Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) haben zahlreiche neurokognitive Eigenarten. Einige davon, z. B. sensorische, findet man in den DSM-5-Kriterien. Andere betreffen eher den kognitiven Bereich und können zu besonderen Kompetenzen (z. B. visuelles Gedächtnis) oder dann zu Schwierigkeiten (soziale Kognition, exekutive Funktionen, eingeschränkte Interessen) führen. Solche Besonderheiten können im Übrigen Facetten der Persönlichkeit von Menschen mit ASS sein, die diese für sich beanspruchen.
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Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung
(ASS) haben zahlreiche neurokognitive Eigen-
arten. Einige davon, z. B. sensorische, findet
man in den DSM-5-Kriterien. Andere betref –
fen eher den kognitiven Bereich und können
zu besonderen Kompetenzen (z. B. visuelles
Gedächtnis) oder dann zu Schwierigkeiten
(soziale Kognition, exekutive Funktionen, ein –
geschränkte Interessen) führen. Solche Be –
sonderheiten können im Übrigen Facetten der
Persönlichkeit von Menschen mit ASS sein,
die diese für sich beanspruchen.
Man spricht heute von Neurodiversität, um
diese Unterschiede, die nicht unbedingt Defi –
zite sind, zu charakterisieren. Die heutige
Sic ht
berücksichtigt diese Besonderheiten, die
für die betreffende Person von Vorteil sein
können oder im Gegenteil eine behindernde
Situation schaffen können, je nachdem wie die
Gesellschaft oder das persönliche Umfeld mit
dem besonderen kognitiven Stil umgeht.
Wir gehen in diesem Ar tikel auf die neurokog –
nitiven Besonderheiten von Menschen mit ASS
e in ,
in Bezug auf Informationsverarbeitung,
soziale Kognition und exekutive Funktionen.
Neurokognitive Besonderheiten des
Autismus
Evelyne Thommen, Laetitia Baggioni, Aline Tessari Veyre 1
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
Informationsverarbeitung
Sensorische Besonderheiten
Menschen mit ASS beschrieben als erste ihre
besonderen sensorischen Schwierigkeiten
1)
(Abb. 1) . Diese sind nun im DSM-5 unter Kri –
terium B aufgeführt, und werden somit bei der
Diagnosestellung berücksichtigt
2).
Die Überempfindlichkeit äussert sich oft
durch ein Vermeidungs- oder Fluchtverhalten,
durch Isolierung, während bei Hyposensibili –
tät sensorische Bedürfnisse durch aktive
Suche nach Sinnesempfindungen befriedigt
werden. Das Beobachten des Verhaltens ist
folglich wesentlich, um die sensorischen As –
pekte zu beurteilen. Oft hängen Hyper- oder
Hyposensibilität von der betreffenden senso –
rischen Empfindung ab (auditiv, visuell, taktil,
Geschmack, Geruch, vestibulär und proprio –
zeptiv). Ein und dieselbe Person kann z. B.
eine tiefe Sensibilitätsschwelle im auditiven
Bereich haben, und daneben ein sehr hohes
taktiles Empfindungsvermögen. Die Sensibili –
tätsschwelle kann auch in Bezug auf dieselbe
Sinnesempfindung variieren. Man kann dann
eine Überempfindlichkeit für gewisse Klang –
wellenlängen und verminderte Empfindlich –
keit für andere beobachten. Alle diese Fein-
heiten unterstreichen, wie wichtig bei der
Betreuung dieser Personen eine eingehende
sensorische Abklärung ist. Es erlaubt uns z.
B.
z
u verstehen, warum gewisse Kleinkinder
bestimmte Nahrungsmittel nicht mögen oder
Kleidungsstücke nicht ertragen. Dennoch
werden diese Elemente heute noch von zu
wenigen Fachpersonen berücksichtigt. Zahl –
reiche neuere Studien gehen der Beschrei –
bung und der Frage der Prävalenz dieser Sin –
nesstörungen bei Autismus nach. Ausderau et
al.
