sport- und Bewegungsmedizin SEMS. Die vier Präsidentinnen und die vier Vize-Präsidenten der genannten Gesellschaften haben sich gefunden, um in der Prävention von Missbrauch und der Stärkung der physischen und psychischen Gesundheit im Schweizer Sport vorwärts zu machen. Dass hier gerade die präsidialen Vertreter aller vier Fachdisziplinen mitmachen, zeigt wie wichtig uns allen dieses Thema ist.

2. Was ist deine Motivation, dich hier zu engagieren.

Die offiziellen Stellen haben in dieser enorm wichtigen Thematik den Start regelrecht verschlafen. Auch als bereits klar war, dass der Sport und alle seine Stakeholder sich dieser Problematik, welche mit den Magglingen Protokollen wirklich ins breite Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung getragen wurde, viel mehr annehmen müssen, versuchten anfänglich der STV, das BASPO und auch Swiss Olympic sich aus dem Schussfeld der Kritik zu nehmen. Dies konnten wir so nicht hinnehmen und deshalb reagierten wir seitens der SEMS auch mit einem offenen Brief an diese drei klar in der Verantwortung stehenden Stellen. Mittlerweile hat dies, vor allem auch als Folge des externen Druckes von uns, von den Medien und der Politik klar geändert und alle Genannten wollen konkrete Veränderungen herbeiführen.

3. Arbeitet ihr mit Swiss Sports Integrity zusammen?

Wir sind in Kontakt mit Swiss Sport Integrity. Wir pflegten bereits früher einen engen Austausch mit Antidoping Schweiz zwecks Koordination von Schulung, Updates etc. Mit der Entstehung von Swiss Sport Integrity ergaben sich neue Berührungspunkte, so ist z.B. Katharina Albertin, Präsidentin der SASP und Health4Sport Mitglied, in den Stiftungsrat von Swiss Sport Integrity gewählt worden. Beim Alltagsgeschäft und der Aufnahme der aktuell zahlreich eintreffenden Meldungen sind wir hingegen nicht direkt involviert.

4. Eine andere Seite ist www.swisssafesport.com. Wer steht da dahinter?

Die Website scheint es schon länger zu geben und sie wird von einer v.a. französisch und englischsprachigen Interessensgruppe von Personen in der Region Unterwallis-Genfersee geführt. Offenbar handelt es sich hierbei z.T. um frühere Athletinnen und Athleten oder Coaches, welche ihre Dienste via Internet anbieten wollen. Selber haben wir als SEMS keinen aktiven Kontakt zu dieser Gruppierung. Hingegen sind wir beispielsweise über das CentrAdoSport des CHUV in Lausanne via Nathalie Wenger, SEMS Mitglied und Melanie Hindi, SASP Mitglied eng mit dem Zentrum und weiteren Stellen des Kinderschutzes des Unispitals Lausanne verlinkt.

5. Der Untersuchungsbericht im Auftrag des VBS bezüglich der Vorfälle rund um die Rhythmische Gymnastik und das Kunstturnen verlangt, dass dem schutzbedürftigen Alter der Athletinnen und Athleten Rechnung getragen wird. Er empfiehlt deshalb an die Adresse des Turnverbandes, dass das Alter heraufgesetzt wird, in dem sich gerade Turnerinnen dem Nationalkader anschliessen und aus dem Elternhaus ausziehen, um nach Magglingen zu zügeln. In der Regel liegt dieses bei 14 Jahren. Daneben sollen sich Swiss Olympic und die einzelnen Sportverbände dafür starkmachen, das Mindestalter international auf 18 hinaufzusetzen und verbündete Landesverbände zu suchen. Mit der Massnahme soll Druck von jungen Sportlerinnen und Sportlern genommen werden. Unterstützst du diese Massnahme? Wird sie umgesetzt werden?

Reglementarische Massnahmen, wie z.B. das Einführen von Alterslimiten können präventiv sowohl medizinisch-somatisch aber auch psychisch-sozial eine wichtige Schutzwirkung entfalten und sind klar eines der möglichen Werkzeuge, welche geprüft werden müssen und an geeigneter Stelle eingesetzt werden könnten.

