Einführung
Gemäss den neuesten Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) betrug die schweizerische Bevölkerung 2014 8.2 Millionen Einwohner. Darunter findet man einen relativ hohen Anteil Ausländer, nämlich 2.1 Millionen (24.3 %).
3
Spezialnummer Migranten 2016 Fortbildung
Einführung
Gemäss den neuesten Daten des Bundesam-
tes für Statistik (BFS) betrug die schweizeri –
sche B evölker ung 2014 8.2 Millionen Einwoh –
ner. Darunter findet man einen relativ hoh
en
Anteil Ausländer, nämlich 2.1 Millionen
(24.3 %). Der Anteil minderjährige (0–18 Jah –
re) Nicht-Schweizer folgt der gleichen Ten –
denz (20.2 %). Die Anzahl Asylsuchender liegt
derzeit bei ca. 80000, (wovon 21000 2013
und 40000 2015 eintrafen), «Sans Papiers»
und illegal Einger eis te wer den au f 10 0 ’0 0 0 bis 300’000 geschätzt! Migration ist deshalb eine
zentrale Problematik, insbesondere in Bezug
auf das Gesundheitswesen, da oft angenom
–
men wird, Migranten befänden sich in weniger
guter Gesundheit als die einheimische Bevöl –
kerung.
Mit diesen Zeilen versuchen wir dem Grund –
versorger, der sich einem Migrantenkind und
seiner Familie gegenübersieht, einen prakti –
schen Leitfaden zu vermitteln; diese bei wei –
tem nicht ungewöhnliche Situation betrachten
viele im Gesundheitswesen Tätige als kompli -ziert, sie fühlen sich dabei «hilflos» und oft
machtlos
1). Zu ihrer Entlastung muss gesagt
werden, dass die medizinische, insbesondere
pädiatrische Literatur
2) zu diesem Thema
spär lich ist und nur wenige Guidelines verfüg –
bar sind. Er wähnenswer t sind z wei kür zlich in
Kanada erschienene Arbeiten, in welchen ei –
nige Abschnitte dem Kindesalter gewidmet
sind (Infektionskrankheiten, Impfungen, Miss –
handlung, Zahnhygiene usw.)
3 ) , 4) . Kinder mit
Migrationshintergrund haben im Grossen und
Ganzen dieselben gesundheitlichen Bedürf –
nisse wie einheimische Kinder; gewisse Be –
sonderheiten erfordern jedoch ein «gezieltes»
Vorgehen.
Einleitend werden wir einige allgemeine Be –
griffe erörtern, um dann auf globale (und die
ganze Familie umfassende) Vorschläge zur
Betreuung einzugehen, z. B. beim ersten Kon-
takt eines Migranten mit unserem Gesund –
heitssystem (Welche Abklärungen? Womit be –
ginnen ? usw. ) . Es sei auch b emer k t , das s Ä r z te
aus «Gewohnheit» und insbesondere beim
ersten Kontakt dazu neigen, sich in diesen Si –
tuationen zu sehr, und oft übermäs sig, auf die
medizinischen Aspekte zu kon
zentrieren. Trotz
ihrer, hauptsächlich in psy
chologischer Hin-
sicht, oft erschütternden Vorgeschichte, sind
Migrantenkinder im Ganzen gesehen bei guter
Gesundheit. Diese verschlechtert sich jedoch
zunehmend im Verlaufe der in der Schweiz
verbrachten Jahre (chronische Krankheiten wie
Adipositas, metabolisches Syndrom, Hyper –
tonie und Risikoverhalten, Tabak-, Alkohol-,
Drogenkonsum usw.) ! Eine gute soziale Integ –
ration und Zugang zu Vorbeugemassnahmen
sind deshalb zwei wesentliche Stützen, die der
Kinder- oder Hausarzt den Migrantenfamilien,
nach Ablauf der ersten Etappe somatischer wie
psychosozialer Abklärungen, anbieten muss.
Professionelle Betreuung muss im Bewusstsein
geschehen, dass vielseitige Barrieren (abhän –
gig vom Patienten, von der betreuenden Fach –
person, vom schweizerischen Gesundheitswe –
sen) den Zugang zu medizinischer Betreuung
behindern.
Klinische Betreuung von Migranten:
Fokus Pädiatrie
Gehri Malick a), Jäger Fabienne b), Wagner Noémie c), Gehri Mario d)
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
Tabelle 1: Ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz, 2013 (BFS).
Anteil ständige ausländische
Wohnbevölkerung
2 5 %
2 0 %
1 5 %
1 0 %
5 %
0 %
1900 1920 1940 1960 1980 2013
Italien
Deutschland Portugal
Frankreich Serbien
Kosovo
Spanien Türkei
Mazedonien
Grossbritannien Österreich
Übrige euro –
päische Länder
Übrige Kontinente
15,4
15 .1
13,1
5,7
4,7
4,5
3,9
3,6
3,2
2 ,1
2,0
11 , 7
15,0
Ständige ausländische
Wohnbevölker ung,
nach Staatsangehörigkeit, 2013
To t a l 2 0 2 0 ,1
Aufenthalter (Ausweis B) 61 6 , 5
Niedergelassene (Ausweis C) 1 2 2 7, 9
Internationale Funktionäre
und Diplomaten 28,9
Kurzaufenthalter (Ausweis L) 9 7,1
Asylsuchende (Ausweis N)
21, 3
Vorläufig aufgenommen
(Ausweis F) 2 2 ,1
Nicht zugeteilt 6,3
Ständige und nichtständige ausländische
Wohnb evölkerung, nach Niederlassungs
bewilligung, 2013 in Tausend
in %
a)
Etudiant en maîtrise, Institut de Santé Globale,
Université de Genève
b) Kinder- und Jugendmedizin FMH, Prävention und
Gesundheitswesen FMH, Ser vice de Pédiatrie, Hôpi –
tal du Jura, Site de Delémont, Delémont, Schweize –
risches Tropen- und Public Health-Institut, Basel,
Switzerland, Universität Basel
c) Paediatric Infectious Disease Unit, Department of
Paediatrics, Geneva University Hospital
d) Pédiatre FMH, PD, médecin – chef, Hôpital de
l’Enfance – Département médico-chirurgical de
pédiatrie CHUV, Lausanne
4
Spezialnummer Migranten 2016
Allgemeines
Definitionen, Charakteristika
und Rechtsstatus
Es sollen folgende Definitionen berücksichtigt
werden (United Nations Educational and Cul-
tural Organisation, UNESCO, und Internatio –
nale Organisation für Migration, IOM
5)):
• Migrant: ausländische Person, ausserhalb
des Gastlandes geboren, dort lebend und
arbeitend. Es wird erwartet, dass sie dort
wesentliche soziale Bande knüpft (Beruf,
Schule usw.)
