Sehstörungen (abnorme Fokussierung des Lichtes auf der Netzhaut) umfassen Myopie (zu langes Auge) (Abb. 1), Hypermetropie (zu kurzes Auge), Astigmatismus (Brechungsfehler, abnorme Konvergenz der abbildenden Lichtstrahlen auf der Netzhaut) und Presbyopie (Alterssichtigkeit), die 100 % der 45–50- Jährigen betrifft (Alterung der Linse, die zu verminderter Konvergenzfähigkeit und damit zu Schwierigkeiten beim Lesen aus der Nähe führt). In China waren vor 60 Jahren 10–20 % der Bevölkerung kurzsichtig, heute sind es bis zu 90 % der Jugendlichen und jungen Erwachsenen1). In Seoul sind bis zu 96.5 % der 19-Jährigen Männer kurzsichtig1). In Europa wird bei 20–30-Jährigen eine Prävalenz von 42.3 % gegenüber 29 % bei 50–60-Jährigen festgestellt2). 25 % der amerikanischen Bürger sollen kurzsichtig sein und weltweit sollen 2.5 Milliarden Menschen an dieser Sehstörung leiden.
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Sehstörungen (abnorme Fokussierung des
Lichtes auf der Netzhaut) umfassen Myopie
(zu langes Auge) (Abb. 1), Hypermetropie (zu
kurzes Auge), Astigmatismus (Brechungsfeh –
ler, abnorme Konvergenz der abbildenden
Lichtstrahlen auf der Net zhaut) und Presbyo –
pie (Alterssichtigkeit), die 100 % der 45–50 –
Jährigen betrifft (Alterung der Linse, die zu
verminderter Konvergenzfähigkeit und damit
zu Schwierigkeiten beim Lesen aus der Nähe
führt).
In China waren vor 60 Jahren 10–20 % der
Bevölkerung kurzsichtig, heute sind es bis zu
90 % der Jugendlichen und jungen Erwachse –
nen
1). In Seoul sind bis zu 96.5 % der 19-Jähri-
gen Männer kurzsichtig 1).
In Europa w ir d b ei 20 –30 – Jähr igen eine P r äva –
lenz von 42.3 % gegenüber 29 % bei 50–60 -Jäh –
rigen festgestellt
2). 25 % der amerikanischen
Bürger sollen kurzsichtig sein und weltweit sollen 2.5 Milliarden Menschen an dieser
Sehstörung leiden.
Diese Feststellung wirft zahlreiche
Fragen auf:
Ist Kurzsichtigkeit gefährlich? Wenn ja, wes
–
halb? Kann die Zunahme der Myopie in der
Bevölkerung ein gesundheitspolitisches Pro –
blem werden? Ist es möglich, diesem Phäno –
men entgegenzuwirken und das Fortschreiten
der Myopie während den ersten Lebensab –
schnitten zu bremsen? Worauf beruht diese
Entwicklung? Kann diese weltweite Tendenz
durch genetische Ursachen nach einem Men –
delschen Modell erklärt werden? Handelt es
sich im Gegenteil um eine andersartige Ver –
erbungsweise? Sind epigenetische Mechan –
ismen mitverantwortlich? Spielt unsere Le –
bensweise mit starkem Beanspruchen des
Nahsehens eine Rolle?
Einige Tatsachen zur Myopie
Der Kurzsichtige hat ohne Brille einen
schlechten Fern- und einen guten Nahvisus.
Er hat ein zu langes und zu grosses Auge
(grösseres Gesamtvolumen des Bulbus) (Abb.
2) . Diese Grössenveränderung ist proportio –
nal zur Ausprägung der Myopie. Man könnte
sagen, dass das Auge Kurzsichtiger dieselbe
Gewebemasse wie ein normales Auge hat,
das s ab er, weil das Auge länger und das Volu –
men der Hohlräume grösser ist, die Gewebe
gedehnt werden, manchmal so weit, dass sie
reissen können. Ein Riss in der peripheren Retina o der im B er eich der Makula ( Net zhaut
–
bereich der genauem und Farbsehen dient)
kann zur Netzhautablösung führen.