4) schlagen ein Mittel zur Evaluation von 4
Arten sensorischer Reaktion vor:
•
HYPO
: Hyposensible sensorische Reaktion
Die P
erson reagiert nicht auf gewisse Sti-
muli und antwortet z. B. nicht, wenn man
sie a
nspricht. •
HYPER: Hypersensible sensorische Reaktion
Die Person reagiert übertrieben auf gewis
–
se R eize, die sie zu stören oder ihr Schmer –
zen zu verursachen scheinen, wie z. B. be –
rührt werden, gewissen Lauten ausgesetzt
sein oder Nahrungsmittel essen müssen.
•
SIRS:
Repetitives Suchen nach sensori –
schen Erfahrungen und Stimuli (Sensory
Interests, Repetitions, and Seeking behavi –
ours)
Es ka
nn sich um eine Person handeln, die
z. B. visuelle Sensationen sucht, indem sie
beobachtet, wie Staub in einem Lichtstrahl
tanzt, oder die sich wiegt, um ihren Gleich –
gewichtssinn zu stimulieren.
•
EP: e
rhöhte und verfeinerte Wahrnehmung
(Enhanced Perception)
Es is
t die Fähigkeit , Dinge bis in ihr e kleins –
ten Details zu erfassen. Die betreffende
Person wird damit geringste Veränderun –
gen ihrer Umgebung feststellen.
Die Autor en schlagen au f der B asis dieser v ier
Kategorien sensorischer Reaktionen verschie –
dene sensorische Personenprofile vor. Es
werden 4 Untergruppen berücksichtigt (siehe
4), S. 939)
4). Die Untergruppe «leicht» («Mild
Subtype») umfasst Kinder, die für alle Arten
sensorischer Reaktionen relativ tiefe Ergeb –
nisse zeigen. Im Gegensatz dazu werden in
der Gruppe «extrem gemischt» («Extreme-
Mixed Subtype») Kinder zusammengefasst,
bei denen die Ergebnisse in allen 4 Kategorien
sensorischer Antworten hoch sind. Kinder der
übrigen zwei Untergruppen zeigen heteroge –
nere sensorielle Reaktionen. So entspricht die
Untergruppe «sensorischer Not» («Sensitive-
Distressed Subtype») Kindern, die in den Ka –
tegorien HYPER und EP hohe Ergebnisse er-
zielen, während sie in den beiden anderen
Kategorien eher unterdurchschnittlich ab –
schneiden. Die Untergruppe «vermindert und
besorgt» («Attenuated-Preoccupied Subty –
pe») weist die gegenteilige Konstellation auf,
mit hohen Ergebnissen für HYPO und SIRS
und tieferen in den beiden anderen Kategori –
en.
Es muss betont werden, dass die sensori-
schen Besonderheiten von den übrigen As –
p ek ten der ASS unabhängig zu sein scheinen,
dass sie jedoch herangezogen werden kön –
nen, um Schwierigkeiten von Menschen mit
ASS zu verstehen, insbesondere Stereotypien
und eingeengte Interessen.
1 HES -SO, Haute école spécialisée de Suisse occidentale, EESP, Lausanne
Abbildung 1: Darstellung unangenehmer au –
ditiver Empfindungen durch eine praktisch
averbale Person mit ASS (aus
3) S. 11)
1Prof. ffRTof.ff.abi
1Prof. RTabinTo.,ST,e(chtorTSe(olrTab
28
Beeinträchtigte zentrale Kohärenz
Happé und Frith 5) analysieren eine Besonder-
heit des Autismus, der in einer beeinträchtig –
ten zentralen Kohärenz («central coherence»)
b es t
eht. Dieser Begriff bezieht sich auf die
Fähigkeit, Wahrnehmungen und Kenntnisse
zusammenhängend und global zu verwerten,
um daraus eine Synthese zu machen. Die Fä –
higkeit zur Metarepräsentation ist an diese
z ent r
ale Kohärenz gebunden, eine Funktion
die auf einem höheren Niveau Elemente eines
tieferen Niveaus zu organisieren versteht. Die
zentrale Kohärenz entspricht der normalen
Verarbeitung von Informationen, die es ermög –
licht, aus einzelnen Wahrnehmungselementen
auf
einem höheren Niveau einen Gesamtzu –
sammenhang zu schaffen. Die Hypothese ei –
ner beeinträchtigten zentralen Kohärenz be –
ruht auf Forschungsergebnissen über die
p er z
eptuellen Fähigkeiten von Menschen mit
ASS.