• Kind mit Migrationshintergrund (von Geburt
bis 18-jährig): Kinder und Jugendliche mit
oder ohne Begleitung Ihrer Eltern, ohne per –
sönliche Dokumente, der sog. «zweiten Ge
–
neration», Flüchtlinge oder Asylsuchende
• Unbegleitete minderjährige Asylsuchende
(UMA) (unter 18-jährig):
• Asylsuchender
• Von keinem Elternteil oder gesetzlichen
Vertreter begleitet •
Zur Auswanderung gezwungen: Krieg,
Misshandlung, Vergewaltigung, Zwangs-
oder arrangierte Heirat, Tod der Eltern,
ökonomische Gründe.
2012 kamen 460 UMA in die Schweiz, 2015
waren es 2736 (darunter 120 < 12-jährige).
80 % sind Knaben und 85 % stammen aus
Afrika (Eritrea, Äthiopien), Afghanistan und
Syrien. Sie leben hauptsächlich in St. Gallen
und Lausanne.
Die überwältigende Mehrheit der Migranten
stammt aus Ländern der europäischen Union,
vor allem aus Nachbarländern, allen voran
Deutschland und Italien ( Tab. 1). D er kultur el -
le Faktor offenbart sich dann eher durch den
Sprachunterschied als durch andersartige
Haltung oder kulturell bedingtes Sozialverhal -
ten usw.
Rechtlich gesehen, hat der Migrantenstatus
keine reelle Bedeutung. Es muss deshalb klargestellt werden, welchen Status die Per
-
son mit Migrationshintergrund hat, dies
umso mehr, als der Zugang zur Krankenver -
sicherung direkt davon abhängig ist. Die in
diesem Zusammenhang wichtigsten Begriffe
sind in Tabelle 2 zusammengestellt (ange -
passt, mit Angabe der üblicherweise erteil -
ten Bewilligung 6)); Ausländer mit einer Nie -
derlassungs- und Aufenthaltsbewilligung
( Ausweise B und C ) sind nicht au fgef ühr t . Die
Ausweise N und F zeichnen sich durch ihren
provisorischen Charakter aus; sie müssen
regelmässig erneuert werden und führen
damit bei ihren Besitzern zu grossen Unsi -
cherheitsgefühlen.
Gesundheitszustand der Migranten,
insbesondere Kinder, in der Schweiz
Man findet in der Migrantenpopulation be -
trächtliche soziale und ökonomische Unter -
schiede. Schematisch kann man zwei Grup -
pen unterscheiden (wobei bestimmt auch
intermediäre Kategorien vorkommen):
Status Person… Anrecht auf Kranken versicherung, Ausweis
Asylbewerber Die formell in der Schweiz um Schutz nachsucht, unab
-
hängig vom zu erwartenden Bescheid; diese Person
wünscht als Flüchtling anerkannt zu werden und in den
Genuss des damit verbundenen Rechtsschutzes und ma -
teriellen Hilfe zu gelangen. Hat Anrecht auf eine Basisversicherung, den Kantonen ist es je
-
doch freigestellt, die Wahl des Versicherers und des Leistungser -
bringers einzuschränken. Ausweis N
Flüchtling Die in ihrem Herkunftsland oder letzten Aufenthaltsland
aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen
Überzeugung ver folgt wird oder zu Recht befürchtet, ver
-
folgt zu werden. Hat in Bezug auf Krankenversicherung Anrecht auf dieselben
Bedingungen wie Schweizer Bürger. Ausweis F, N, S, manchmal B
Nichteintretens
entscheid (NEE) Deren Asylgesuch aus formellen Gründen (mangelnde
Kooperation, Fehlen gültiger Dokumente etc.) nicht genau
-
er geprüft wird; diese Person muss die Schweiz in der
Regel sofort verlassen. Hat Anrecht auf minimale Notfallhilfe, inbegriffen Zugang zu
medizinischer Betreuung. Kein Ausweis
Dublinfall Deren Asylgesuch grundsätzlich nicht weiter geprüft wird,
weil bereits ein früheres Asylgesuch in einem dem Schen
-
genraum angeschlossenen Land hängig oder abgeschlos -
sen ist, dies unabhängig vom Bescheid. Diese Person wird
in das entsprechende Land zurückgeschickt. Hat Anrecht auf minimale Notfallhilfe, inbegriffen Zugang zu
medizinischer Betreuung. Kein Ausweis
Person mit
nega tivem
Entscheid Die früher den Status eines Asylbewerbers innehatte und,
nach Abschluss des Verfahrens durch das Bundesamt für
Migration und Erledigung allfälliger Rekurse bei den zu
-
ständigen Bundesbehörden, einen definitiven negativen
Bescheid erhalten hat. Keine Krankenversicherung, kann aber eine solche abschliessen
und eine teilweise Prämiensubvention erhalten, ohne Gefahr,
angezeigt zu werden. Kein Ausweis oder Ausweis F falls vorläufig
aufgenommen aber nicht als Flüchtling anerkannt
Sans Papiers Ausländischer Nationalität, die sich illegal in der Schweiz
aufhält, sei es nach Ablauf der Gültigkeit eines Touristen
-
visums oder einer anderen legalen Aufenthaltsgenehmi -
gung, sei es nach Beendigung eines Asylver fahrens mit
abschlägigem Entscheid, ohne dass ein weiteres Aufent -
haltsgesuch gestellt oder bewilligt wurde, resp. obschon
eine Aufenthaltsbewilligung verloren ging. Keine Krankenversicherung, kann aber eine solche abschliessen
und eine teilweise Prämiensubvention erhalten, ohne Gefahr,
angezeigt zu werden. Kein Ausweis
Tabelle 2: Rechtlicher Status, Ausweis und soziale Konsequenzen (Versicherung), angepasst nach 6)
Bemerkung: Die Kinderrechtskonvention sieht vor, dass unbegleitete Migrantenkinder Anrecht auf besonderen Schutz haben. Ziel ist es, ihnen die Grundlagen zu vermitteln,
um in Sicherheit auf wachsen und Zukunftsperspektiven entwickeln zu können, sei es durch Rückkehr in ihr Ursprungsland, sofern dies möglich ist, sei es, indem eine dau
-
erhafte Lösung in der Schweiz (oder einem Drittland) gefunden wird.