Kur z sichtigkeit ent s teht im A lter von 3 bis 25
Jahren. Warum? Während diesem Zeitab –
schnitt wächst der Mensch, seine Gewebe
sind geschmeidig und stark deformierbar.
Übertriebene Längenzunahme als Ursache
der gewöhnlichen Myopie findet deshalb
während diesem Lebensabschnitt statt. Es ist
auch der Grund, weshalb die Kinderärzte an
vorderster Front stehen, um die Eltern ihrer
jungen Patienten auf diese Sehstörung auf –
mer ks am zu machen. W ir w is sen, das s A lter n
durch eine gesamthafte Versteifung unseres
Körpers gekennzeichnet ist (nicht enzyma –
tische Glykation, chronischer oxydativer
Stress, chronische Entzündungen), eine My –
opie wird deshalb nie nach dem Alter von 30
Jahren auftreten. Hingegen kann das Auge
während der Wachstumsphase übermässig
an Grösse zunehmen, wenn es übermässig
f ür das Nahsehen b eanspr ucht w ir d. Ein g r os –
ses Auge ist für Nahsehen ohne Brillen ad –
aptiert.
In der augenärztlichen Praxis können Patien –
ten in mehrere Gruppen eingeteilt werden, je
nach Alter, in welchem Ametropien (Sehstö –
rungen) auftreten: Kurzsichtige konsultieren
er s tmals z w ischen 3 und 30 Jahr en, Hy p er me –
trope klagen mit 35–40 Jahren über Sehstö –
r ungen und A lter s sichtige ab 45 Jahr en. Diese
Übersicht ist jedoch unvollständig, denn in
der Praxis können Sehstörungen kombiniert
sein: Myopie und Astigmatismus, Myopie,
Astigmatismus und Alterssichtigkeit, Hyper –
metropie und Alterssichtigkeit usw.
Wie wird eine Myopie korrigiert?
Die Myopie kann mit Hilfe von Brillen, Kon –
taktlinsen oder chirurgisch korrigiert werden.
Die refraktive Chirurgie besteht einerseits aus
verschiedenen an der Augenoberfläche durch –
geführten Laserverfahren, andererseits im
intraokularen Implantieren harter, an der Iris
fi x ier ten o der weicher, z w ischen Ir is und Linse
eingelegten künstlichen Linsen.
«Myopie-Boom » in den
industrialisierten Ländern!
Warum? Eine Herausforderung für unser Gesundheitswesen?
Kann diese Entwicklung gebremst werden?
François Majo, LausanneÜbersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
Abb. 1: Kurzsichtiges Auge. Fokusverlagerung
b ei zu langem Auge und A bnahme der Sehschär –
fe beim Sehen in die Ferne ohne Korrektur.
Abb. 2: Verformung des kurzsichtigen Auges. Das MRI-Bild stellt die hintere Bulbusprotrusion bei starker Myopie dar. A, B : Profil eines norma –
len Auges. C, D, E: Stark myopes Auge, Profil und von hinten.
1Prof. ffRTofaff.bia
1Prof. RTabin,SR.eor.(chtnl)hohe MP Pb.t
16
in Japan um die häufigste Ursache monokula-
rer Blindheit bei über 40 -Jährigen 7). In Europa
ergab eine niederländische Studie, dass die
myope Makuladegeneration die häufigste
Blindheitsursache bei 55–75 -Jährigen ist
8).
Kann die Zunahme der Myopie
in der Bevölkerung ein gesundheits –
politisches Problem werden?
Diese Fr age mus s mit ja b eant wor tet wer den.
Die Herausforderung ist umso grösser, als es
Menschen im arbeitsfähigen Alter sind, die
eine Seh-, Lebensqualitäts- und Autonomie –
einschränkung erleiden. Da diese Menschen
auf Grund ihrer Sehstörung eine IV-Rente er –
halten, handelt es sich zudem um ein ökono –
misches Problem.
Kann diesem Phänomen begegnet und
die Entwicklung der Kurzsichtigkeit
während den ersten Lebensabschnit –
ten, während denen sie am schnells –
ten fortschreitet, gebremst werden?