Vergleicht man Stärken und Schwächen von
Menschen mit ASS , stellt man einer seit s aus –
serordentliche Fähigkeiten bei Aufgaben fest,
welche die Berücksichtigung von Details ver –
langen, obwohl die Integration der Einzelele –
mente in ein G anzes ihr e Leistung b eeintr äch –
tigt. Sie sind bei integrativen Aufgaben
benachteiligt. Diese aussergewöhnlichen Fä –
higkeiten werden beispielsweise bei Personen
festgestellt, die viel schneller Aufgaben mit
verflochtenen Figuren zu lösen imstande
sind
6).
In ihren Arbeiten bestreiten Mottron et al. 7)
die Idee einer zentralen Kohärenzbeeinträch –
tigung beim Autismus. Aus ihrer Sicht sind
Personen mit ASS durchaus fähig, einen glo –
balen Gesichtspunkt einzunehmen, sofern
ihre Aufmerksamkeit auf die globalen Aspek –
te der Aufgabe gerichtet ist. Im Allgemeinen
bevorzugen sie es jedoch, ihr Augenmerk auf
Einzelelemente zu richten.
Die Ar beiten von B owler et al.
8) zum G edächt –
nis zeigen, das s Menschen mit o der ohne ASS
sich eine Liste von Musikinstrumenten besser
einprägen können, wenn die Beziehung zwi-
schen den zu memorisierenden Begriffen
verbal erklärt wurde. Die Leistungen der
Probanden mit ASS blieben jedoch unterhalb
jener der Vergleichsgruppe. Dieses Ergebnis
ist wichtig, denn es lässt darauf schliessen,
dass die Kompetenzen von Menschen mit ASS
durch das Hervorheben von Aspekten modifi –
ziert werden können, auf die sich ihre Auf-
merksamkeit nicht spontan richten würde.
Im klinischen Sprachgebrauch werden die
Besonderheiten bei der Verarbeitung von
Wahrnehmungselementen mit anderen Begrif -fen umschrieben. Vermeulen und Degrieck
9)
sprechen von kontextueller Blindheit oder von
Detaildenken, um zu beschreiben, dass Men –
schen mit ASS unfähig sind, wahrgenommene
Elemente in ihrem Zusammenhang zu integ –
r ier en. Das D et aildenken ist ein kog niti ver Stil
der mit Autismus behafteten Person, das ihm
ausserordentliche Kompetenzen bringen
kann, aber auch Schwierigkeiten, wenn ein
Detail störend wirkt und die betreffende Per –
son daran hindert, zu verstehen, wie sie sich
in einem bestimmten Kotext verhalten muss.