1J.-C Métra
5
Spezialnummer Migranten 2016 Fortbildung: Migranten
dern und Eltern zu schweren psychischen
Störungen. Diese bedingen ihrerseits «Risiko-
verhalten», die Unfälle begünstigen können.
Die Grenze zur «Misshandlung» ist oft schwer
zu ziehen, bedarf aber besonderer Aufmerk -
samkeit. Eine ausführliche kanadische Litera -
turübersicht
3) hebt hervor, dass Kinder aus
ethnischen Minderheiten und insbesondere
Asylsuchende übermässig als «misshandelt»
identifiziert und gemeldet werden (8.7 x bzw.
4 x mehr als einheimische Kinder); die in die -
ser Literaturübersicht angeprangerten über -
mässigen Meldungen bei Kinderschutzstellen,
die zum Auseinanderbrechen von Familien
und des sozialen Gefüges führen und schwere
gesundheitliche Folgen für die Kinder haben,
finden allerdings in einem von unserem deut -
lich verschiedenen Umfeld statt. Die dort
formulierten Empfehlungen gehen dahin, dass
in diesem sehr sensiblen Bereich ein äusserst
professionelles Vorgehen und grosse klini -
sche Empathie notwendig sind. Es wird auch
die Frage erörtert, inwiefern das rechtzeitige
Aufsuchen eines Psychologen zur Früherken -
nung signifikanter Störungen (vom Typ Post -
traumatic Stress Disorder) beitragen kann
9).
Besondere Aufmerksamkeit des Kinderarztes
während der ersten Monate ist unbedingt
notwendig.
Somatische, bei der Ankunft von Migranten -
kindern entdeckte Pathologien bestehen im
Wesentlichen aus Infektionskrankheiten.
Wenn auch nicht ausschliesslich infektions -
bedingt, muss in erster Linie die sogenannte
«Schoppenkaries» erwähnt werden, die bei
beinahe 50 % der Migrantenkinder unter 5
1.
Einerseits Migranten mit geringem Ge
sundheitsrisiko: Diplomaten, Intellektuel -
le, Studenten, obere Führungsschicht, libe -
r ale B er u fe o der Politiker mit ihr en K inder n.
2. Die zweite Gruppe besteht aus Migranten
(Familie und Kinder inbegriffen) mit
vermehrtem Gesundheitsrisiko: Arbeiter,
Berufsgruppen mit niedrigem Einkommen,
Asylsuchende, illegal Eingereiste. Frauen
und Kinder stellen an sich «Risikogruppen»
dar, die einer entsprechenden Betreuung
bedürfen. Die kürzlich aus Syrien und Erit -
rea eingetroffenen Populationen gehören
alle dieser zweiten Gruppe an.
Wir beziehen uns hier im Wesentlichen auf
diese z weite, of t in g r os ser sozialer Unsicher -
heit lebende Gruppe.
Die psychische Gesundheit der Migranten
ist im Vergleich zur schweizerischen Bevöl -
kerung fragil
7) , 8) . Bei Familien mit Kindern
wiederspiegelt sich dies in vermehrtem Auf -
suchen von Schulpsychologen. Will man
«Pathologien» bezeichnen, so sind Migran -
ten
kinder scheinbar empfindlicher für sogen -
an
nt «funktionelle» Beschwerden (chronische
Bauchschmerzen, Enuresis, Thoraxschmer -
zen, Gefühl der Atemnot, Hyperventilations -
krisen, Schlafstörungen, Alpträume usw.)
sowie depressive und Angstzustände. Sie sind
vor allem durch die im Ursprungsland oder
während ihrer Auswanderung erlittenen Trau -
men gezeichnet (denken wir an das Beispiel
der Flüchtlinge aus Syrien oder dem Horn von
Afrika). Die so erlebte, und oft innerhalb der
Familie nachvollzogene Gewalt, führt bei Kin - Jahren festgestellt wird (gegenüber ca. 20
%
bei Schweizer Kindern, Daten von Madrid et
al.
11 ), bestätigt durch eine kürzlich in Lau -
sanne durchgeführte Studie 10 )). Sie ist unter
den Gesundheitsberufen wenig bekannt und
wird ungenügend versorgt.
Je nach Ursprungsland und Migrationsweg
können die Kinder an Infektionen leiden, die
als «exotisch» betrachtet werden: Hepatitis B
(Migrantenkinder sind zum Teil nicht geimpft
und stammen aus hoch endemischen Län -
der n ) , HI V, B ilhar ziose, Malar ia o der Tub er ku -
lose (erhöhtes Risiko vor allem nach Aufent -
halt in einem Gefängnis oder Flüchtlingslager,
insbesondere in Afrika). Der Impfstatus ge -
wisser Kinder kann inkomplett sein, obwohl
sich die Durchimpfung weltweit – und vor al -
lem in südlichen L änder n – in den let z ten zehn
Jahren deutlich verbessert hat. Darmparasi -
ten sind häufig; die einen empfehlen systema -
tische Suche, andere, pragmatischer, syste -
matisch zu behandeln.
