Kindervorsorgeuntersuchungen sind eine präventive Leistung der Gesundheitssysteme vieler Länder1). Während in manchen Staaten – unter anderem in Schweden und Grossbritannien – die Kindervorsorge durch interdisziplinäre Fachgruppen geleistet wird, sind in anderen Ländern – wie etwa in Deutschland und in der Schweiz – ärztliche Grundversorger, das heisst Kinder-/Hausärzte, dafür verantwortliche1). Die Finanzierung der VSU ist durch staatliche Zuschüsse oder private Versicherungen gewährleistet. Die Inanspruchnahme pädiatrischer Vorsorgeuntersuchungen ist in den ersten zwei Lebensjahren hoch, danach sinkt sie. Nach Angabe der KiGGS-Studie des Robert KochInstituts ging sie in den Jahren 2003 bis 2006 von 95.3% bei der U3 auf 86.4% bei der U9 zurücke2). Weil die Vorsorgerate unvollständig ist, können Vorsorgeuntersuchungen nicht als Instrumente der Gesundheitsstatistik dienen. Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen sind individualmedizinische Massnahmen, eine epidemiologische Evaluation wäre anzustreben. Neben der Früherkennung von Krankheiten und Entwicklungsbeeinträchtigungen bei Kindern dienen die Vorsorgeuntersuchungen auch der antizipierenden Beratung der Eltern. Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen sind in diesen Fällen eine Kombination von verschiedenen Präventionsebenen. Die Frage nach der Evidenz des präventiven Handelns in einer pädiatrischen Praxis kann darum nicht für Vorsorgeuntersuchungen generell beantwortet werden. Stattdessen müssen individuelle Leistungen der primären und sekundären Prävention gesondert beurteilt werden. Der Evidenzlevel für einzelne Aspekte der VSU ist sehr unterschiedlich, zum Teil unzureichend und aufgrund der Multivariabilität auf der Seite des Leistungserbringers wie auch des Leistungsempfängers nur in grossen epidemiologischen Studien zu untersuchen.
12
Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen*
Effektivität und Relevanz einzelner Früherkennungs- und
Präventionsmassnahmen
Peter Weber, Basel**; Oskar Jenni, Zürich***Kindervorsorgeuntersuchungen sind eine
präventive Leistung der Gesundheitssyste-
me vieler Länder
1). Während in manchen
Staaten – unter anderem in Schweden und
Grossbritannien – die Kindervorsorge durch
interdisziplinäre Fachgruppen geleistet wird,
sind in anderen Ländern – wie etwa in
Deutschland und in der Schweiz – ärztliche
Grundversorger, das heisst Kinder-/Haus –
ärzte, dafür verantwortlich
e1). Die Finanzie –
rung der VSU ist durch staatliche Zuschüsse
oder private Versicherungen gewährleistet.
Die Inanspruchnahme pädiatrischer Vorsor –
geuntersuchungen ist in den ersten zwei Le –
bensjahren hoch, danach sinkt sie. Nach
Angabe der KiGGS-Studie des Robert Koch-
Instituts ging sie in den Jahren 2003 bis 2006
von 95.3% bei der U3 auf 86.4% bei der U9
zurück
e2). Weil die Vorsorgerate unvollständig
ist, können Vorsorgeuntersuchungen nicht
als Instrumente der Gesundheitsstatistik
dienen. Kinderärztliche Vorsorgeuntersu –
chungen sind individualmedizinische Mass –
nahmen, eine epidemiologische Evaluation
wäre anzustreben.
Neben der Früherkennung von Krankheiten
und Entwicklungsbeeinträchtigungen bei Kin –
dern dienen die Vorsorgeuntersuchungen
auch der antizipierenden Beratung der Eltern.
Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen sind
in diesen Fällen eine Kombination von ver –
schiedenen Präventionsebenen. Die Frage
nach der Evidenz des präventiven Handelns in
einer pädiatrischen Praxis kann darum nicht
für Vorsorgeuntersuchungen generell beant –
wortet werden. Stattdessen müssen individu –
elle Leistungen der primären und sekundären
Prävention gesondert beurteilt werden. Der
Evidenzlevel für einzelne Aspekte der VSU ist
sehr unterschiedlich, zum Teil unzureichend
und aufgrund der Multivariabilität auf der Seite
des Leistungserbringers wie auch des Leis –
tungsempfängers nur in grossen epidemiolo –
gischen Studien zu untersuchen.
Methode
Dieser Artikel fasst den aktuellen Stand des
Wissens für ausgewählte Bereiche der kin -derärztlichen Vorsorgeuntersuchungen
zusammen. Ziel ist es, die Frage nach der
Effektivität und Relevanz einzelner Früher
–
kennungs- und Präventionsmassnahmen zu
beantworten. In diesem Beitrag werden
Impfungen, Vitaminprophylaxe, Wachs –
tumsmonitoring, Hüftscreening, Fragen zur
Zahngesundheit und Massnahmen zur Früh –
erkennung von Schwerhörigkeiten im Neu –
geborenen- und Säuglingsalter nicht behan –
delt, hierzu verweisen die Autoren auf die
aktuelle Literatur
2).
Eine Literaturrecherche erfolgte bei den
Datenbanken:
• Embase
• PubMed
• Cochrane Database of Systematic Re-
views (CDSR)
• Web of Science
• Database of Abstracts of Reviews on Ef-
fectiveness (DARE)
• clinicaltrials.gov
Die Suchbegriffe werden im Folgenden je –
weils bei den diskutierten Vorsorgeberei –
chen angegeben. Generell bei allen Vorsor-
gebereichen wurden folgende Begriffe
verwendet: «primary care», «well child visit»,
«pediatrician practice», «screening», «early
detection», «early identification», «early in –
tervention», jeweils kombiniert mit «meta-
analysis», «systematic review», «guidelines»
und «recommendation». Es wurden aus –
schliesslich deutsch- und englischsprachige
Artikel berücksichtigt. Dabei wurden soweit
vorhanden Metaanalysen und systematische
Reviews zur Beurteilung der Situation heran –
gezogen. Falls keine neueren Metaanalysen
oder systematischen Reviews aus den be –
tr achteten Jahr en (1.1.20 06 –31.10.2011)
vorlagen, wurden die Ergebnisse einzelner
Studien zur Beurteilung genutzt.
Die zitierten Arbeiten erlauben nur Aussa –
gen über die Effektivität der in den Studien
verwendeten Früherkennungsinstrumente.
Die zitierten Arbeiten gestatten somit keine
Aussagen über die prinzipielle Qualität der
praktischen Durchführung von Kindervor –
sorgeuntersuchungen.
Antizipatorische Beratung
Im Folgenden werden einige Befunde aus
zwei angloamerikanischen Übersichtsarbei –
ten erwähnt
1), 2) und die Datenlage zur Bedeu –
tung und Evidenz der antizipatorischen Be –
ratung in der pädiatrischen Praxis durch die
* Dieser Ar tikel ist im Dtsch Arztebl Int 2012; 109 (24):
431–5 erschienen
** Abteilung Neuro-/Entwicklungspädiatrie,
Universitäts-Kinderspital beider Basel
*** Abteilung Entwicklungspädiatrie, Kinderspital Zürich
Zusammenfassung
Hintergrund: Pädiatrische Vorsorgeunter –
suchungen (VSU) sind ein wichtiges Instru –
ment zur Vorbeugung und Früherkennung
von Erkrankungen und Entwicklungsstörun –
gen im Säuglings- und Kindesalter. Obwohl
VSU in vielen Ländern fest etabliert sind, ist
die wissenschaftliche Basis im Detail häufig
nicht bekannt.
Methode: Die wissenschaftliche Begrün –
dung pädiatrischer VSU jenseits des Neu –
geborenenscreenings wird auf der Basis
einer selektiven Literaturrecherche für
ausgewählte Aspekte der VSU vorgestellt.