Soziale Kognition
Menschen mit ASS haben grosse Schwierig –
keiten, Gefühlsregungen und Befindlichkeit
ihres Gegenübers zu verstehen, und sich
insbesondere vorzustellen, was nicht direkt
beobachtbar ist, wie Gefühle, Gedanken, Er –
wartungen, Absichten
10 ). Man spricht von der
Schwierigkeit, sich in die Gedanken anderer
hineinzuversetzen (Theory of Mind, ToM). In
Studien dazu werden Kinder aufgefordert, das
Verhalten ihres Gegenübers auf Grund dessen
vorauszusagen, was diese Person weiss oder
glaubt. Bevor sie ToM beherrschen, denken
3-jährige Kinder, dass jedermann weiss, was
sie selbst wissen und nicht weiss, was auch
sie nicht wissen. Sie können sich Gedanken
oder Annahmen, die sich von den ihrigen un –
terscheiden, nicht vorstellen. Mit 4-5 Jahren
können sie die Perspektive Anderer einneh –
men. Sie können dann eine Handlung voraus –
sagen in Funktion dessen, was der Betreffen –
de glaubt, selbst im Wissen, dass letzterer
sich irrt. In seiner Synthese der Arbeiten zur
ToM-Entwicklung von Kindern mit ASS argu-
mentiert Kimhi
11 ) zugunsten eines Entwick –
lungsrückstandes und nicht einer Beeinträch -tigung. Sie erörtert ebenfalls einen für die
Praxis wichtigen Gesichtspunkt. Kinder mit
ASS können Au fgab en, die das Ver stehen von
Bewusstseinsvorgängen Anderer vorausset
–
zen, im Schulrahmen lösen, haben aber
Schwierigkeiten, dies im täglichen Leben zu
verallgemeinern. Die Schwierigkeit zu verste –
hen, wie Gedanken und Absichten das Verhal –
ten bedingen, ist, aus dieser Perspektive be –
trachtet, eng mit den Störungen des
Sozialverhaltens verbunden. So verstehen
Menschen mit ASS soziale Situationen nicht
in gewohnter Weise und handeln deshalb oft
inadäquat.
Unsere Untersuchungen
12 ) zeigen ebenfalls,
dass die soziale Kognition bei Menschen mit
ASS wohl beeinträchtigt ist, sich im Verlaufe
der Zeit aber entwickeln kann. Wir haben
longitudinale Beobachtungen bei 65 4-10-jäh –
rigen Kindern gesammelt, 36 Kinder mit ASS
(52- bis 128-monatig) und 29 Kontrollen (56-
bis 126-monatig). Als Evaluationsmethode
wurde TEC
13 ), das Verständnis von Gefühlsre –
gungen, und das ToMStorybook 14 ), das ver-
schiedene ToM-Aspekte beurteilt, verwendet.
Der Vergleich zwischen Kindern mit ASS und
Kontrollkindern (Abb. 2 und 3) zeigt globale
Vorteile zugunsten letzterer. Die statistische
Varianzanalyse (ANOVA) zeigt, dass Kontroll –
kinder im ToMStorybook bessere Resultate
erzielen als Kinder mit ASS (F1;63 = 88,
p <.001); dasselbe gilt für TEC (F1;63 =26,
p<.001). Beide Gruppen verbessern ihre Fä -
higkeiten mit der Zeit, wie es die Varianzana -
lyse f ür ToMStor y b ook ( ANOVA mit w ie der hol -
ten Messungen: F1;63 =38, p <.001, kein
Inter ak tionsef fek t ) sow ie f ür TEC ( ANOVA mit
wiederholten Messungen: F1;63 =28, p<.001,
kein Interaktionseffekt) nachweist.
Mittelwert
Mittelwert
Kinder mit ASS Kinder mit ASS
Kontrollkinder
ToM erste
Sitzung
ToM zweite
Sitzung TEC erste
Sitzung
TEC zweite
Sitzung
Kon
trollkinder
Abbildung 2: Ent w icklung von T heor y of Mind
(ToM) während einem Zeitintervall von 6 Mo -
naten bei Kindern mit ASS und Kontrollkin-
dern Abbildung 3: Entwicklung des Verständnis
-
ses von Gefühlsregungen (TEC) während ei-
nem Zeitintervall von 6 Monaten bei Kindern
mit ASS und Kontrollkindern
1Prof. ffRTof.ff.abi
1Prof. RTabinTo.,ST,e(chtorTSe(olrTab
29
Diese Ergebnisse zeigen die Entwicklungs-
möglichkeit von ToM, eine Entwicklung die
durch das Einsetzen spezifischer Lehrmetho -
den zum besseren Verständnis von Gefühls -
regungen und Gedanken Anderer gefördert
werden kann, wie dies in der Arbeit von
Howling, Baron- Cohen et Haldwin
15 ) vorge -
schlagen wird.