6. Wird das Angebot der nationalen Meldestelle von Sports Integrity bezüglich ethischen Verfehlungen im Sport genutzt?

Ja, Swiss Sport Integrity hat viel mehr Anfragen, als ursprünglich erwartet. Aktuell geht pro Tag mindestens eine Anfrage ein, welche logischerweise viele Gespräche, Kontakte und Nachbearbeitungen mit sich bringt. Swiss Sport Integrity muss sein Angebot laufend ausbauen und personell mussten sie bereits aufstocken.

7. Für Kinder ist es wesentlich schwieriger, auf Missbrauch aufmerksam zu machen: Inwiefern wird das bei den geplanten Massnahmen berücksichtigt?

Dem wird man Rechnung tragen müssen, keine Frage. Hier schlagen wir seitens Health4 Sport einen Umweltcheck, mindestens einmal jährlich vor, welcher alle Beteiligten stufengerecht einbezieht und befragt: Athletin/Athlet, Trainer/in, Eltern, Medical Staff, Funktionäre usw. Die Integration der Eltern ist ein wichtiger und wesentlicher Punkt. Was die genaue Funktion der Sporteltern, also der Eltern eines leistungssportlich aktiven Kindes oder Jugendlichen, ist und wie ein guter und konstruktiver Einbezug dieser Eltern von statten gehen kann, muss auch noch entwickelt werden. Wann braucht es die Eltern weniger, wann soll der/die Jugendliche autonomer entscheiden können?

8. Was soll die Kinderärztin unternehmen bei Verdacht auf Missbrauch durch einen Trainer?

Die Antwort ist einfach: Es ansprechen. Denn Stillschweigen und Wegschauen ist das Schlimmste, was einem Kind oder Jugendlichen passieren kann, denn dies bedeutet ein Tolerieren, Weiterlaufen lassen, letztlich Gutheissen der Abläufe, wie sie sind.

Gleichzeitig ist die Antwort natürlich enorm schwierig: Bei wem denn, vielleicht zuerst bei den Eltern? Wann denn genau, gerade dann, wenn etwas auffällt und der Kinderarzt und die Eltern einen Moment Zeit haben etc etc. Wir haben auch das Gefühl, dass wir Sportmedizinerinnen und -mediziner dies trainieren sollten.

9. Wo stehen wir aktuell bei der Umsetzung der Massnahmen zum Schutz der Kinder seit der Untersuchungsbericht des BASPO erschienen ist?

Hinter den Kulissen wird eifrig gearbeitet. Ein erstes Treffen von zwei grossen Arbeitsgruppen, eine zum Thema «Mensch» und eine zum Thema «Organisation» hat bereits stattgefunden. Am 2.Mai findet ein weiterer grosser Workshop zur Fortsetzung in Magglingen mit den Beteiligten statt. In mir entsteht leider auch der Eindruck, alles gehe nur in Baby-Steps vorwärts. Da wir nicht im Lead sind und aktuell als Health4Sport eine einzige Stimme haben, können und wollen wir aktiv und konstruktiv mitwirken, die Situation ruhig beobachten und analysieren. Wir werden aber uns sicher nicht scheuen, den Finger auf den wunden Punkt zu legen.

10. Wird zukünftig das Thema in die Ausbildung von Trainern/innen, dem Medical staff integriert? Prävention wäre ja das wichtigste Element, um gegen Gewalt und Missbrauch vorzugehen. Wie könnte man dabei vorgehen?