Frauen können eine Verstümmelung des Ge -
nitales erlitten haben, besonders in afrikani -
schen Ländern (Ostafrika, Ägypten u. a.)
11 ).
Es ist deshalb empfehlenswert, eine «geogra -
phische» und «Wahrscheinlichkeitsmedizin»
zu pr ak tizier en , um b ei A bklär ungen möglichs t
rationell vorzugehen. So wird man angesichts
einer Anämie (klinisch oder als Laborbefund)
und je nach Herkunft der Familie eine Sichel -
zellanämie suchen.
Bei Mädchen wurden Störungen hormoneller
und bisher ungeklärter Art festgestellt, die in
Abbildung 1: Was ist vom Erwerb transkultureller klinischer Kompetenzen zu erwarten? 20 )
A. Schematische Darstellung der Wahrnehmung einer klinischen Situation (in Bezug auf medizinische Kenntnisse, Wahrnehmung der Krankheit,
sprachliche Kompetenzen, Erwartungen und Werte). Aus der Sicht von Pflegeperson und Patient.
B. Die Gemeinsamkeiten haben sich Dank besserer transkultureller Kompetenzen des Klinikers erweitert (bessere medizinische Kenntnisse,
Verständnis für die Krankheitsvorstellungen, Hilfe eines Übersetzers, Erkundung der Erwartungen, mehr gemeinsame Werte).
A B
Pflegeperson Pflegeperson
Patient Patient
Erwerb transkultureller
klinischer Kompetenzen
6
Spezialnummer Migranten 2016
den Monaten nach ihrem Eintreffen in der
Schweiz zu verfrühter Pubertät führen 12 ). We-
sentlich ist eine sorgfältige anthropometri -
sche Üb er wachung , w ie auch eine klar e Infor -
mation der Mutter, die beim geringsten
Zeichen beginnender Pubertät den Arzt auf -
suchen soll. Es sollte ist in diesen Fällen un -
verzüglich eine spezialärztliche Abklärung
stattfinden.
Die Ernährung ist ein zentrales Gesundheits -
thema. Verschiedene Studien weisen insbe -
sondere auf Mangelzustände hin, in erster
Linie Eisen und Vitamine (D, A) betreffend.
Die beschriebenen Vorgehensweisen variie -
ren: Von beinahe systematischer Bestimmung
des Blutspiegels bis beispielsweise Bestim -
mung nur bei Risikofaktoren UND klinischen
Symptomen für Vitamin D
12 ). Aus Mangel an
Mitteln, an Kenntnis ihres neuen sozialen
Umfeldes oder aus Gewohnheit (zu fette Er -
nährung z. B. der südamerikanischen Bevöl -
kerung), er nähren sich viele Migranten oft unausgeglichen. Rasch kommt es, deutlich
häufiger als bei der einheimischen Bevöl
-
kerung, zu Adipositas
13 ) , 14) , 15) , als Folge
schlechter Ernährung und eindeutigem Bewe -
gungsmangel. Sensibilisierungs- und Erzie -
hungsarbeit ist hier wichtig und notwendig;
um diese Population auf lokale Nahrungsmit -
tel mit gleichwertigem Nährwert hinzuweisen,
erweisen sich transkulturelle Mediatoren als
nützlich. Viele Institutionen greifen inzwi -
schen auf anerkannte und zertifizierte trans -
kulturelle Mediatoren zurück; durch den Ge -
dankenaustausch mit den Patienten mit
Migrationshintergrund leisten sie präventive
Arbeit. Sie spielen ebenfalls eine zentrale
Rolle bei der Betreuung chronischer Krankhei -
ten (Asthma, Diabetes, Sichelzellanämie), wo
therapeutische Erziehung wesentlich ist.
Der allgemeine Mangel an Prävention, dem
Migranten ausgesetzt sind, ist offensichtlich.
Informationslücken zur Sexualgesundheit sind
bei Mädchen wie bei Knaben beträchtlich
14 ).
Folge davon sind eine im Pubertätsalter hohe Prävalenz unerwünschter Schwangerschaften
und sexuell übertragener Krankheiten (STD),
sowie ein unharmonisches Entdecken des
Sexuallebens mit all seinen psychologischen
Auswirkungen. Prävention von Zigaretten- und
Alkoholkonsum erfordert ebenfalls mehr Be
-
achtung; erwachsene Migranten sind von
dieser Seuche noch stärker betroffen als die
einheimische Bevölkerung. Aufklärung der
jüngsten Generationen ist unbedingt notwen -
dig (siehe z. B. die vom Roten Kreuz zuhanden
der Migranten herausgegebene Broschüre).
Schliesslich muss noch darauf hingewiesen
werden, dass Migrantenfamilien bei Reisen in
ihr Ursprungsland einem nicht vernachlässig -
baren Risiko insbesondere von Infektions -
krankheiten (z. B. Malaria, Typhus, Hepatitis,
STD usw.) ausgesetzt sind. Sie bedürfen
deshalb vor der Reise einer «reisemedizini -
schen» Beratung und nach der Rückkehr,
insbesondere bei Fieberzuständen, entspre -
chende Abklärungen 15 ).
Soziale Faktoren Psychologische Faktoren Medizinische Faktoren
• Fehlende oder ungenügende soziale
Sicherheit
• Unsichere rechtliche Situation
• Integrationsgrad der Eltern im Immigrationsland
• Unbegleiteter minderjähriger
Asylsuchender (UMA)
• Sprachprobleme (Kommunikation) • Vor Ankunft Gewalt, Folter, ökologischer
Katastrophe ausgesetzt
• Ausgeprägte Kultur- und Sprachunterschiede • Inkubation einer «exotischen» Krankheit
• Lager-,
Gefängnis-, Spitalaufenthalt
• Andersartige Essgewohnheiten
• Epidemie im Ursprungsland, endemisches Sumpfgebiet usw.