Exekutive Funktionen
Exekutive Funktionen umfassen 4 Hauptfunk -
tionen: Handlungsplanung, Arbeitsgedächt -
nis, Impulskontrolle, Flexibilität
16 ) ,17 ) . Sie er-
möglichen die Verhaltens- und Handlungs-
steue
rung durch Aufmerksamkeitskontrolle.
Planung ist eine kognitive Funktion, die es
erlaubt, durch das Ausarbeiten von Aktions-
strategien Probleme zu lösen. Es geht darum,
Verhaltensmuster zu organisieren und schritt-
weise zu kontrollieren, um sich ihrer Wirksam -
keit zu vergewissern.
Flexibilität entspricht der Fähigkeit, sein Ver -
halten anzupassen, wenn das angestrebte Ziel
nicht erreicht wird. Es geht dann darum, den
Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf einen
stichhaltigeren Stimulus zu richten.
Das A r b eit sge dächtnis b esteht aus z wei Kom -
ponenten. Visuospatiale Informationen wer -
den im Gedächtnis durch einen «visuell-
räumliches Notizbuch» genannten Prozess
gespeichert, während die «phonologische
Schleife» das Aufbewahren verbaler Informa -
tionen erlaubt. Diese exekutive Funktion er -
möglicht es, eine Information während einem
kurzen Zeitraum in Erinnerung zu behalten und gleichzeitig eine andere Information zu
behandeln. Der Betreffende ist damit imstan
-
de, zwei Aufgaben gleichzeitig auszuführen.
Die gespeicherte Information wird dauernd
aktualisiert.
Die Impulskontrolle schliesslich ist ein Pro -
zess, dank welchem ein Verhalten oder eine
dominierende Aktion verhindert werden kön -
nen. Sie bezieht sich somit auf die Kontrolle
des Verhaltens.
Zahlreiche Studien weisen eine Beeinträchti -
gung der exekutiven Funktionen bei Men -
schen mit ASS nach. Planung und Flexibilität
scheinen die am meisten betroffenen exeku-
tiven Funktionen zu sein, während Impulskon -
trolle und Arbeitsgedächtnis relativ erhalten
sind, obwohl manchmal auch dort Schwierig -
keiten zu beobachten sind
18 ).
Im Rahmen unserer Forschungsarbeiten 19 )
haben wir longitudinal, in eineinhalb Jahren
Abstand, Flexibilität und Arbeitsplanung bei
24 6-15-jährigen Kindern mit ASS untersucht.
W ir benut z ten z wei Sub -Tests des BADS - C
20 ).
Der erste Sub-Test besteht im Regelnändern
b eim Kar tenspiel und er laubt es , die Fähigkeit
des Prüflings zu testen, die Änderung trotz
dem Widerspruch zwischen erster und zwei -
ter Regel vorzunehmen (Flexibilität). Der
zweite Test, der Zooplan-Test, evaluiert die
Fähigkeit, einen Parcours zu planen, um die
Örtlichkeiten auf dem Plan unter Einhaltung
gewisser Regeln zu besuchen.
Der Test der Regeländerung beim Kartenspiel
deckt oft die grosse Schwierigkeit für Kinder
mit ASS auf, geänderten Anweisungen zu folgen. Die meisten unter ihnen wenden nach
dem Wechsel die gleiche Regel an wie zuvor,
und sind unfähig, ihre Antworten anzupassen.
Die Fortschritte nach eineinhalb Jahren sind
minim. Kinder die versuchen, die Regeln zu
ändern, sind selten.
Abbildung 4 zeigt die
Antworten in Abhängigkeit der vom Kind an-
gewendeten Strategie.
Die Aufgabe mit der Parcoursplanung erwies
sich als extrem schwierig, gewisse Kinder
besuchen alle Orte, andere starten jedesmal
wieder beim Eingang, um einen neuen Ort zu
besuchen (Abb. 5). Das Resultat des Tests
wurde durch Subtrahieren der Fehler von den
erfolgreichen Ergebnissen (unter Berücksich -
tigung der Vorgabe erreichte Orte) berechnet.