Ergebnisse: Das Evidenzniveau der ein –
zelnen Interventionen ist sehr heterogen
und durch konfundierende Variablen
schwer abschätzbar. Eine Beratung der
Eltern ist mit einer höheren Erziehungs –
kompetenz, einer verbesserten Unfallprä –
vention und verbessertem Leseverhalten
der Kinder assoziiert. Die Früherkennung
von Entwicklungsauffälligkeiten im Be –
reich der motorischen, mentalen, sprach –
lichen oder sozialen Entwicklung ist mög –
lich und erlaubt in vielen Bereichen
effektive Frühinterventionen. Zyanotische
Vitien können mit einer Sensitivität von
63% und einer Spezifität von 99.8% erfasst
werden. Je nach Studie wird eine Zerebral –
parese mit einer Sensitivität von 33 bis
100% und einer Spezifität von 52.3 bis
100% diagnostiziert. Eine Physiotherapie
scheint einige Symptome zu verbessern.
Die motorische Entwicklung im Alter von
90 Tagen korreliert mit der nach 57 Mona –
ten (Sensitivität: 72%, Spezifität: 91%). Ein
Entwicklungsquotient > 85 bei Zweijähri-
gen korreliert mit dem Intelligenzquotien –
ten > 85 im Alter von 7 Jahren.
Schlussfolgerungen: Kinderärztliche
Vorsorgeuntersuchungen zeigen zuneh –
mend eine Evidenz-basierte Relevanz.
Dennoch sind weitere epidemiologische
Studien notwendig.
Vol. 23 Nr. 4 2012
Fortbildung
13
spektiven Studien auch unter klinischen
Routinebedingungen bestätigt e14 ) , e15 ) .
Die Effektivität des neonatalen Hörscree –
nings zur frühen Identifikation einer bilatera –
len Hörstörung – 2001 noch kritisch hinter –
fragt
e16 ) – wurde inzwischen im Bezug auf die
Exaktheit der Diagnosestellung und Wirksam –
keit der frühen Behandlung mittels Cochle –
aimplantation für die sprachliche und schuli –
sche Entwicklung nachgewiesen
e3), e17), e18) .
Motorische Entwicklung
Die Zielsetzung einer frühzeitigen Erkennung
motorischer Auffälligkeiten umfasst sowohl
die Identifikation einer pathologischen mus –
kulären Hypotonie als mögliche Frühform
einer umschriebenen Entwicklungsstörung
motorischer Funktionen (UEMF, «develop –
mental coordination disorder», gemäss ICD
F82) als auch die Identifikation einer Zereb –
r alpar ese (ICD G80 –81). Die ob en genannten
Suchbegriffe wurden für diesen Abschnitt
kombiniert mit den Suchbegriffen «develop –
mental coordination disorder», «benign hy –
potonia», «cerebral palsy», «physiotherapy».
Die meisten kontrollierten Studien zur Vali –
dität der Früherkennung und prognosti –
schen Bedeutung früher Diagnosen von
pathologischen Verläufen der motorischen
Entwicklung und zur Effektivität von Früh –
interventionen wurden bei Kohorten von
frühgeborenen Kindern oder anderen Hoch –
risiko-Kohorten, zum Beispiel asphykti –
schen Kindern, durchgeführt.
Systematische Studien zur diagnostischen
Akkuratheit der Erfassung milder motori –
scher Entwicklungsstörungen bei Kindern
mit unkomplizierter Vorgeschichte sind rar.