• Impfkalender des Ursprungslandes
Tabelle 4: Warnsignale, die bei der Erstkonsultation Behandlungsprioritäten anzeigen, auf Grund sozialer, psychologischer und allgemeinmedi -
zinischen Gegebenheiten.
Beispiele von Grundhaltung, Kenntnissen und Fertigkeiten, die bei Lehrgängen für transkulturelle klinische
Kompetenzen erworben werden können
Grundhaltung
Die Verantwortung des Klinikers erkennen, soziale und kulturelle Aspekte bei der Patientenbetreuung zu identifizieren und zu berücksichtigen
Kenntnisse
Kenntnis soziokultureller Faktoren die gesundheitsbezogene Erwartungen, Glauben und Verhalten beeinflussen
Kenntnis sozialer, ökonomischer und kultureller Schranken, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung erschweren und die Compliance beeinträchtigen
Erkennen häufiger Quellen von Missverständnissen zwischen Patient und Kliniker
Erkennen persönlicher verzerrter Vorstellungen und Vorurteile gegenüber Patienten sowie deren Einfluss auf die Betreuung
Spezifische Kenntnisse Migration betreffend (Demographie, Epidemiologie, Gesetze, Ausweise, verfügbare Ressourcen für Patienten mit Migrations -
hintergrund usw.)
Fähigkeiten
Fähigkeit, ef fizient mit einem Übersetzer zusammen zu arbeiten
Fähigkeit, soziokulturelle Faktoren zu identifizieren und zu erkunden, die die Betreuung des Patienten beeinflussen können
Fähigkeit, einen Therapieplan vorzuschlagen, der den soziokulturellen Hintergrund des Patienten berücksichtigt, und bei Uneinigkeit über den vorge -
schlagenen Therapieplan mit dem Patienten verhandeln können
Tabelle 3: Transkulturelle klinische Kompetenzen, das Wesentliche 20 ).
1J.-C Métra
7
Spezialnummer Migranten 2016
Hindernisse beim Zugang
zu medizinischer Betreuung
1. Schwierigkeiten im Kontakt
zwischen Gesundheitsberufen und
Migranten
Es ist für im Gesundheitswesen Tätige keine
einfache Aufgabe, sich einem Patienten mit
Migrationshintergrund gegenüber zu sehen,
der zudem mit dem schweizerischen Gesund-
heitswesen nicht vertraut ist. Eine kürzlich
erschienene Arbeit
16 ) hat dies klar aufgezeig t ,
wobei namentlich drei Schwierigkeiten er -
wähnt werden: Sprachliche Probleme, un
terschiedliche Bezugsmodelle von A r z t und
Patient und das spezifische Profil des Pati
enten . Medizinische Fachleute können nicht
alleine au f alle P r obleme eine A nt wor t hab en !
Viel zu viele Kontakte zwischen Patient und
Arzt finden in gegenseitigem Unverständnis
statt
17 ). Um diesem Sachverhalt abzuhelfen,
können transkulturelle Mediatoren in An -
spruch genommen werden. Aus verschiede -
nen Gründen wird diese Möglichkeit nur sel -
ten genutzt: Mangel an Initiative seitens des
Arztes («Zeitverlust», «kompliziert»), Proble -
me bei der Kostenvergütung der Übersetzer/
Mediatoren und seltener die Weigerung des
Patienten. «Der Patient verweigert den Zuzug
eines Übersetzers, da er befürchtet, es könnte
jemand aus seiner Gemeinschaft sein, und da
es sich um eine tabubehaftete Krankheit han -
delt, will er nicht, dass ‹jemand aus der Ge -
Ganz allgemein ist die für Migranten bestimm
-
te «Gesundheitsinformation» inadäquat. Bei
Migrantenkindern wurde in der Schweiz ein
im Vergleich zu einheimischen Kindern höhe -
rer Anteil an Spitalaufnahmen und Einweisun -
gen in Intensivabteilungen sowie eine erhöhte
Mortalität nachgewiesen
2). Eine traurige Tat -
sache ist auch die höhere Zahl plötzlichen
unerklärten Kindestodes bei Säuglingen von
Migranten.
Um eine systemische Betreuung zu bevorzu -
gen, müssen zusätzliche Anstrengungen zu -
gunsten der Mütter unternommen werden; sie
sind zum Teil krank, leiden an Mangelerschei -
nungen und sind psychisch fragil. Ihre Schul -
bildung ist oft minimal oder gar inexistent. Die
sich daraus ergebende ungenügende Stimulie -
rung ihrer Kinder führt zu psychomotorischem
Entwicklungsrückstand, eine ungenügend un -
tersuchte und deshalb bei Fachleuten und
politischen Entscheidungsträgern auch unge -
nügend bekannte Tatsache. Wenn diese Müt -
ter in der Schweiz gebären, muss die gesamte
Säuglingspflege thematisiert werden: Schlaf-,
Ernährungs- und Pflegegewohnheiten erstau -
nen oft und müssen hinterfragt werden. Ge -
zielte Vor sor ge is t auch hier gef r ag t . Und nicht
zulet z t hab en auch der Mig r ationsweg und die
oft prekäre Gesundheit der Väter Auswirkun -
gen auf die «Gesundheit» der Fa milie. meinschaft› die Diagnose erfährt.»
16 ) Ein Fami
-
lienmitglied dient dann als Übersetzer, was
die Erörterung gewisser Themen, wie Famili -
endynamik, Fragen zur sexuellen Gesundheit,
aber auch zur Krankheit ganz allgemein, ins -
besondere bei psychischen Krankheiten, un -
nötigerweise kompliziert. Dabei wurde der
Nutzen ausgebildeter transkultureller Media -
toren klar nachgewiesen (Qualität, Wirtschaft -
lichkeit, Relevanz usw.)