Kinder mit ASS begingen mehr Fehler als sie
Erfolge erzielten, und machten zwischen den
beiden Testsitzungen keine Fortschritte.
Die Planungsschwierigkeiten werden durch
zahlreiche Studien belegt
16 ) , 21 ) . Sie sind ausge-
prägter, wenn das Kind zusätzlich ein Intelli-
genzdefizit aufweist. Zu beachten ist, dass
diese neuropsychologischen Tests nur wenig
mit Situationen des täglichen Lebens zu tun
haben. Immerhin ist zu sagen, dass diese
Schwierigkeiten, eine erste Handlung auszu -
führen und gleichzeitig die folgenden zu pla -
nen, in verschiedenen Bereichen des tägli -
chen Lebens ein Hindernis sein kann. Pugliese
et al.
21 ) konnten zeigen, das s die Schw ier igkei -
ten Handlungen einzuleiten, ein Prädiktor
adaptativer Funktionen ist.
Die Schwierigkeit seine Aufmerksamkeit von
einem Ziel abzuwenden und auf ein anderes
Abbildung 4: Anzahl Kinder, aufgeteilt nach Art der Reaktion auf die
Änderung der Regeln beim Kartenspiel; Zeitintervall zwischen den
beiden Sitzungen eineinhalb Jahre Abbildung 5: Beispiel der Planung eines Kindes, das für den Besuch
jedes Ortes immer wieder beim Eingang startet
Korrekter Wechsel
der Regeln, mit einem oder
mehreren Fehlern Benutzt eine
andere Regel, wie abwechselnd ja und nein sagen Wendet dieselbe
Regel wie beim ersten Spiel an Keine Regel
feststellbar Erste
Sitzung
Zweite
Sitzung
1Prof. ffRTof.ff.abi
1Prof. RTabinTo.,ST,e(chtorTSe(olrTab
30
zu richten, könnte ein Ansatzpunkt sein, um
die Eigenartigkeit der bei Autisten beobachte-
ten Verhaltensweisen zu verstehen, insbeson -
dere repetitive und stereotype Verhalten und
gestörte soziale Kommunikation
21),22) . Diese
Fähigkeit ist in zahlreichen Situationen des
täglichen Lebens notwendig (z. B. Problemlö -
sung, Änderungen tolerieren und sich ihnen
anpassen, von einem Gesprächsthema oder
einer Aktivität zur anderen wechseln, gemein -
sames Spielen usw.). Es muss unterstrichen
werden, dass die Störung der Flexibilität bei
Autismus ohne Intelligenzminderung geringer
ist
21 ).
Die Impulskontrolle ist eine der exekutiven
Funktionen die, im Gegensatz zu Planung und
Flexibilität, wenig gestört scheint. Die diesbe -
züglichen Studien sind jedoch umstritten. Ei-
nige Studien zeigen, dass die Impulshemmung
bei Menschen mit ASS erhalten ist, während
andere Störungen ab dem frühesten Kindes -
alter nachweisen
16 ).
W ie die Impulskontrolle w ur de das A r b eit sge -
dächtnis lange Zeit als eine bei Autismus er -
haltene Funktion betrachtet. Verschiedene
Studien unterstreichen jedoch ein nicht opti -
males Funktionieren. Das Arbeitsgedächtnis
soll prädiktiv in Bezug auf Kommunikationsfä -
higkeit und Geschicklichkeit im täglichen Le -
ben sein
21 ).
Exekutive Funktionen spielen in der tagtägli -
chen Funktionsweise sowohl im Kindes- als
im Erwachsenenalter eine vorherrschende
Rolle. Obschon der IQ das Lösen von Aufga-
ben, die exekutive Funktionen evaluieren,
positiv beeinflusst, und als Indikator für sozi -
ale und kommunikative Kompetenz herange -
zogen werden kann, stellen die exekutiven
Funktionen den besten Prädiktor für die Ent -
wicklung dieser Fähigkeiten dar
21 ) ,16 ) .
Was bringt es dem Pädiater?