Die Thematik ist bereits in der Aus-, Weiter- und Fortbildung von Trainer/innen drin. Die in Magglingen wirkende Trainerbildung Schweiz hat solche Module bereits seit Jahren im Programm. Diese müssen aber laufend verbessert werden und können sicherlich auch stundenmässig noch ausgebaut werden. Aber die Problematik ist sehr vielschichtig. Wenn wir bei den Trainer/innen bleiben: Viele in der Schweiz gerade im Kunstturnen und der Rhythmischen Gymnastik tätige Personen haben ihre Traineraus- und Weiterbildung nicht in der Schweiz absolviert. Auch hier versucht man mit Fortbildungskursen und spezifischen Modulen dies aufzufangen. Bisher waren das nicht die Kurse, welche proppenvoll ausgebucht waren. Und erneut kann und muss man dieses Angebot ausbauen, verbreitern und auch vertiefen. Und auch bei uns selber, den Sport- und Bewegungsmedizinern der SEMS existiert der Weiterbildungsinhalt. Aber auch wir seitens der SEMS müssen über die Bücher und uns verbessern.

11. Wieso denn verbessern?

Auch wenn man als Verbandsarzt oder betreuender Arzt eines regionalen Leistungszentrum einer Sportart grossen psychischen Druck, oder einen unangemessenen Umgang des Trainerteams mit Athletinnen und Athleten beobachtet, braucht es Mut und auch Rückgrat, dies anzusprechen und professionell anzugehen. Da können und müssen wir mit entsprechenden Seminaren und Workshops unsere SEMS-Mitglieder hierfür fit machen.

12. Es wird gefordert, dass eine jährliche Überprüfung möglicher Grenzüberschreitungen gegenüber Athletinnen und Athleten in die sportmedizinische Untersuchung SPU in der Schweiz integriert werden sollte. Als Kinderärzt/innen sehen wir leider, dass viele Kinder und Jugendliche keinen Zugang haben zu einer jährlichen ärztlichen Untersuchung, da den Verbänden das Geld hierfür fehlt. Sollte die sportmedizinische Untersuchung obligatorisch gemacht werden bei allen Sportlern?

Ja. Dies wäre sinnvoll und das Realisieren einer jährlichen SPU für alle leistungssportliche aktiven Kinder und Jugendlichen ein wichtiger weiterer Schritt. Wir fordern dies bei Swiss Olympic schon lange als obligatorische Massnahme. Auch das IOC fordert diese Untersuchung einmal jährlich für leistungssportlich aktive Kinder, Jugendliche und Erwachsene. In den vergangenen Jahren hat Swiss Olympic sich nie dazu durchringen können, dies obligatorisch zu erklären. Es blieb bei einer Empfehlung.

13. Wieso wäre ein SPU so wichtig?

Die sportärztliche Untersuchung bietet viele Pluspunkte: Es findet eine medizinische Untersuchung mit Anamnese, klinischer Untersuchung von Kopf bis Fuss mit sportartspezifischem Focus, alle 2-3 Jahre ein EKG, eine Blut- und Urinuntersuchung statt.  So können bereits viele medizinische Probleme aus der Vorgeschichte, Ernährung, internmedizinische und den Bewegungsapparat betreffende Pathologien oder sich ankündigende Probleme  frühzeitig erkannt und angegangen werden. Des Weiteren entsteht zwischen dem Untersuchungsteam und dem kindlichen oder der jugendlichen Athletin/Athlet und deren Eltern ein Vertrauensverhältnis, welches dann auch im Trainingsalltag das Jahr hindurch einen einfacheren Zugang zu einer raschen medizinischen Hilfestellung und Beratung ermöglicht. Ebenso ist es gerade diese Nähe, welche ermöglichen kann, dass eine allfällige Missbrauchssituation eher mitgeteilt oder auch direkt angesprochen werden kann.

Referenz

  1. Gojanovic B, Albertin K, Bizzini M, Clenin G, Flück JL, Mathieu N, et al. Health4Sport – 13  safeguarding principles so that young athletes can thrive in multidisciplinary sporting environments. Br J Sports Med; 2021;55:952-953.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr. med.  Florian Schaub Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkte Kindernotfall und Sportmedizin, interdisziplinäre Notfallstation und Fachbereichsleiter Sportmedizin, Universitäts-Kinderspital, Zürich

Dr. med.   Daniela Kaiser Pädiatrische Rheumatologie, Kinderspital Zentralschweiz, Luzern, Schweiz