Kontrollierte Studien existieren in diesem
Bereich nur vereinzelt
9). Im Rahmen eines
systematischen Reviews wurde die prädik –
tive Bedeutung von Motorik-orientierten
Untersuchungsinstrumenten in den ersten
Lebensmonaten zur Erfassung einer Zereb –
ralparese untersucht. In den ausgewerteten
30 Studien erfolgte die Erst-Evaluation im
Median bei Kindern im Alter von 4 Monaten
(Range: 26. Schwangerschaftswoche bis
12. Lebensmonat), die Beurteilung im Hin –
blick auf das Vorliegen einer Zerebralpare –
se im Median bei Kindern im Alter von 24
Monaten (Range: 12. Lebensmonat bis 5.7
Jahre). Es ergab sich je nach Alter und
Messinstrument eine Sensitivität von 33–
100% (Median: 83.3%) und eine Spezifität
von 52.3–100% (Median: 81%)
10).
Lediglich bei 5% der Kinder, bei denen in den
ersten zwei Lebensjahren die Diagnose ei –
Suche mit den Stichworten «anticipatory»
AND «guidance» AND «infants» resp. «child
–
ren» kombiniert mit «accident», «preventi –
on», «read», «speech beziehungsweise lan –
guage development», «sleep behaviour» und
«nutrition» evaluiert.
Verschiedene Autoren zeigen, dass Kinder
deutlich häufiger Notfallabteilungen von
Kinderkliniken konsultieren und stationär
behandelt werden, wenn sie nicht an Vorsor –
geprogrammen teilnehmen (60% höheres
Risiko, 95 -% – Konfidenzinter vall [95 -% – KI]:
40–90)
e4). Das Ergebnis einer Metaanalyse
belegt, dass beispielsweise eine Aufklärung
der Eltern darüber, wie Verletzungsgefahren
im häuslichen Umfeld verhindert werden
können, das Unfallrisiko für Kinder signifi –
kant reduziert (mittlere Reduktion um 18%
[95-%-KI: 5–29] in neun randomisierten
Studien)
3). Einschränkend muss man sagen,
dass nur zwei der in dieser Metaanalyse
untersuchten Studien Interventionen in pä –
diatrischen Praxen zugrunde lagen. Die üb –
rigen Studien benutzten ein heimorientier –
tes Interventionsprogramm.
In einer klinischen Kontrollstudie korrelierte
die Reduzierung der antizipatorischen Bera –
tung von sozial benachteiligten Eltern mit
Säuglingen im Rahmen einer pädiatrischen
Vorsorgeuntersuchung bezüglich unfallprä –
ventiver Massnahmen mit einem höheren
Verletzungsrisiko
e5). Die Effekte einer intensi –
ven Unfallpräventionsberatung sind gemäss
eines randomisierten klinischen Versuchs
weniger effektiv in der Zielgruppe von Famili –
en mit niedrigem Einkommen
4). Mittels eines
systematischen Reviews wurden die Grenzen
von Unfallpräventionsstudien unter dem As –
pekt der psychosozialen Rahmenbedingun –
gen untersucht
e6). Zu hohe Kosten, ein man –
gelndes Verständnis für Risikomechanismen,
spezielle kulturelle Hintergründe, Misstrauen
gegenüber behördlich geförderten Program –
men und schwierige Wohnverhältnisse wur –
den als häufigste Barrieren für die Effektivität
von Päventionsmassnahmen identifiziert.
Eine Empfehlung vonseiten eines Kinderarz –
tes zum Vorlesen im Vorschulalter verbessert
die Sprachkompetenz von Kindern. In mehre –
ren Studien konnte nachgewiesen werden,
dass im Rahmen pädiatrischer Vorsorgevisi –
ten die Abgabe von Büchern und die Aufklä –
rung über die Wichtigkeit des gemeinsamen
Lesens gerade auch bei Familien aus bil –
dungsferner Schicht zu einem veränderten
Leseverhalten (bei 40% häufigeres Lesen im
Vergleich zu 16% in der Kontrollgruppe) und
zu einer generellen Verbesserung der Spra -chentwicklung der Kinder im Kleinkindalter
führt (siehe dazu die Übersichtsarbeit von
Zuckerman et al.
e7) und 5), e8), e9) ).
Eine antizipatorische Elternberatung bei Vor –
sorgeuntersuchungen erhöht die elterlichen
Erziehungskompetenzen
6). In zwei kontrollier-
ten Studien – die eine randomisiert, die ande –
re unter Einbeziehung einer historischen
Kontrolle – konnte gezeigt werden, dass Be –
ratungen zum Schlafverhalten von Säuglin –
gen und die Abgabe von Informationsmaterial
im Rahmen der päd iatrischen Vorsorgevisiten
das Schlaf
verhalten der Kinder verbesserte
(bei 36% weniger häufig nächtliches Erwa –
chen in der Interventionsgruppe im Vergleich
zur Kontrolle
e1 0 ) , e11) ).
Eine Ernährungsberatung im Rahmen von
kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen
scheint einen langfristigen positiven Einfluss
auf die Ernährungsgewohnheiten bei Kin –
dern zu haben und der Entwicklung von
Übergewicht entgegenzuwirken
e12 ). Die Im –
plementierung einer antizipatorischen Er –
nährungsberatung in die Vorsorgevisiten
wird folgerichtig von entsprechenden Exper –
tengremien gefordert
7).
Früherkennung
Die kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchun –
gen dienen der Früherkennung von körperli –
chen Erkrankungen und von Entwicklungs –
verläufen, die von der Norm abweichen. Im
Folgenden wird die Datenlage verschiedener
Vorsorgebereiche näher beschrieben.
Ergänzendes Neugeborenenscreening
Entsprechend der Bedingungen für ein me –
tabolisches Neugeborenenscreening ist eine
Früherkennungsuntersuchung dann sinnvoll,
wenn einerseits mit hoher Sensitivität und
Spezifität auffällige Befunde erhoben und
von Normvarianten abgegrenzt werden kön –
nen und andererseits effektive therapeuti –
sche Interventionen zur Verfügung stehen.
Ein Beispiel für das Neugeborenenalter bie –
tet dabei die Erweiterung der klinischen
Untersuchung um ein pulsoximetrisches
Screening zum Ausschluss eines kongenita –
len zyanotischen Herzvitiums
e13 ). Eine Meta –
analyse von acht prospektiv-kontrollierten
Studien ergab unter Einbezug von knapp
36 000 Neugeborenen eine Sensitivität bei
der Detektion zyanotischer Vitien von 63%
(95-% -KI: 39–83) bei einer Spezifität von
99.8% (95-% – KI: 99–100) und einem falsch –
positiven Wert von 0.2% (95-% -KI: 0–1%)
8).
Diese Ergebnisse wurden in neueren pro –
Vol. 23 Nr. 4 2012
Fortbildung
14
Anwendung standardisierter Entwicklungs-
verfahren in der pädiatrischen Vorsorgeun –
tersuchung ist potenziell mit einer primären
Kostensteigerung verbunden
e29).
Eine relativ kostensparende Methode zur
Erfassung eines Entwicklungsrückstandes
ist die Nutzung standardisierter Fragebö –
gen
e29) . Die Verbesserung der Diagnose
durch den Einsatz standardisierter Fragebö –
gen gegenüber der Anwendung standardi –
sierter Entwicklungstests wird kontrovers
beur teilt
e30), e31) .
Sprachentwicklung
Für diesen Bereich wurden die oben genann –
ten Suchbegriffe kombiniert mit den Such –
begriffen «language oder speech disorder».
Die Sprache stellt als Ausdruck der kogniti –
ven und sozialen Entwicklung eines der
Kernmerkmale der Entwicklung von Kindern
dar. Auch wenn Untersuchungen zur Erfas –
sung der Sprachmelodie und der phonologi –
schen Bewusstheit zeigen, dass Kinder mit
einem Risiko für eine Sprachentwicklungs –
verzögerung bereits im 1. Lebensjahr – dem
Alter der präverbalen Sprachentwicklung –
erkannt werden können, zählt die Einschät –
zung der Sprachentwicklung erst ab dem
Alter von 15 bis 18 Monaten zu den kinder-
ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen. Je nach
Studie sind 2 bis 20% der Kinder von einer
Spracherwerbsstörung betroffen
e32) . Beim
Sprachentwicklungsscreening konnte bis –
lang nicht überzeugend dokumentiert wer –
den, dass der Einsatz von standardisierten
Screeninginstrumenten, zum Beispiel defi –
nierten Elternfragebögen wie etwa FRAKIS
(= Fragebogen zur frühkindlichen Sprachent –
wicklung) oder ELFRA (= Elternfragebogen
für die Früherkennung von Risikokindern),
einer individuellen Untersuchungsmethode
des Pädiaters überlegen ist. Wichtig ist, die
anamnestischen Angaben der Eltern und alle
rezeptiven und expressiven Sprachdimensi –
onen (Prosodie, Semantik, lexikalischer Um –
fang, Syntax) zu berücksichtigen
e33) .
Eine frühe Sprachtherapie verbessert teil –
weise die expressive Sprachfähigkeit mit
Effektstärken für die Phonologie von 0.44
(95-% -KI: 0.01–0.86), für das Vokabular von
0.98 (95-% -KI: – 0.59–2.56) und für die Syntax
von 0.7 (95 -% – KI: – 0.14–1.55)
24). Intensivere
und längere Inter ventionen führen zu stärke –
ren Effekten. Unsicher ist dagegen der The –
rapieeffekt im Hinblick auf rezeptive Teilleis –
tungsstörungen mit Effektstärken für die
Phonologie von 0.53 (95-% -KI: – 0.1–1.16) und
die Syntax von – 0.04 (95-% -KI: – 0.64–0.56),
ner Zerebralparese gestellt wurde, musste
diese Einschätzung im Verlauf revidiert
werden
11 ). Erste Anzeichen können in der
Regel bereits ab dem 6. Lebensmonat er-
kannt werden
e19 ). Die Effektivität der frühzei –
tigen Einleitung einer Physiotherapie ist
nicht abschliessend zu beurteilen. Eine
Physiotherapie verhindert vermutlich nicht
die Entwicklung einer Zerebralparese, sie
scheint aber einzelne Elemente der motori –
schen Funktion und Kraft bei den betroffe –
nen Kindern zu verbessern
12), 13), e20)–e22) . In
allen Reviews wird der Bedarf an weiteren
randomisierten, kontrollierten Studien, ins –
besondere für spezifische Physiotherapie –
massnahmen, betont. Ein Beispiel für eine
spezifische Therapiemethode ist die Hippo –
therapie, für die im Rahmen einer Metaana –
lyse eine positive Effektstärke auf Balance
und Rumpfkontrolle nachweisbar war (Odds
Ratio: 25.4; 95-% -KI: 4.4–148.5)
14).
Die prädiktive Bedeutung von standardisier –
ten motorischen Untersuchungsverfahren
im Säuglings- und Kleinkindalter wurde nur
für Hochrisikogruppen, wie zum Beispiel
frühgeborene Kinder, erforscht
e23) .
Kontrollierte Verlaufsuntersuchungen von
früh erfassten motorischen Auffälligkeiten
zeigten, dass der natürliche Verlauf der Hypo –
tonie im Säuglingsalter weniger günstig ist,
als durch den Begriff der «benignen Hypoto –
nie im Säuglingsalter» suggeriert wird
9), e24) .
Mit standardisierten motorischen Untersu –
chungsinstrumenten können motorische Auf –
fälligkeiten erfasst werden, die in hohem
Masse mit späteren Abweichungen der mo –
torischen Entwicklung korreliert sind. Die
motorische Entwicklung im Alter von 90 Ta –
gen korrelierte in der Arbeit von Kolobe et
al.
15) signifikant mit der motorischen Leistung
im Alter von im Mittel 57 Monaten (Range
47–65 Monate). Bei der Verwendung standar-
disierter Untersuchungsverfahren ergab sich
im Alter um 90 Tage eine Sensitivität von 72%
(95-% -KI: 59–83%) und eine Spezifität von 91%
(95-% -KI: 83–99%) entsprechend einer kor-
rekten Zuordnung von 87% zum motorischen
Status im 5. Lebensjahr
15).
In einer systematischen Übersichtsarbeit
zum Effekt einer frühen Intervention auf die
motorische Entwicklung zeigten die meisten
Studien einen Nutzen für die motorische
Qualität. Allerdings weisen die Autoren Riet –
hmuller et al.
16) auf die insgesamt unzuläng –
liche methodische Qualität der Arbeiten und
auf die hohe Variabilität der berücksichtig –
ten unabhängigen Variablen wie Alter der
Studienteilnehmer, Dauer und Intensität der Intervention, Setting oder Einbezug der El
–
tern in die Interventionsstrategie hin
16).
Geistige Entwicklung
Die oben genannten Suchbegriffe wurden
kombiniert mit den Suchbegriffen «mental
retardation» und «developmental delay».
Obgleich die Methoden der frühen Interven –
tion bei einer mentalen Entwicklungsverzö –
gerung sehr heterogen sind, konnte ihre Ef –
fektivität auf das mittelfristige kognitive
Ergebnis nachgewiesen werden. Dazu wur –
den die Entwicklungs-/Intelligenzquotienten
standardisierter Testverfahren sowohl bei
der Hochrisikogruppe der frühgeborenen
Kinder (mittlerer Zugewinn im Säuglingsalter
von 0.42 Standarddeviations-Punkten [95-
% -KI: 0.33–0.52; p < 0.001] und im Klein -
kindalter von 0.46 Standarddeviations-
Punkten [95-% -KI: 0.33–0.59; p < 0.001])
17 )
als auch bei Kindern ohne spezielle Risiko -
faktoren bestimmt
18). Nicht signifikant stieg
dagegen der IQ-Wert in der Langzeitbeob -
achtung bis zum Schulalter an (Anstieg um
0.02 Standarddeviations-Punkte; 95-% -KI:
- 0.1–0.14; p = 0.71). Insgesamt kann von ei -
ner evidenzbasierten Grundlage der frühen
Intervention in diesem Bereich ausgegangen
werden
19), e25) .
Als Problem gestaltet sich die Frage nach
dem besten diagnostischen Instrumentari -
um. Frühere Studien belegen, dass die klini -
sche Einschätzung allein eine zu geringe
Sensitivität in der Entdeckung einer geistigen
Entwicklungsstörung aufweist, und dass die
Anwendung standardisierter Entwicklungs -
verfahren zu einer Verbesserung der Detek -
tionsrate mentaler Entwicklungsverzögerun -
gen beiträgt
20), e26) . Daraus ergibt sich die
Forderung nach einer normierten und stan -
dardisierten Entwicklungsdiagnostik in der
(kinder-)ärztlichen Praxis. Die meisten Ent -
wicklungstests haben eine ausreichende
Sensitivität und Spezifität von 70–90%
21). Ihre
prognostische Bedeutung ist im sprachlichen
und kognitiven Bereich sehr hoch. Kinder, die
im Alter von 24 Monaten einen Entwicklungs -
quotienten von > 85 erreichen, weisen im
Alter von 7 Jahren zu 98.6% einen Intelligenz –
quotienten von > 85 auf
e27). Trotz entspre –
chend gestützter Empfehlung werden zumin –
dest in den USA diese Verfahren in der
kinderärztlichen Praxis zu wenig angewende –
t
e28), auch wenn sich neben einer zunehmen –
den Nutzung 22) die Durchführbarkeit und Ef –
fektivität unter den Rahmenbedingungen
ambulanter Praxen belegen lässt
23), e26) . Die
Vol. 23 Nr. 4 2012
Fortbildung
15
ebenfalls der Effekt des aktiven therapeuti-
schen Einbezugs der Eltern 25), e34) .
Soziale Entwicklung
Ergänzend verwendete Suchbegriffe waren
«autism», «behavioural disorders», «interna –
lizing und externalizing disorders». Für den
frühkindlichen Autismus
e35)–e47) sowie für
externalisierende und internalisierende Ver –
haltensstörungen
e48)–e52) existieren Frühsym –
ptome, die eine frühzeitige Diagnostik im
Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen er –
möglichen. Die Effektivität von frühen Inter –
ventionen für diese Entwicklungsbereiche
ist gut dokumentiert.
Résumé
Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen sind
wichtig, weil sie es ermöglichen, auffällige
Entwicklungsverläufe frühzeitig zu erkennen
und Interventionen einzuleiten, deren Effekti –
vität in vielen Bereichen Evidenz-basiert ist.
Die Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und
Jugendmedizin erfolgt im Wesentlichen in
Kliniken, nicht selten in Kliniken der Maximal –
versorgung, in denen keine Vorsorgeuntersu –
chungen durchgeführt werden. In der Schweiz
haben das Schweizerische Institut für ärztli –
che Weiter- und Fortbildung (SIWF), der Be –
rufsverband der Schweizer Kinderärztinnen
und Kinderärzte und die Schweizerische Ge –
sellschaft für Pädiatrie dieser Situation Rech –
nung getragen, indem alle Ärztinnen und
Ärzte in Weiterbildung an systematischen
Fortbildungskursen in Entwicklungspädiatrie
teilnehmen müssen, in denen spezifische
Seminare für Vorsorgeuntersuchungen ange –
boten werden. Zusätzlich wurde im Jahr 2010
die «Entwicklungspädiatrie» als neuer Weiter –
bildungsschwerpunkt der Kinder- und Jugend –
medizin vom SIWF eingerichtet. Der Schwer –
punkt Entwicklungspädiatrie zum Facharzt für
Kinder- und Jugendmedizin trägt nach Auffas –
sung der Autoren nicht nur zu einer Verbesse –
rung der praktisch-klinischen Versorgung im
Bereich der pädiatrischen Präventionsaufga –
ben bei, sondern bildet die Grundlage für eine
verstärkte Forschung im Themenbereich der
Vorsorgeuntersuchungen.
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Mit «e» gekennzeichnete Literatur
www.aerzteblatt.de/lit2412
The English version of this article is availab –
le online: www.aerzteblatt-international.de
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Peter Weber
Universitäts-Kinderspital beider Basel
Abteilung Neuro-/Entwicklungspädiatrie
Spitalstrasse 33, 4056 Basel
Peter.Weber@ukbb.ch
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Kernaussagen
Kinderärztliche Vorsorgeuntersuchungen zeigen in den ersten beiden Lebensjahren eine befrie –
digende, danach eine abnehmende Inanspruchnahme.
Der Evidenz-Level der verschiedenen Aspekte kinderärztlicher Vorsorgeuntersuchungen ist
unterschiedlich – hier bedarf es weiterer epidemiologischer Studien.
Die antizipatorische Beratung innerhalb der Vorsorgeuntersuchungen verbessert nachweisbar
die Erziehungskompetenz der Eltern und zeigt positive Effekte auf verschiedene Bereiche wie
Unfallprävention, Sprachkompetenz, Schlafverhalten oder Adipositasprävention.
Für viele Entwicklungsbereiche ist durch die kinderärztliche Vorsorgeuntersuchung, insbeson –
dere bei Verwendung standardisierter Untersuchungsinstrumente, eine frühzeitige Erkennung
auffälliger Entwicklungsverläufe möglich, was eine effektive Frühintervention erlaubt.
Die Ausbildung in der Durchführung und Auswertung von Vorsorgemassnahmen gehört in die
Weiterbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin.
Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung
und keine anderen Interessens konflikte im Zusam-
menhang mit diesem Beitrag deklariert.
Vol. 23 Nr. 4 2012
Fortbildung
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Peter Weber , Basel Prof. Dr. med. Oskar Jenni , Abteilung Entwicklungspädiatrie, Universitäts-Kinderspital Zürich, Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich Andreas Nydegger