Die hier beschriebenen neurokognitiven Be -
sonderheiten erlauben es, diagnostische Ver -
haltensweisen von Kindern mit ASS früh zu
erkennen. Ebenso können damit ihr Verlauf
beurteilt und entsprechende Betreuungs -
massnahmen in die Wege geleitet werden.
Es ist für Eltern oft schwer, mit sensorischen
Schwierigkeiten umzugehen. Das Verstehen,
dass es sich weder um eine Laune noch ein
Erziehungsproblem handelt, kann dem Pädia -
ter helfen, mit den Eltern nach Lösungen zu
suchen, diese Schwierigkeiten zu umgehen.
Beim Kleinkind können z. B. Schutzvorrichtun -
gen gegen schmerzhafte sensorische Reize
sinnvoll sein. Dies erfordert eine sensorische
Abklärung, die durch Ergotherapeuten durch -geführt werden kann. So können für das Kind
erträgliche Begleitumstände gewählt werden,
wie weniger reizende Kleider oder weniger
störende Pflegehandlungen, oder es kann
eine Desensibilisierung vorgenommen wer
-
den. Auch sollte die sensorische Funktion
vermehrter Reizsuche untersucht werden. Sie
können f ür das K ind gef ähr lich sein und er for -
dern Vorkehrungen, um das Kind dazu zu
bringen, weniger gefährliche Reize mit dersel -
ben Funktion zu suchen. Es ist z. B. besser,
eine Schaukel einzurichten, als dass sich das
Kind auf nicht dafür vorgesehenen Gegen-
ständen schaukelt.
Die im Zusammenhang mit Informationsver -
arbeitung und globalem Umweltverständnis
auftretenden Schwierigkeiten müssen zwei -
fellos berücksichtigt werden und verlangen
das Einführen entsprechender Anpassungen.
Grundlegende Anpassungen sind visuelle An -
haltspunkte, Klarstellung der wesentlichen
Umweltelemente, Einführen eines Program -
mes, um das Erlernte progressiv zu generali-
sieren. Ein vermindertes Interesse für gewisse
Aspekte in seinem Umfeld muss respektiert
werden, kann aber kanalisiert werden, indem
es z. B . nur f ür b eg r enz te Zeit abschnit te zuge -
lassen wird.
Die Unfähigkeit sozialer Interaktionen, wie
das Ver stehen von G ef ühlsr egungen und ToM ,
aber auch eine verzögerte Entwicklung der
Kommunikation führen bei diesen Kindern zu
grossen Schwierigkeiten. Es ist wichtig, ihnen
rasch alternative Kommunikationsmittel zur
Verfügung zu stellen; dies ermöglicht an -
schliessend Massnahmen, die ihnen ihr sozi -
ales Umfeld besser verständlich machen, in -
dem man sie lehrt, Gefühle und dann das
Verhalten ihres Gegenüber zu interpretieren.
Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den
exekutiven Funktionen Planung und Flexibili -
tät können deutlich durch visuelle Strukturie -
rung des Tagesablaufes und der Aktivitäten
des Kindes vermindert werden.
Diese wenigen, nicht umfassenden Empfeh -
lungen zeigen, w ie w ichtig es ist , die neuroko -
gnitiven Besonderheiten des Autismus zu
verstehen, um Eltern und Fachleuten Mass -
nahmen und Anpassungen vorschlagen zu
können, die eine günstigere Entwicklung
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Korrespondenzadresse
Prof. Evelyne Thommen
Haute école de travail social et de la santé,
EESP, Lausanne et Université de Fribourg
HES-SO, Haute école spécialisée de Suisse
occidentale, University of Applied Sciences
and Arts, Western Switzerland
Ch. des Abeilles 14,
CH – 1010 Lausanne
evelyne.thommen @eesp.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und
keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit
diesem Beitrag deklariert.
1Prof. ffRTof.ff.abi
1Prof. RTabinTo.,ST,e(chtorTSe(olrTab
Weitere Informationen
Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Evelyne Thommen Laetitia Baggioni Aline Tessari Veyre