Autismus ist eine Störung der Hirnentwicklung, die sich klinisch durch die Kombination von qualitativen Anomalien im Bereiche der sozialen Kommunikation, er Sprache und ein rigides und stereotypes Verhalten auszeichnet. Wir wissen heute, dass eine frühzeitige Rehabilitations- therapie, ab dem Alter von 2 Jahren, Prognose und Lebensqualität dieser Patienten wesentlich verbessern kann. Der Grund dafür liegt in der bedeutenden Hirnplastizität, die es ermöglicht, zahlreiche Entwicklungs- prozesse in diesem jungen Alter zu beeinflussen1). Die Frühdiagnose des Autismus ist aus diesem Grund für die Zukunft des Kindes von grösster Bedeutung.
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Vol. 28 Nr. 2 2017 Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung
beträgt die Prävalenz des primären Autismus
6 Fälle auf 1000 Einwohner 4). Ausgehend von
einer Einwohnerzahl von 350‘000 und 2700
Geburten jährlich, wird die jährliche Inzidenz
von Kindern mit einer ASS im Tessin auf ca.
16 geschätzt.
Von 2009 bis 2012 stellten wir bei 41 Kindern
(33 Knaben und 8 Mädchen) die Diagnose
einer ASS. Das mittlere Alter bei Diagnose-
stellung betrug während diesem Zeitabschnitt
3.2 Jahre. Von 2013 bis 2016 wurde Dank der
Früherkennung 47 neue Fälle (38 Knaben und
9 Mädchen) in einem mittleren Alter von 2.4
Jahren diagnostiziert (Abb. 1) .
Die Einführung eines systematischen ASS-
Screenings hat somit eine frühzeitigere Be –
treuung dieser Patienten ermöglicht und da –
mit die Voraussetzung einer signifikanten
Verbesserung ihrer kognitiven, emotionalen
und sozialen Kompetenzen. Wir haben zudem
eine Beschleunigung ihrer Entwicklung und
eine Verbesserung ihres Intelligenzquotienten
sowie der ASS-bedingten Verhaltensweisen
und Symptome beobachten können. Diese
Ergebnisse sind bereits 1-2 Jahre nach Thera –
piebeginn feststellbar. Zudem erreicht die
Grosszahl der Kinder bei Therapieabschluss
ein funktionelles Sprachniveau.
Autismus ist eine Störung der Hirnentwick –
lung, die sich klinisch durch die Kombination
von qualitativen Anomalien im Bereiche der
sozialen Kommunikation, der Sprache und ein
rigides und stereotypes Verhalten auszeich –
net. Wir wissen heute, dass eine frühzeitige
Rehabilitationstherapie, ab dem Alter von 2
Jahren, Prognose und Lebensqualität dieser
Patienten wesentlich verbessern kann. Der
Grund dafür liegt in der bedeutenden Hirn –
plastizität, die es ermöglicht, zahlreiche Ent –
wicklungsprozesse in diesem jungen Alter zu
beeinflussen 1). Die Frühdiagnose des Autis –
mus ist aus diesem Grund für die Zukunft des
Kindes von grösster Bedeutung.
Leider wird die Diagnose einer Autismus-
Spektrum-Störung heutzutage in den meisten
Fällen insbesondere bei Kindern mit einem
hohen funktionellen Potential 2) immer noch
spät, oftmals erst im Schulalter, gestellt.
Hingegen stellen die Eltern Besonderheiten in
der Entwicklung oft schon lange fest, bevor
die Diagnose bestätigt wird.
Die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung
(ASS) wurde im Tessin vor 2009 oft erst nach
dem Alter von 4 Jahren gestellt. Dies verzö –
gerte die möglichen therapeutischen Mass –
nahmen und alle betroffenen Kinder wurden
im Verlauf de facto in eine Kleinklasse einge –
schult.
Beim Kleinkind besteht die Schwierigkeit der
Diagnosestellung darin, dass die Variabilität
der Symptome und der Entwicklung von ei –
nem Individuum zum anderen sehr gross ist.
Spezifische, regelmässig festgestellte Früh –
zeichen des Autismus sind Aufmerksamkeits –
störung, die Tendenz, sein Gegenüber nicht
anzusehen, eingeschränkte Reaktion auf den
eigenen Namen, wenig Imitationsverhalten,
fehlendes funktionelles und erfinderisches
Spielen und das Auftreten repetitiver Aktivi –
täten und spezieller Interessen.