Beim erwachsenen Auge beträgt der Abstand
z w ischen Hor n – und Net zhaut 23.4 mm. B ei st ar k
Kur zsichtigen kann er bis 30 mm be tragen
9). Die
Längsachse beträgt bei Geburt normalerweise
17 mm, erreicht im Alter von 2 Jahren 20.4 mm
und mit 4 Jahren die Erwachsenenlänge.
Die gewöhnliche Myopie geht mit einer verlän –
gerten Längsachse einher. Will man die Myopie
als es sich dabei um Patienten mit einer star
–
ken Kurzsichtigkeit handelt (Sehstörung über
-5.0 D).
Blindheit: Welche Definition?
G emäs s W H O w ir d B lindheit in die dr ei folgen –
den Kategorien eingeteilt:
• Schwere Visusstörung: Korrigierte binoku –
lar e Sehschär fe weniger als 1/20 und mehr
oder gleich 1/50, Gesichtsfeld zwischen 5°
und 10°. Praktisch kann der Betroffene
Finger in 1 m Abstand zählen.
• Beinahe blind: Binokulare Sehschärfe kor –
rigiert unter 1/50, Lichtwahrnehmung er –
halten, Gesichtsfeld kleiner als 5°. Prak –
tisch ist für den Betroffenen Fingerzählen
in 1 m Abstand nicht möglich.
• Absolute Blindheit: Keine Lichtwahrneh –
mung; erst recht bei fehlendem Auge.
Die Anzahl schwer Kurzsichtiger variiert von
einer Population zur anderen. In Taiwan sind
80–90 % der Mittelschulabgänger kurzsichtig,
davon 10 -20 % schwer kurzsichtig
5). In Aus tr a-
lien leiden 1.2 % der Kurzsichtigen an einer
myopen Retinopathie
6). Die schwere Myopie
und ihre Komplikationen stellen eine der wich –
tigsten Blindheitsursachen bei Menschen im
arbeitsfähigen Alter dar. In Asien handelt es
sich um die dritthäufigste Ursache gesetzli –
cher Blindheit durch beidseitigen Augenbefall,
Ist Kurzsichtigkeit gefährlich?
Wenn ja, weshalb?
Eine schwache oder mittlere Myopie von -1.0
bis – 3.0 Dioptr ien ist an und für sich kein Prob
–
lem. In den meis ten Fällen s t abilisier t sich eine
solche Sehstörung im Alter von 25–30 Jahren,
und die damit behaftete Person kann durch
Hornhautchirurgie im besten Fall endgültig von
ihren Brillen oder Kontaktlinsen befreit wer –
den. Eine stärkere Myopie, über – 4.0 D, kann
zu Komplikationen führen. Eine Myopie kann
bis zu -30.0 D erreichen. Je ausgeprägter die
Myopie, desto grösser das Auge und damit das
Komplikationsrisiko. Es ist zu bemerken, dass
es keine absoluten Zahlen zum Komplikations –
risiko bei Myopie gibt; ein Kurzsichtiger mit
-2.0 D kann eine Netzhautablösung erleiden.
Es konnte aber gezeig t werden, dass das myo –
piebedingte Komplikationsrisiko mit zuneh –
mender Kurzsichtigkeit zunimmt.
Welchen Gefahren sind stark
Kurzsichtige ausgesetzt?
Bei ausgeprägter Kurzsichtigkeit kann die Au –
genlänge 30 mm er r eichen. Die 7 mm Dif fer enz
zum normalen Auge (23.4 mm) sind entschei –
dend, denn das Augenvolumen nimmt dadurch
um das 2–3-fache zu. Das Gewebe dieser Au –
gen entspricht demjenigen eines emmetropen
( nor malen ) Auges , w ir d ab er dur ch das g r ös se –
re Volumen gedehnt und kann reissen. Netz –
hautablösungen durch Netzhautrisse stellen
die grösste Gefahr dar. Man spricht von my –
oper Retinopathie. Die Retina ist eine Ausstül –
pung des Zwischenhirnes und ihre Ablösung
kann mit einer Durchblutungsstörung oder
chronischen Entzündung gleichgesetzt wer –
den. In beiden Fällen ist das Gewebe unwider –
r u flich zer s tör t , was einen endgültigen, teilwei –
sen Visusverlust zur Folge hat. Der zu dieser
endgültigen funktionellen Schädigung führen –
de P rozes s kann mit einer sich langsam einstel –
lenden Hirnblutung verglichen werden.