18) , 19) .
Zu den sprachlichen Schwierigkeiten gesellt
sich das kulturelle Umfeld. Die Diskrepanz
zwischen dem schweizerischen und dem
System des Ur spr ungslandes ist of t kr as s , sei
es die Gesundheitspolitik oder den sozialen
Bereich betreffend. Es ist deshalb notwendig,
«transkulturelle klinische Kompetenz»
20 ) zu
er wer b en, ein G anzes b es tehend aus p er sön -
licher Haltung, Kenntnissen und Fachwissen,
die es der Fachperson erlauben, Patienten
verschiedenster Herkunft eine qualitativ
hochstehende Betreuung zu bieten. Tabelle 3
beschreibt, was beherrscht werden sollte und
Abbildung 1 schematisch den zu erwartenden
Gewinn; gezielte Ausbildungsangebote sind
verfügbar.
2. Patienten mit Migrationshintergrund
und Gesundheitssystem
Die 2010 vom Bund durchgeführte Erhebung
ergab, dass Migranten (Kinder wurden in
dieser Arbeit nicht spezifisch berücksichtigt)
Tabelle 5: Gängigste Gesundheitsprobleme bei Migrantenkindern («daran denken»)
Anmerkung: *Vit.-D-Mangel-verdächtige Zeichen und Symptome:
• Säuglinge: Krämpfe, Tetanie, Kardiomyopathie
• Kinder: Schmerzen, Myopathie, zu verzögertem Gehen lernen führend, klinische Rachitis
• Jugendliche: Schmerzen, Muskelschwäche, klinische sowie radiologische (z. B. im Zusammenhang mit einer Fraktur entdeckte) Zeichen von Rachitis oder Osteomalazie
InfektiösErnährungsbedingtPsychische Gesund
heit, posttrauma
tischer Stress Allgemeine Inte
grationsprobleme
Beobachtete Gesund
heitsprobleme
Parasiten des
Verdauungstraktes
Hepatitis B
Malaria (bei Fieber)
Tuberkulose
HIV
Dermatologisch:
• Skabies
• Leishmaniose
• Pilze Mangel-Anämien (Eisen)
Malnutrition
Adipositas
Rachitis*
Erlebte systematische
Demütigungen
Kriegs- oder Gewalt
-
erlebnisse
Auseinanderbrechen
der Familie Prävention von Drogen-,
Alkohol-, Tabakmissbrauch
Sexuell übertragene
Krankheiten
Schwierigkeiten,
das genaue Alter des
Kindes zu erfahren
Zahnprobleme
(«Schoppenkaries»)
Entwicklungsrückstand
Vorzeitige Pubertät
Gehör- und Sehprobleme
Gesundheitliche Probleme,
die dazu führten, in die
Schweiz zu kommen:
(Kardiopathie, Zerebral
-
parese usw.)
1J.-C Métra
8
Spezialnummer Migranten 2016
III. In den allermeisten Fällen ist das Kind
mit Migrationshintergrund, unabhängig
von seinem Alter, allem Anschein nach
bei guter Gesundheit. Ziel der Erstkon
sultation ist es dann:
1. Durch Anamnese und klinische Untersu -
chung , in G egenwar t der Familie und eines
ausgebildeten transkulturellen Mediators
(insbesondere wenn die Verständigung
erschwert ist), ein Vertrauensverhältnis
herstellen . Eine Blutentnahme ist nicht
unmittelbar notwendig.
2. Bei der gezielten vollständigen klinisch
en Untersuchung auf die vorrangigen
Punkte achten (sich vor jeder Erstkonsul -
tation Tabellen 2 und 4 vergegenwärtigen)
3 . Initiale Abklärungen festlegen und erklä
ren ! Solche Abklärungen können als ein -
greifend und stigmatisierend erlebt wer -
den (Suche nach HIV, Sichelzellanämie,
Hepatitis B, oder nur schon das «Blut
nehm en» an und für sich).
4 . Nachkontrollen planen:
• Falls Mantoux-Test: Beurteilung nach
48–72 Stunden
• Blutentnahme nach einige Wochen und
Resultate erklären
• Detaillierte Beurteilung der psychomo
torischen Entwicklung ; pr ä zise Wachs-
tumskontrollen
• Detaillierte Untersuchung der Sinnes
organe , insbesondere der Sehschärfe
(u. U. Zuweisung an Spezialarzt)
• Zahnärztliche Untersuchung ( b eim ge-
ringsten Zweifel durch Zahnarzt)
• Beurteilung der psychischen Gesund
heit von Kind und Familie im Hinblick auf
eine eventuelle spezialärztliche Betreu -
ung. Psychosomatische Beschwerden
sind sehr häufig und sollen nicht unbe -
dingt medikamentös angegangen wer -
1.
Wichtigste soziale, psychologische und
me dizinische Fakten im Auge behalten
(Tabelle 4).
2. Häufigste Gesundheitsprobleme von Kin -
dern mit Migrationshintergrund erfassen
(Tabelle 5) ; man muss danach suchen
(anamnestisch und/oder durch klinische
Untersuchung). Sinnvoll ist ein altersab -
hängiger Ansatz (Tabelle 6).
3. Eine sachbezogene Erstabklärung anbieten
(Tabelle 7).
4. Eine folgerichtige Nachbetreuung von Kind
und Familie vorschlagen.
II. Kommt ein Kind, manchmal eine Familie
mit mehreren Kindern, in die Sprechstun
de, muss rasch festgestellt werden, ob:
1. Das Kind oder ein Familienmitglied ein Ge -
sundheitsrisiko für die Gemeinschaft dar -
stellt (selten, aber da an der Grenze keine
medizinische Untersuchung mehr stattfin -
det, müssen Tuberkulose, Epidemien im
Ursprungsland – Ebola 2014–2015, klinische
Masern usw. in Betracht gezogen werden).