Die Entwicklung von Screening-Tests zur frü –
hen Diagnosestellung ist deshalb wichtig,
auch angesichts der Tatsache, dass keine
biologischen Marker bekannt sind.
Deshalb wurde der M- CHAT-Test (Modified
Autism Checklist for Toddlers) bei der 2-Jah –
res-Kontrolle eingeführt. Beim M- CHAT müs –
sen die Eltern 23 Fragen zur frühen Entwick-
lung, speziell zur Entwicklung der sozialen
Interaktion beantworten 3).
Ab 2009 wurden die Kinderärzte im Tessin
darauf hin sensibilisiert, den M- CHAT im
praktischen Alltag anzuwenden. Kinder mit
einem sprachlichen Entwicklungsrückstand
und pathologischen Werten im M- CHAT wer –
den an unsere neuropädiatrische Abteilung
zur weiteren, standardisierten Abklärung
überwiesen.
Der Tessin verfügt somit seit 2009 über sys-
tematische Daten zur Erfassung der Diagnose
einer ASS im frühen Kindesalter. Aufgrund der
aktuell verfügbaren internationalen Daten
Früherkennung von Kindern mit
Autismus-Spektrum-Störungen:
Erfahrungen im Tessin
Gian Paolo Ramelli, Bellinzona
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux- de – Fonds
Abbildung 1: Die Grafik zeigt das mittlere Alter der Kinder bei Diagnosestellung. Während den
ersten 4 Jahren (2009-2012) wurde der M- CHAT noch sporadisch durchgeführt und das mitt –
lere Alter betrug 3.2 Jahre. Während der zweiten Periode (2013-2016) wurde der M- CHAT
systematisch angewendet und das mittlere Alter bei Diagnosestellung sank auf 2.4 Jahre.
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Die frühe Intervention basiert auf einer Ver –
haltenstherapie nach der ABA-Methode (Ap –
plied Behavior Analysis) . Es handelt sich um
eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, wobei
auch logopädische und ergotherapeutische
Aspekte einbezogen wurden. Die Patienten
können heute in eine Regelklasse mit Unter –
stützung durch eine sonderpädagogisch ge –
schulte Lehrkraft eingeschult werden.
Die aktuelle Forschung zeigt, dass die Früh –
inte rvention eine positive Entwicklung des
Kindes mit ASS ermöglicht. Dank Frühdiag-
nostik und –intervention besuchen im Tessin
derzeit 60 % der Kinder mit ASS die Regelschu –
le.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass mit
dem Einführen des M- CHAT bei der 2-Jahres-
Untersuchung die Anzahl zugewiesenen Kin –
der mit Verdacht auf ASS an unserer Abtei-
lung für Neuropädiatrie deutlich zugenommen
hat. Die Anzahl erreicht praktisch die Gesamt –
heit der Autismuspatienten in der Tessiner
Bevölkerung. Es muss zudem unterstrichen
werden, dass das Screening zur Diagnose vor
dem Alter von 3 Jahren und damit zur frühzei –
tigen Betreuung führt.
Wir betrachten es deshalb als wesentlich,
dass die Praxispädiater in der Lage sind, Kin –
der mit ASS frühzeitig zu erkennen, damit ihre
Betreuung vor dem Schulalter beginnen kann.
Früherkennung und –intervention sind ent –
scheidend für die Entwicklung und damit
schulische Integration des Kindes.
Referenzen1) Moulton E, Barton M, Robins DL, Abrams DN, Fein D. Ea rly Characteristics of Children with ASD Who Demonstrate Optimal Progress Between Age Two and Four. J Autism Dev Disord 2016; 46: 2160 -73. 2) Foun tain C, Jing MD, Bearman PS. Age of diagnosis for autism: individual and communit y factors across 10 birth cohorts. J Epidemiol Community Health 2011; 65: 503 -10. 3) Robi ns DL, Fein D, Barton ML, Green JA. The Modi – fied Checklist for Autism in Toddlers: an initial study investigating the early detection of autism and per vasive developmental disorders. J Autism Dev Disord 2001; 31: 131- 44. 4) Fomb onne E. Epidemiology of per vasive develop – mental disorders. Pediatric Research 2009; 65: 591-8.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Gian Paolo Ramelli
Dipartimento di Pediatria EOC
Servizio di Neuropediatria
Ospedale San Giovanni
6500 Bellinzona.
gianpaolo.ramelli @eoc.ch
Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit die – sem Beitrag deklariert.
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Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Gian Paolo Ramelli , Bellinzona