Die Retinopathie bei ausgeprägter Myopie
kann wie folgt beschrieben werden (Abb. 3):
Zeichen eines Staphyloms (Ausbuchtung am
hinteren Augenpol), Risse im Pigmentepithel
(an der Ernährung der Fotorezeptoren betei –
ligtes Epithel), Fuchs’sche Flecken (Maku –
lanarben nach Retinablutung), Chorioidea-
und Retinaatrophie
3).
Kann die Zunahme an Kurzsichtigen zu
einem gesundheitspolitischen Problem
werden?
Gemäss WHO gehört die Myopie weltweit zu
den häufigsten Ursachen gesetzlicher Blind –
heit
4). Die Problematik ist umso bedeutender,
Abb. 3: Retinopathie bei starker Myopie. Augenhintergrund, sichtbar ist die Makularegion. A,
B: Fuchs’sche Flecken und Makulablutung. C: Risse im Pigmentepithel. D: Chorio -retinale
Atrophie.
1Prof. ffRTofaff.bia
1Prof. RTabin,SR.eor.(chtnl)hohe MP Pb.t
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Massnahmen während dem Wachstum, d. h.
innerhalb des Zeitabschnittes, während wel –
chem die Myopie fortschreiten kann, ergriffen
werden (Abb. 4).
i. Verlängerung der täglichen Sonnenlicht –
exposition (Abb. 5, oben links)
In gewissen Ländern haben die Gesundheits –
instanzen entsprechende Beschlüsse gefasst:
In China und Singapur sind prospektive Ko –
hortenstudien im Gange. Die Kinder müssen
sich mehrere Stunden täglich im Freien auf –
halten; zu bemerken ist, dass sie dabei auch
weniger das Nahsehen beanspruchen.
Zusätzliche Vitamin-D-Gabe
16 ). Ergänzende
Studien müssen diese Massnahme validieren.
ii. Einschränkung des Nahsehens
• Einschränkung der Akkommodation durch
optische Korrektur:
• B r illen : B ifokale o der pr og r es si ve G läser zur
Entlastung der Akkommodation (Abb. 5,
oben rechts)
• Kontaktlinsen mit asphärischem Fokussie –
rungsprofil, korrigieren die periphere Fo –
kusverschiebung nach hinten
• Orthokeratologie: Gezielte Veränderung der
Hornhautform durch speziell geformte Kon –
taktlinsen mit asphärischem Fokussie –
rungsprofil; werden nachts getragen (Abb.
5, unten links)
• Pharmakologisch: Akkommodationsläh –
mung durch sehr schwach dosierte Atropin –
tropfen (Abb. 5, unten rechts) . Diese Be-
handlung ist mit Nebenwirkungen behaftet:
Die Kinder sind tagsüber geblendet, da die
geweiteten Pupillen sich bei starkem Licht
nicht anpassen können. Die Wirkung geht
verloren, wenn die Behandlung zu früh ab –
gebrochen wird. Dabei sollte die Behand –
Sklera würde somit, unter dem Einfluss der
durch vermehrtes Nahsehen bedingten Mus
–
kelspannung, ein vermehrtes Längenwachs –
tum des Auges ermöglichen.
Im Weiteren führt übermässiges Nahsehen
während dem Wachstum zu einer Überbelas –
tung der Augen in Konvergenz- und Akkommo –
dationsstellung (übliche Augenstellung beim
Nahsehen). Dieser Zustand akkommodativer
Spannung bedingt wahrscheinlich eine Druck –
erhöhung im hinteren Teils des Bulbus
13 ), eine
momentane Verlängerung der Augenlängs –
achse
14 ) und eine Überbeanspruchung der
Sklera. Diese mechanischen Belastungen,
denen das Auge ausgesetzt ist, können ein
vermehrtes Längenwachstum verursachen
und damit zur Myopie führen. Nahsehen ist
auch mit einem Konvergenzdefizit assoziiert;
der Focus von Abbildungen kommt dabei
hinter die Retina zu liegen
15 ), was w ie der um zu
einer Verlängerung der Längsachse führt.
Diese Faktoren bekommen insbesondere,
aber nicht ausschliesslich, während der
Wachstumsphase zum Tragen.
Nur wenn wir verstehen, welche Faktoren die
endgültige Länge des menschlichen Auges
bestimmen und zu welchem Zeitpunkt sie
wirken, können wir Strategien zur Eindäm –
mung dieser «Epidemie» entwickeln.
Präventionsstrategien müssen zwei
Elemente berücksichtigen: Dauer
der täglichen Sonnenlichtexposition
(korreliert mit dem Vitamin-D-Spiegel)
und tägliche Beanspruchung durch
Nahsehen
Will man das Längenwachstum eines kurz –
sichtigen Auges und dessen endgültige Länge
beeinflussen, dann müssen entsprechende
verstehen und möglicherweise «kontrollieren»,
setzt dies die Kenntnis der Mechanismen vor
–
aus, die zur endgültigen Augengrösse führen.
Wir wissen, dass beim Tier ein Auge, das
während dem Wachstum nicht akkommodiert,
d. h. Bilder hinter dem Augenhintergrund fo –
kussiert, diese Störung durch Verlängerung
der Längsachse zu kompensieren versucht
(als suchte es die Zone stärkster Lichtenergie,
die sich in diesem Fall hinter der Retina befin –
det)
10 ). Das Auge kann sein Wachstum an –
schliessend in Abhängigkeit der erhaltenen
Stimuli (Nah- und Fernsehen, mehr oder we –
niger häufig dem Sonnenlicht ausgesetzt sein)
fortsetzen.
Kurzsichtigkeit ist mit einem grossen
Auge assoziiert. Es ist deshalb wichtig,
zu verstehen, welche Faktoren die
Erwachsenengrösse beeinflussen
11 ).
Als Teil eines Lebewesens hat das Auge den
Zweck, Sehquantität und -qualität zu garan –
tieren. Die effiziente Organisation dieser
Funktion hängt von der Entwicklung und dem
endgültigen Gleichgewicht zwischen opti –
schem System (Hornhaut und Linse) und
Längsachse des Auges ab.
Erhält ein Auge während den ersten Lebens –
jahren wenig Licht, wissen wir aus klinischer
Erfahrung, dass es seine Länge nicht stabili –
siert und myop wird. Wir wissen z. B., dass das
Auge eines Kindes, das zugedeckt wurde und
kein Licht bekommt (z. B. nach Verletzung und
nicht behandelter Katarakt), Tendenz hat,
üb er mäs sig zu wachsen und myop zu wer den.
Man spricht von Privationsmyopie (sensoriel –
le Privation). Dieser Mechanismus ist gut
bekannt und wurde beim Tier reproduziert
11 ).
Die tägliche Sonnenlichtexposition scheint
bei der Entwicklung der Myopie ebenfalls eine
wichtige Rolle zu spielen. Zwei Faktoren sind
möglicherweise beteiligt. Einerseits führt die
Wirkung von Licht und Lichtspektrum zur
chemischen Stimulierung der Retina (künstli –
ches Licht hat offenbar nicht dieselbe bio –
logische Wirkung). Andererseits verursacht
eine spärliche Sonnenlichtexposition zum von
Kinderärzten gut bekannten Vitamin-D-Defi –
zit
12 ). Dieser relative Mangel soll bei der Ent –
stehung der Myopie eine Rolle spielen, da die
Sklera histologisch Knorpel entspricht. Der
bei Kurzsichtigen festgestellte Vitamin-D-
Mangel könnte die relative Schwäche der
Sklera und die im Vergleich zum emmetropen
Auge vermehrte Anpassungsfähigkeit erklä –
ren. Diese grössere Anpassungsfähigkeit der
Abb. 4: In einer chinesischen Schule eingeführte Massnahmen zur Einschränkung der Anzahl
Kursichtigen. Die Bögen hindern die Kinder aus zu grosser Nähe zu lesen und damit zu stark zu
akkommodieren.
1Prof. ffRTofaff.bia
1Prof. RTabin,SR.eor.(chtnl)hohe MP Pb.t
18
Wie ist diese Entwicklung
denn zu erklären?
Da die Mendelschen Regeln unsere Beobach-
tungen nicht erklären können, kann es sich
um eine Artenveränderung gemäss dem Mo –
dell von Darwin oder von Lamarck handeln,
indem umweltbedingte und epigenetische
Faktoren eine Rolle spielen?
Das evolutive Modell Darwins schliesst die
Vererbung erworbener Eigenschaften aus; die
dramatische Zunahme an Kurzsichtigen würde
folgendermassen erklärt: Eine individuelle
Mutation führt über die Nachkommenschaft
zur Bildung einer grösseren Gruppe Individuen
mit besseren Überlebenschancen; diese Un –
tergruppe wäre besser an die moderne Le –
bensart mit zunehmend mehr Aktivitäten, die
Nahsehen erfordern, angepasst. Aber auch
dieses Modell kann die aktuelle Situation
nicht erklären, da eine zufällige Mutation
gleichzeitig an beinahe allen Ecken der Welt
hätte auftreten müssen.
Nur die Epigenetik kann erklären, was wir
derzeit beobachten. Um Epigenetik einfach zu
erläutern, kann folgende Metapher verwendet
werden: Man stelle sich vor, der geschriebene
Text eines Buches sei das Genom einer Zelle
(familiär vererbte, harte, durch zufällige Muta –
tionen veränderliche Daten). Die Art, wie das
Buch gelesen wird, entspricht der Epi genetik
(ebenfalls vererbte, jedoch weiche, stark
durch die Umwelt beeinflusste und veränder –
bare Daten) (Evolution nach J.-B. Lamarck).
Gemäss diesem Modell wären Umweltfakto –
ren (die Art und Weise, wie wir unsere Augen
benutzen und übermässiges Nahsehen wäh –
rend der Wachstumsphase) entscheidend für
das beobachtete Phänomen verantwortlich.
Schlussfolgerungen
Kurzsichtigkeit ist in gewissen Ländern Süd –
ostasiens ein Gesundheitsproblem grossen
Ausmasses geworden, sind doch bei Mittel –
schulabschluss 80–90 % der Jugendlichen
kurzsichtig, wobei die Prävalenz in den letzten
Jahrzehnten stark zugenommen hat. Das Phä –
nomen wird, wenn auch weniger ausgeprägt,
auch in den westlichen Ländern und der
Schweiz beobachtet. Die einfache Myopie ist
eine geläufige Sehstörung, mit geringen Fol –
gen auf die Lebensqualität; eine ausgeprägte
Myopie hingegen (über -5.0 D, d. h. 10–20 %
der Kurzsichtigen) kann zu wesen tlicher Mor-
bidität führen, mit gesetzlicher Blindheit bei
Menschen in arbeitsfähigem Alter.
Die Zunahme an Kurzsichtigen scheint mit
dem zunehmenden Druck zusammenzuhän –
se mit starkem Beanspruchen des
Nahsehens eine Rolle?
Worauf beruht diese Entwicklung?
Kinder kurzsichtiger Eltern haben ein grösse
–
res Risiko, kurzsichtig zu werden. Gewisse
Genmutationen stehen im Zusammenhang mit
syndromatischen Myopien
18 ). Für die gewöhn –
liche Myopie wurde bisher kein Gen gefunden.
Dieser «Myopie-Boom» wirft zahlreiche Fra –
gen auf. Wie kommt es, dass die Anzahl Kur z –
sichtiger innerhalb von zwei oder drei Gene –
rationen derart zugenommen hat? Es scheint,
dass äussere Faktoren die Endlänge der Au –
gen junger Menschen beeinflussen und dass
der neue Phänotyp auf die nächste Generati –
on übertragen werden kann. Dass eine erwor –
bene Eigenschaft so schnell von einer Gene –
r ation au f die nächs te üb er tr agen w ir d , r üt telt
an unseren Kenntnissen von Mutation und
Übertragungsweise der Erbmerkmale.
Kann diese weltweite Tendenz durch
genetische Ursachen nach einem
Mendelschen Modell erklärt werden?
Nach den mendelschen Regeln wird ein Merk –
mal durch die Kombination der elterlichen
Gene weitergegeben. Im vorliegenden Fall
kann dieses Modell die weltweit beobachtete
Entwicklung nicht erklären.
lung bis ins Alter von 25 Jahren fortgeführt
werden, was in Anbetracht der Nebenwir
–
kungen (andauernde Pupillendilatation mit
Photophobie) undurchführbar ist. Beim Neu –
geborenen kann zur Untersuchung des Au –
genhintergrundes oder der Refraktion Atro –
pin verwendet werden; es muss jedoch
bedacht werden, dass Atropin beim sehr
jungen Säugling zu einem Reflexileus führen
kann.
iii. Chirurgische Beschränkung des Län –
genwachstums des myopen Auges
Chirurgisches Verstärken der Sklera bei star –
ker Myopie, um eine weitere Deformierung zu
vermeiden
17 ): Heterologe Sklerastreifen oder
synthetische Patches werden am hinteren
Augenpol angebracht und vor dem Äquator
fixiert; es entsteht eine Art äusserer Verband
zur Festigung des Auges. Diese Technik wurde
1960 durch den russischen Ophthalmologen
BJ. Curtin vorgeschlagen.
Kann diese weltweite Tendenz durch
genetische Ursachen nach einem
Mendelschen Modell erklärt werden?
Handelt es sich im Gegenteil um eine
andersartige Vererbungsweise? Sind
epigenetische Mechanismen mitver –
antwortlich? Spielt unsere Lebenswei –
Abb. 5. Oben links: Aktivitäten im Freien, vermehrte Sonnenlichtexposition. Oben rechts:
Bifokale Gläser unterstützen die Akkommodation. Unten links: Orthokeratologie. Abflachung
der Hornhaut durch ausschliesslich nachts getragene Kontaktlinsen. Keine periphere Fokus –
verlagerung mehr, die gesamte im Auge fokussierte Lichtenergie liegt vor der Netzhaut. Unten
rechts: Pharmakologische Akkommodationslähmung
1Prof. ffRTofaff.bia
1Prof. RTabin,SR.eor.(chtnl)hohe MP Pb.t
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Korrespondenzadresse
Dr François Majo, MD, PhD
Privat-Docent
Spécialiste FMH en Ophtalmologie
et Ophtalmochirurgie
Place de la Gare 10
1003 Lausanne
www.cogl.ch
fmajo @cogl.ch
Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung
und keine anderen Interessenkonflikte im Zu –
sammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
gen, der auf Schulkinder ausgeübt wird, und
sie zwingt, immer mehr Zeit mit studieren,
und damit mit Nahsehen zu verbringen; dazu
gesellen sich noch Änderung des Lebensstils,
mit zunehmend Nah-Aktivitäten (Computer,
Tablets, iPhones usw.). Diese Verhaltensän
–
derung geht einher mit weniger im Freien
verbrachter Zeit; die Kinder sind damit weni –
ger dem Sonnenlicht ausgeset z t und schauen
weniger in die Ferne.
Die aktuelle «Epidemie» könnte demnach durch
epigenetische Mechanismen erklärt werden, bei
welchen die Umwelt eine entscheidende Rolle
spielt . Es is t an und f ür sich eine gute Nachr icht ,
denn es bedeutet, dass wir diese Entwicklung
durch Änderungen von Umwelt und Lebensstil
beeinflussen und die schweren Komplikationen
der Myopie eindämmen können.
Entsprechende Strategien wurden für Kinder,
Jugendliche und junge Erwachsene, im Alter
während welchem die Kurzsichtigkeit progre –
dient ist (Geburt bis 25 Jahre), vorgeschlagen.
Sie bestehen im Wesentlichen darin, vermehr –
te Sonnenlichtexposition anzustreben, die
Akkommodation zu entlasten oder die Licht –
strahlen vor und nicht hinter der Netzhaut zu
fokussieren.
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1Prof. ffRTofaff.bia
1Prof. RTabin,SR.eor.(chtnl)hohe MP Pb.t
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. François Majo , Privat-Docent Spécialiste FMH en Ophtalmologie et Ophtalmochirurgie Andreas Nydegger