2. Das Kind an einem Gesundheitsproblem
leidet, das unmittelbare Massnahmen er -
fordert, ohne jegliche Rücksicht auf sei -
nen rechtlichen Status! An sog. importier -
te Krankheiten und an die Inkubationszeit
gewisser Krankheiten denken
15 ).
3. Beim Kind eindeutige psychische Gesund -
heitsprobleme oder psychosoziale Risiko -
situationen bestehen, die unmittelbare
Schutz- und Betreuungsmassnahmen er -
fordern. Wir denken dabei insbesondere an
UMA.
Die erwähnten Situationen beeinflussen den
«Betreuungskalender» (Tabelle 4), da sie pr io -
ritär in Angriff genommen werden müssen
(Spitaleinweisung, «Isolierung» von Kind und/
oder Familie usw.).
Gesundheitsdienste, und insbesondere Not
-
falldienste, häufiger in Anspruch nehmen als
die einheimische Bevölkerung
7). Fehlendes
Vertrauen und/oder Informationslücken zur
Funktionsweise des schweizerischen Gesund -
heitssystems sind eine häufige Ursache; im
Weiteren die Sprachgrenze, da Ärzte in der
Praxis meist keine Übersetzer zur Verfügung
haben.
Manchmal, insbesondere bei bestimmten me -
dizinischen Situationen (posttraumatisches
Stresssyndrom, sexuell übertragene Krankhei -
ten, HI V usw. ) , nimmt der Patient eine «defen -
sive» Haltung ein, und die medizinische Fach -
person muss lernen, sie zu entschlüsseln. Die
therapeutische Allianz Patient/Gesundheits -
b er u f häng t dir ek t davon ab. Es können folgen -
de Ursachen aufgeführt werden:
1. Ungenügende Kenntnisse und Informatio -
nen zum Gesundheitssystem und Bezug -
nahme auf das meist sehr verschiedene
System im Herkunftsland.
2. Fehlendes Vertrauen in das Gesundheits -
system, oft auf Grund vorangehender
schmerzlicher Erfahrungen.
3. Finanzielle Schwierigkeiten.
4. Druck durch Arbeitgeber.
5. Furcht vor Anzeige.
6. Fehlende Gesundheitserziehung.
7. Persönliches Krankheitsverständnis, das
sich von dem in der Schweiz allgemein
bekannten und anerkannten unterschei -
det.
Empfehlungen für die Erstkonsulta -
tion (erster Kontakt des Migranten
mit dem Gesundheitswesen)
I. Die 4 folgenden Punkte umreissen die
Prioritäten:
Neugeborenes Kind im Vorschulalter Kind im Schulalter
und Jugendliche
• Durch Mutter übertragene Infektion
(HBs, HIV, Syphilis)
• Chagas wenn Ursprungsland in Latein -
amerika (v.a. Bolivien)
• Anthropometrische Daten • Klinische Zeichen von Unter- und Mangel
-
ernährung (Haare, Nägel, Haut, Augen)
sowie einer Rachitis
• Zahnuntersuchung (Milch- und Dauerzähne)
• Leber- und/oder Milzvergrösserung
• Anämie (Handflächen, Konjunktiven)
• Ikterus
• BCG -Narbe
• Anthropometrische Daten • Folgeschäden eines akuten rheumatischen
Fiebers (Herzgeräusch)
• Zeichen einer Tuberkuloseinfektion
(chronischer Husten, Gewichtsverlust)
• Hepato-/Splenomegalie
• Psychosomatische Krankheitszeichen
• Psychiatrische Krankheitszeichen, Risikover -
halten («Strassenkind», Drogen-, Alkoholkon -
sum usw.)
• Schulbildung des Kindes im Ursprungsland erfragen
• Anthropometrische Daten
• Pubertätsstadien
Tabelle 6: Anamnestische und klinische Orientierungshilfen, nach Altersklassen.
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Spezialnummer Migranten 2016
dieser Kinder und ihrer Familien zu machen.
Zwei wichtige Tatsachen müssen in Erinne-
rung behalten werden: Erstens neigt der
Gesundheitszustand von Migrantenkindern
dazu, sich zu verschlechtern, nachdem sie
und die Familie sich in der Schweiz niederge -
lassen haben. Eine bessere Integration in das
schweizerische Gesundheitssystem ist des -
halb vorrangig. Es geht nicht darum, Migran -
ten dazu anzuhalten, vermehrt den Arzt auf -
zusuchen, sondern vielmehr darum, eine
bessere «Gesundheitserziehung» anzubieten
und ein «besseres» Benützen der ärztlichen
Sprechstunde zu erreichen.
Zweitens, will man dieses Ziel erreichen, ist
ebenso klar, dass die ärztliche Kompetenz
verstärkt und Good-Practice-Empfehlungen
zuhanden aller Gesundheitsfachleute erlassen
werden müssen
21 ). Der Arzt kann sich nicht
alleine einer derartigen Herausforderung stel -
len. Es handelt sich um eine Gesundheitspoli -
tische Aufgabe im vornehmsten Sinne.
Unsere heutige globalisierte Lebensweise
verschafft uns die Möglichkeit, mit fremden
Kulturen in Berührung zu kommen, was aber
noch lange nicht bedeutet, dass wir sie auch
kennen. Wir müssen uns deshalb an Fachleu -
te dieser Sparte wenden, Ausbildungsgänge
für «transkulturelle klinische Experten» und
6.
Gesundheitsheft ausfüllen, unter spezieller
Berücksichtigung der anthropometrischen
A ngab en ( G ew icht , L änge, B MI , Pub er t ät s -
entwicklung, Zähne).
Zuweisung an einen pädiatrischen Spezialarzt
ist oft notwendig. Koordination und Steuerung
durch den Haus- oder Kinderarzt ist wesent -
lich. UMA werden je nachdem durch einen
Kinderarzt oder Hausarzt betreut. Die Spezi -
alsprechstunde für Adoleszenten kann hilf -
reich sein, ist aber nicht unumgänglich.
Informationsaustausch, gemeinsame Ent -
scheidungsfindung zwischen Allgemein- und
Spezialärzten, Beteiligung an Netzwerken,
immer in G egenwar t von tr anskultur ellen M e -
diatoren, soll eine von allen respektierte Ar -
beitsregel sein. Da Informationen die Gesund -
heit betreffend manchmal an politische
Instanzen weitergegeben werden müssen, soll
der Grundversorger deren vorrangiger An -
sprechpartner sein, unter absoluter Beach -
tung der ärztlichen Vertraulichkeitspflicht.
Schlussfolgerung
Wir haben versucht, eine Standortbestim -
mung zur Gesundheit von Kindern mit Migra -
tionshintergrund in der Schweiz vorzunehmen
und allgemeine Empfehlungen zur Betreuung
den (insbesondere chronische Bauch
-
schmerzen, Enuresis)
• Nach einigen Monaten schulische und
soziale Integration von Kind (ern) und
Familie evaluieren
• Gewisse Nachkontrollen können (durch
für diese Probleme sensibilisiertes Pra -x-
ispersonal) zusammengefasst werden; es
vereinfacht das Leben der Migrantenfami -
lien und medizinischen Strukturen), z. B.:
• Untersuchung von psychomotorischer
Entwicklung und Sehschärfe/Gehör
• Zahnärztliche Kontrolle
• Soziale/Vorbeugekonsultation – z. B. Be -
raterin für Sexualgesundheit
5. Sich vergewissern, dass Informationen
(wenn nötig mittels schriftlicher und über -
setzter Dokumente) zum Gesundheitssys
tem und zum Ver halten b ei G esundheit spr o -
blemen (Telefonnummern, Not fall
dienste
usw.), selbst bei geläufigen Problemen
(Fieber, Unfälle und Verletzungen usw.),
abgegeben wurden. Pflegefachleute, Sozial -
arbeiter oder transkulturelle Mediatoren
können diese Informationen ergänzen. Die
Rollen aller Beteiligten sollen sich ergänzen
und aufeinander abgestimmt werden. Jede
Region ver f üg t üb er ihr e eigenen Diens t s tel -
len, die man kennen und aktiv vorschlagen
soll. Internet-Angaben sind unerschöpflich,
bedürfen aber einer «Auslese» !
Klinisch gesundes Kind Klinisch krankes Kind
1. Arztbesuch:
• Anamnese und detaillierte klinische Untersuchung
• Ausschluss von Problemen, die unmittelbare Schutzmassnahmen
oder Isolierung erfordern
• Synthese, Erklärung, Kalender der Nachkontrollen
Einige Tage später (Tag 1):
• Mantoux-Test, falls indiziert
• Impfungen ergänzen, je nach Alter, Vorgeschichte, Herkunftsland usw.
• Behandlung oder Suche nach Parasiten, falls indiziert
Ta g 3:
• Mantoux-Test ablesen
Nach 4–6 Wochen:
• BB, Ferritin, Serologien (Tetanus, Hepatitis B, weitere je nach geographischer Herkunft des Kindes und anamnestischen Umstän -
den (HIV, Hepatitis, Vit. D, Hämoglobinopathien) …)
Nach 8 Wochen:
• Untersuchung von Entwicklung, Gehör, Sehschärfe usw. ergänzen
• Resultate der Blutentnahme besprechen
• Impfungen in Funktion der «Impfantwort» ergänzen • Sorgsam nach schweren und relativ häufig importierten Pathologien
suchen, je nach geographischer Herkunft des Kindes, z. B.:
• Aus endemischem Sumpfgebiet stammend: Bei Fieber, aktuell festgestellt oder anamnestisch, Malaria ausschliessen (Schnelltest
und Blutausstrich)
• Bei Fieber und je nach Kontext und geographischer Herkunft auch: • Ty p h u s
• Dengue
• Meningokokkenmeningitis
• Amoebiasis
• Hepatitis
• Bei chronischem Husten und schlechtem Allgemeinzustand Lungen -
tuberkulose ausschliessen
• Nachkontrollen und weitere Abklärungen planen
(siehe klinisch gesundes Kind).
Tabelle 7: Vorgeschlagene Erstabklärung eines (kranken oder gesunden) Kindes: Unverbindlicher Kalender.
Für das Screening von Infektionskrankheiten siehe den Artikel «Anleitung zur Abklärung und Vorbeugung von Infektionskrankheiten und Aktu -
alisierung der Impfungen bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schweiz» in der vorliegenden Spe -
zialausgabe von Paediatrica.
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Spezialnummer Migranten 2016
17) Miauton A. Formation postgraduée en compéten -
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21) Jaeger F N, Kiss L, Hossain M, Zimmerman C. Mig -
rant-friendly hospitals: a paediatric perspective-
improving hospital care for migrant children. BMC
Health Services Research 2013; 13: 389.
DankPierre-Alex Crisinel, Sharon Ratnam, S. Mustapha
Mazouni sei für ihre konstruktiven Beiträge herzlich
gedankt.
Korrespondenzadresse
Dr Mario Gehri, PD
Médecin- chef
Hôpital de l’Enfance de Lausanne
CHUV
Ch. de Montétan 14
1000 Lausanne 7
Mario.Gehri @ chuv.ch
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstüt -
zung und keine anderen Interessenkonflikte im
Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Forschungsprogramme in diesem Gebiet er -
arbeiten. Für einen einfühlsamen, wohlwollen -
den und au f mer ks amen Empf ang hingegen is t
ein jeder persönlich verantwortlich.
Nützliche Internet Links
www.elearning-iq.ch
D ur ch das BAG angeb otene online For tbildung.
www.migesplus.ch
Informationen für Ärztinnen und Ärzte zu Mi -
g r ation und G esundheit ( Por t al des Schweize -
rischen Roten Kreuzes).
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1J.-C Métra
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Fabienne Jäger , Schweizerisches Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH)