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Fetales Alkoholsyndrom

Alkohol

Schlecht bekannt, selten erkannt . Das Fetale Alkoholsyndrom stellt in den westlichen Gesellschaften eine der häufigsten Ursache entwicklungsneurologischer Störungen und damit ein wesentliches gesundheitspolitisches Problem dar.

Einführung

Schlecht bekannt, selten erkannt . Das Fetale Alkoholsyndrom stellt in den westlichen Gesellschaften eine der häufigsten Ursache entwicklungsneurologischer Störungen und damit ein wesentliches gesundheitspolitisches Problem dar. Interventionen auf verschiedenen Ebenen im Gesundheitswesens sind entscheidend, da es sich um eine vermeidbare Ursache handelt.

Wir präsentieren hier einen Übersichtsartikel zum Thema Fetales Alkoholsyndrom in der Schweiz hinsichtlich Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bezüglich der verschiedenen pathophysiologischen Mechanismen sowie den Folgen für das Individuum vom Fetus bis ins Erwachsenenalter.

Geschichtlicher Überblick

Die verhängnisvollen Auswirkungen von Alkohol während der Schwangerschaft wurden seit dem Altertum beschrieben. So kann man einen Vermerk im Alten Testament (Richter, 13-IV) und in den Schriften von Aristoteles 300 v. Chr. finden: „Närrische, betrunkene oder gedankenlose, zerstreute Frauen bringen meist Kinder hervor, die wie sie selbst sind, krank und matt“. Die ersten klinischen Beschreibungen sind jüngeren Datums; anfangs des 13. Jh. beschrieb eine Gruppe englischer Ärzte die Kinder alkoholkranker Frauen als schwach, ruhelos und als eine Last für ihr Land. Sullivan folgert 1899 aufgrund der Beobachtung von 600 Kindern inhaftierter Alkoholikerinnen, dass Alkohol eine direkt toxische Wirkung auf den Embryo ausübt. In der Fachliteratur findet man eine erste Beschreibung des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) erst 1968 im Artikel von Lemoine1) und schliesslich 1973 eine weitere Beschreibung dieses Syndroms in der Publikation von Jones in den Vereinigten Staaten2).

In den Jahren 1996 bis 2005 folgen mehrere Empfehlungen und Klassifizierungen des FAS, die 2016 eine letzte Aktualisierung erfuhren3). Entsprechend passen sich die Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften an; so wird seit 1981 eine Reduktion des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft befürwortet, die vollständige Abstinenz jedoch erst seit 2005 empfohlen.

EPIDEMIOLOGIE

Alkoholkonsum während der Schwangerschaft

Obwohl in der Schweiz während den vergangenen 25 Jahren eine signifikante Abnahme von Personen mit täglichem Alkoholkonsum von 30% auf 17% bei Männern und von 12% auf 9% bei Frauen festgestellt werden kann, ist der Alkoholkonsum in unserem Land bedeutend: 70% der Männer und 45% der Frauen konsumieren mindestens einmal wöchentlich Alkohol. Der chronische Risikokonsum betrifft ca. 5% der schweizerischen Bevölkerung. Frauen im gebärfähigen Alter entgehen dieser häufigen Prävalenz nicht: Gemäss der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2018 konsumieren ca. 75% Alkohol, 44% mehr als einmal wöchentlich. Rauschtrinken („binge drinking“) wird unterschiedlich definiert, bedeutet aber gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) für weibliche Personen einen  Konsum von 4 Standardgläsern eines alkoholischen Getränkes.  Ein Viertel der 15-24-jährigen Frauen rapportieren eine solche monatliche Episode. Dieses Rauschtrinken ist bei Jugendlichen ein zunehmender Trend. Der chronische Konsum (2 Standardgläser Alkohol täglich) ist bei Frauen im gebärfähigen Alter seltener und betrifft 5%.

Die in Lausanne durchgeführte, 2011 publizierte Studie von Meyer-Leu, untersuchte unter anderem den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft in der Frauenklinik des CHUV. 60%  der Mütter gaben an, abstinent gewesen zu sein. Ein signifikanter Unterschied bestand im höheren Abstinenzgrad der Frauen ausländischer Herkunft im Vergleich zu den Schweizer Frauen (74% vs. 57%), und der unter 30-jährigen im Vergleich zu den über 30-jährigen (70% vs. 54%)4).

In westlichen Gesellschaften wurden mehrere Risikofaktoren für eine Alkoholexposition während der Schwangerschaft identifiziert, nämlich Alter über 30 Jahre, kaukasische Herkunft, Universitätsstudium und Ledige. Das Risiko wird ebenfalls erhöht durch vorangehende psychiatrische Erkrankungen wie schwere Depression, posttraumatische Belastungsstörung, psychische oder sexuelle Gewalt, Drogenabhängigkeit, Rauchen, frühzeitiger Alkoholkonsum oder „binge drinking“. Alkoholkonsum des Lebenspartners stellt ebenfalls ein wichtiger Risikofaktor dar, der durch präventive Massnahmen beeinflusst werden kann.

Prävalenz und Inzidenz der Fetalen Alkoholspektrumstörung

Die Schweiz befindet sich gemäss neuster Schätzung unter den Ländern mit der höchsten Prävalenz an Fetalen Alkoholspektrumstörungen, gehört sie doch zu den 76/187 Ländern mit einer Prävalenz über 1% (2.6% für 0-16-jährige). Die höchste Prävalenz weltweit betrifft Südafrika mit 11.1% und in Europa Kroatien und Irland mit 5.3% bzw. 4.8%5).

Wie unten beschrieben unterscheidet man das Fetales Alkoholsyndrom( FAS) und Fetale Alkoholspektrumstörungen  (FASD) : Die jährliche Inzidenz wird in der Schweiz auf 170-425 bzw. 1700 geschätzt. Das BAG geht davon aus, dass bei 7.5% der lebendgeborenen Kinder das Risiko besteht, ein FASD zu entwickeln.

Es handelt sich um eine der häufigsten Ursache einer entwicklungsneurologischen Störungen in westlichen Ländern und stellt damit ein bedeutendes gesundheitspolitisches Problem dar, mit erheblichen Auswirkungen auf die betroffene Person und die Gesellschaft. Die lebenslangen Kosten pro Patient werden in den USA auf rund 3 Millionen Dollar geschätzt. Bei diesen Zahlen muss eine merkliche Unterdiagnostik in Betracht gezogen werden.

DEFINITION

Die durch fetale Alkoholexposition bedingten Störungen gliedern sich in ein weites Spektrum von Diagnosen variabler Schwere. Diese erstrecken sich vom FAS, das ca. 10% aller Patienten umfasst, bis zu rein kognitiven und/oder Verhaltensstörungen, welche die Mehrzahl der Patienten betreffen. Man unterscheidet 4 verschiedene Diagnosen innerhalb der Fetalen Alkoholspektrumstörungen: 1) das Fetale Alkoholsyndrom (FAS), 2) das partielle Fetale Alkoholsyndrom (pFAS), 3) alkoholbedingte angeborene Missbildungen (ARBD) und 4) alkoholbedingte neurologische Entwicklungsstörungen (ARND). Zudem wird in der 5. DSM-Revision die Diagnose neurologische Entwicklungsstörungen bedingt durch pränatale Alkoholexposition (ND-PAE) aufgeführt.

Tabelle 1. Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD)

Die Diagnose FAS umfasst das gleichzeitige Vorhandensein von Wachstumsrückstand, typischer Facies und entwicklungsneurologischer Störung. Der Nachweis einer pränatalen Alkoholexposition ist bei Vorhandensein der charakteristischen Trias nicht zwingend. Bei Vorhandensein von nur einem oder zwei  Charakteristika oder einer angeborenen Missbildung, werden die übrigen Diagnosen der Fetalen Alkoholspektrumstörung gestellt, unter der Bedingung, dass eine pränatale Alkoholexposition nachgewiesen oder sehr stark vermutet wird.

Die Mehrzahl der klinischen Zeichen erscheinen im Verlaufe des Wachstums und der Entwicklung des Kindes. Das mittlere Alter für die Diagnose eines FAS liegt bei 3.3 Jahren, nur 6.5% werden bei Geburt, 2/3 vor dem Alter von 5 Jahren diagnostiziert.

a) Charakteristische Facies

Folgende Stigmata sind für das FAS charakteristisch:

  • schmale Lidspalte
  • flaches oder fehlendes Philtrum
  • schmale Oberlippe

Ein jedes dieser drei Zeichen kann bei verschiedenen Syndromen vorkommen, die Summe der drei ist pathognomonisch für das FAS.

Es werden weitere Gesichtsmerkmale beschrieben, die in diesem Zusammenhang den Verdacht erwecken müssen: Epikanthus, kurze Nase mit nach vorne zeigenden Nasenlöchern, geringfügige Anomalien der Ohren, Hypoplasie des Oberkiefers und Gaumenanomalien.

Diagnostisch kann es hilfreich sein, das Mass der Lidspalte auf der Wachstumskurve einzutragen; eine zu enge Lidspalte entspricht einem Messwert unter 2 Standardabweichungen. Ein Foto-Leitfaden ermöglicht das Erkennen einer schmalen Oberlippe und eines flachen Philtrums im Bezug auf die ethnische Herkunft des Patienten. Der Fotoleitfaden sowie ein Rechner zur Bestimmung des Z-Scores der Lidspalte sind frei zugänglich auf http://www.fasdpn.org.

Abbildung 2. Gesichtsmerkmale des FAS beim Kleinkind. Modifiziert nach Streissguth et al. 1994

b) Wachstumsstörungen

Im Zusammenhang mit einem FAS wird ein intrauteriner und/oder postnataler Wachstumsrückstand beschrieben. Meyer-Leu erwähnen einen Schwelle ab einem Glas täglich, mit einer signifikanten Abnahme des Geburtsgewichtes bei Kindern von Müttern, die während der Schwangerschaft 2-4 Gläser täglich konsumieren4). Der Wachstumsrückstand kann sich selektiv auf den Kopfumfang beschränken (Mikrozephalie) oder alle drei Parameter betreffen. Der Zeitpunkt des Alkoholkonsums scheint keinen Einfluss zu haben. Chiaffarino stellt bei Einnahme von 3 Gläsern Alkohol täglich, unabhängig vom Schwangerschaftstrimenon, im Vergleich zu Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft ein dreifaches Risiko fest, einen intrauterinen Wachstumsrückstand zu entwickeln6).

Missbildungen können bei einem FAS jedes beliebige Organ betreffen, am häufigsten sind es jedoch Gaumen, Gehirn und Herz betroffen. Wir gehen hier auf die Wichtigsten ein.

c) Störungen des Zentralnervensystems

Die Störungen des Zentralnervensystems sind unterschiedlich, die meisten implizieren eine lebenslange Beeinträchtigung. Sie können strukturell oder neurologisch sein und/oder das Verhalten betreffen. Untenstehende Tabelle fasst die häufigsten Zeichen und Symptome zusammen. Zu erwähnen ist, dass das Kleinhirn in Bezug auf die alkoholbedingte Wachstumsstörung besonders anfällig ist und Koordinations-, Gleichgewicht- und Gangstörungen im Vordergrund stehen.

Tabelle 2. Störungen des Zentralnervensystems bei FAS.

d) Assoziierte angeborene Missbildungen

  • Gaumen: Lippen-, Lippen-Gaumen- und Gaumenspalten
  • Gehör: Anatomische Veranlagung zur rezidivierenden Mittelohrentzündungen, Hypakusis sensorineural oder bei Schallleitungsstörung
  • Ophtalmologisch: Ptose, Mikrophthalmie, Kolobom, Nystagmus, Strabismus, Anomalien des Nervus opticus
  • Kardial: Transposition der grossen Gefässe, konotrunkale Missbildungen
  • Gastrointestinal: Hepatomegalie, erhöhte Transaminasen
  • Immunologisch: Funktionsstörung der T-Zellen, Entwicklungsstörung der B-Zellen
  • Urogenital: Hufeisennieren, Nierenagenesie, Kryptorchismus, Klitoromegalie
  • Muskel-skelettal: Kontrakturen, Skoliose, Vierfingerfurche, kurzer Dig. V mit Klinodaktylie7).

Multisystemische Störungen

Die Alkoholexposition des Feten kann einen multisystemischen Befall verursachen. Die 127 Studien umfassende Metaanalyse von Popova erlaubt es, bei Personen mit der Diagnose einer FASD 428 Komorbiditäten verteilt auf beinahe alle Kapitel (18/22) des ICD-10 zu erkennen. Die am häufigsten beschriebenen Störungen (50-91%) sind rezeptive/expressive Sprachstörungen, chronische seröse Mittelohrentzündung, Verhaltensstörungen und Störungen der neuropsychologischen Entwicklung8).

 4-Digit Diagnostic CodeTM

Um die Diagnostik zu standardisieren, hat Susan Ashley in Seattle ein Formular entwickelt, das ausgefüllt einen aus 4 Ziffern bestehenden digitalen Code ergibt, der das klinische Bild des Patienten wiederspiegelt. Dies ermöglicht eine systematische diagnostische Klassifizierung der verschiedenen Störungen der FASD9).

4-Digit Diagnostic CodeTM = 3-4-4-4 = FAS (vorgeburtliche Alkoholexposition)
Abbildung 3. 4-Digit Diagnostic CodeTM. Beispiel eines Patienten9)

Diagnostische Methoden

Das wesentliche Element zur Diagnose einer fetalen Alkoholexposition ist die Anamnese. Tabakkonsum zu erfragen, bietet bei der Anamnese keine Schwierigkeiten, Alkoholkonsum anszuprechen ist hingegen immer noch ein  Tabu und führt damit zu einer Unterbewertung der Risikosituationen. Es ist wichtig,  Schwangere und Mütter von Neugeborenen über den Konsum aller toxischen Substanzen zu befragen, inklusive Alkohol vor und während der Schwangerschaft. Der Einsatz spezifischer und validierter Fragebogen (T-ACE, TWEAK, AUDIT-C, 4P’s Plus) kann sich zum Erkennen von Risikokonsum bei Schwangeren als sehr nützlich erweisen.

Angesichts der beschränkten anamnestischen Möglichkeiten wären Biomarker von grosser Hilfe bei der Diagnose eines eventuellen FASD, um eine entsprechende Betreuung in die Wege leiten zu können. Bisher wurden mehrere untersucht, insbesondere  Fettsäureethylester (FAEE) in Mekonium und Haaren und Ethylglucuronide (EtG) in den Haaren. Bis heute ist jedoch kein Marker zufriedenstellend einsetzbar. Mehrere Methoden wie genetische Analysen und Bildgebung des Gesichts sind in Entwicklung und sollten in den kommenden Jahren eine massgebliche diagnostische Hilfe bringen10).

PATHOGENESE

Mechanismen der Alkoholtoxizität

Die Wirkung von Alkohol auf die Entwicklung des menschlichen wie tierischen Fetus wurde in über 5000 wissenschaftlichen Arbeiten untersucht. Wir fassen hier die wichtigsten identifizierten Mechanismen und ihre Auswirkungen zusammen.

Alkohol kann die Plazentaschranke und die Blut-Hirnschranke des Feten frei passieren, der Alkoholspiegel im fetalen Blut ist innerhalb 2 Stunden gleich hoch wie der mütterliche. Die Ausscheidung des Alkohols durch den Feten erfolgt mittels zwei Mechanismen: Erstens durch Rückfluss über die Plazenta in den mütterlichen Kreislauf und zweitens durch Passage  in die Amnionflüssigkeit, die dann eine Reservoirrolle übernimmt. Beide Mechanismen sind wenig wirksam, der Fetus bleibt deshalb längere Zeit dem durch die Mutter eingenommenen Alkohol ausgesetzt.

Strukturelle Schädigungen finden eindeutig im ersten Trimenon statt. Da sich die Entwicklung des Gehirns über die ganze Schwangerschaft erstreckt, kann die  Alkoholexposition auch im 2. und 3. Trimenon zu Störungen der neurologischen Entwicklung führen.

Die Auswirkungen von Alkohol auf das sich in Entwicklung befindende Gehirn sind vielfach, die wichtigsten sind in Abbildung 4 zusammengefasst. Zu Azetaldehyd metabolisiertes Äthanol bewirkt eine Apoptose von Nervenzellen und von Zellen der Neuralleiste, sowie eine Störung der Zellmigration und der Morphogenese des Corpus callosum. Zudem wird eine direkt teratogene Wirkung durch Alkohol beschrieben.

Eine der häufigsten strukturellen Missbildungen betrifft das Corpus callosum. Die Balkenagenesie besteht bei 6% der Kinder mit der Diagnose FAS, gegenüber 0.1% in der allgemeinen Population und 2-3% in einer Population von Personen mit Entwicklungsstörungen.

Ebenfalls dokumentiert wurden epigenetische Mechanismen (DNA-Methylierung, Histone, nicht-kodierende RNA-Regulatoren), deren Konsequenzen auf die neurologische Entwicklung vorübergehend oder auch langfristig sein können und insbesondere eine verminderte Stresstoleranz bedingen11).

Abbildung 4. Mechanismen der Alkoholtoxizität auf das sich in Entwicklung befindende Gehirn

Wieviel Alkohol ist für den Feten schädlich?

Es konnte keine untere Grenze ermittelt werden, unter welcher der Alkoholkonsum risikofrei wäre. Ebenso scheint keine Dosis-Wirkungsbeziehung zwischen Konsum und Ausmass der neurologischen Entwicklungsstörungen zu bestehen. Tierstudien an Ratten und Affen haben aufgezeigt, dass die alkoholbedingte Hirnhypotrophie eher mit Spitzen des Blutalkoholgehalts als mit der Dauer der Exposition korreliert und ein auf die ersten Schwangerschaftswochen beschränktes „binge drinking“ mindestens so grosse Konsequenzen auf die Hirnentwicklung haben kann wie eine Exposition während der ganzen Schwangerschaft.

PROGNOSE

Personen mit einer FASD weisen eine Verminderung ihrer intellektuellen Leistungen auf, die sowohl den verbalen IQ als auch den Handlungs-IQ betreffen. Dies wurde auch bei nicht dysmorphen Patienten nachgewiesen mit mehr oder weniger umfangreichen Kohorten. Mittels verschiedenen neuropsychologischen Tests beurteilt (akademische Aufgaben, sprachliche Grundfunktionen, Lese- und Gedächtnistests, visuelle Aufgaben, Prüfung von Feinmotorik und Koordination, nonverbales Lernen), waren die Leistungen der Patienten mit FASD bzw. FAS gleichermassen vermindert, wobei bevorzugt verbale und akademische Leistungen betroffen waren12). Diese Studien widerspiegeln die Tatsache, dass die neurokognitiven Störungen keine Korrelation mit dysmorphen Zeichen des FAS aufweisen. Die Störungen im neurokognitiven Bereich sind zwischen den verschiedenen Probanden vergleichbar, ob diese nun das komplette Syndrom aufweisen oder eine andere Störung des Fetalen Alkoholspektrums.

Sekundäre Invalidität

Über 90% der Personen mit der Diagnose FASD haben psychische Beeinträchtigungen und mehr als die Hälfte der über 12-jährigen Schulschwierigkeiten. Es handelt sich scheinbar auch um eine bei Inhaftierten übervertretene Population. Eine schwedische Studie hat die psycho-soziale Entwicklung im Erwachsenenalter von 79 Kindern mit der Diagnose FAS untersucht. Es wurde bei diesen Personen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung vermehrt Platzierung in Institutionen (81 vs. 4%), Sondererziehung (25 vs. 2%), Arbeitslosenleistungen (51 vs. 15%) und Invalidenrenten (31 vs. 3%) festgestellt. Im Gegensatz zu amerikanischen Studien bestand kein signifikanter Unterschied in Bezug auf Kriminalität13). Allerdings muss in epidemiologischen Studien zu dieser Problematik die Bedeutung von Störfaktoren hervorgehoben werden, insbesondere Umwelt-, familiäre und soziale Faktoren.

PRÄVENTION UND BETREUUNG

Da keine klare Schwelle angegeben werden kann, unterhalb welcher der Alkoholkonsum für den Fetus risikolos wäre, besteht die derzeitige Empfehlung für alle schwangeren Frauen, für alle die schwanger sein könnten oder eine Schwangerschaft wünschen, in totaler Alkoholabstinenz.

Es ist deshalb wesentlich, dass alle im Gesundheitswesen Tätigen und alle Public-Health-Programme den gebärfähigen Frauen und ihrer Umgebung, insbesondere dem Ehepartner, eine unmissverständliche Botschaft übermitteln. Gemäss einer 2013 publizierten schweizerischen Studie ändern 70% der Männer ihren Alkoholkonsum während der Schwangerschaft ihrer Ehefrau nicht. Angesichts der erheblichen Auswirkungen der fetalen Alkoholexposition auf das Gesundheitswesen, und der vergleichsweise zahlreichen Kampagnen zur Tabakprävention, ist die Passivität der Behörden in Bezug auf die Prävention des Fetalen Alkoholsyndroms schlecht verständlich.

Es besteht die Gefahr, dass das Mutter-Kind-Verhältnis durch mütterliche Schuldgefühle belastet wird, was den Entwicklungsstörungen eine affektive Dimension hinzufügt. Die medizinischen Fachkräfte müssen deshalb darauf achten, dass die Mütter sich nicht stigmatisiert fühlen und dass sie bei Bedarf Unterstützung finden. Angesichts der zahlreichen Vorteile soll zum Stillen ermutigt werden; Stillen kann dazu motivieren, auf den Alkoholkonsum zu verzichten oder ihn zu vermindern. Wird Alkohol während der Stillperiode konsumiert, sollten nach einem Glas 2 Stunden und nach 2 Gläsern 4 Stunden mit Stillen gewartet werden. Es gibt eine an schwangere Frauen und solche die es zu werden wünschen gerichtete Broschüre. In mehreren Sprachen durch AddictionSuisse herausgegeben, kann sie kostenlos heruntergeladen werden (https://shop.addictionsuisse.ch/).

In Bezug auf Sekundärprävention ist die frühzeitige Diagnose einer der wirkungsvollsten Faktoren für eine günstige Entwicklung. Eine entsprechende Betreuung kann das Risiko sekundärer Invalidität mindern und es können präventive Massnahmen zugunsten zukünftiger Geschwister eingeleitet werden.

Die Betreuung der Kinder mit FASD muss individuell angepasst werden und beruht im Wesentlichen auf unterstützenden Massnahmen betreffend Verhaltens- und Lernstörungen. Eine Fachberatung für Verhaltensstörungen und die notwendigen unterstützenden Massnahmen für das Kind (Physiotherapie, Psychomotorik, Logopädie, Erziehungsberatung, usw.) und die Mutter (ärztliche Betreuung, Suchtberatung, psychologische Unterstützung) sollten frühzeitig angeboten werden.

Eine medikamentöse Behandlung kann für die 50-90% Patienten erwogen werden, welche die Kriterien einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) erfüllen. Die übliche medikamentöse Behandlung zeigt jedoch weniger befriedigende Resultate als bei ADHS-Patienten ohne FASD (vermehrte Neigung zu Nebenwirkungen, unwirksam gegen die Symptome der Aufmerksamkeitsstörungen). Beim Verschreiben einer solchen Therapie ist deshalb besondere Vorsicht geboten. Die Behandlung mit Atomoxetin (Strattera®) wird derzeit in einer randomisierten Studie untersucht.

Verschiedene Studien untersuchen neue medikamentöse Behandlungen, die zum Ziel haben, die Auswirkungen der fetalen Alkoholexposition auf die Hirnplastizität zu verhindern. Diätische  Massnahmen haben eine positive Wirkung gezeigt. Die Supplementierung mit gewissen Mineralstoffen und Vitaminen während der Schwangerschaft konnte die teratogene Wirkung des Alkohols mindern. Untersucht wird ebenfalls die Hypothese, dass die postnatale Ernährung einen positiven Einfluss auf die Prognose der physischen Entwicklung und des Verhaltens von Patienten mit FASD haben kann, nachdem in präklinischen Studien eine günstige Wirkung von Cholinsupplementierung festgestellt wurde. Parallel dazu wurde bei Ratten, die als Feten Alkohol ausgesetzt waren, durch die Beeinflussung von Umweltbedingungen in Form freiwilliger Übungen eine Verbesserung des räumlichen Gedächtnisses festgestellt. Diese Beobachtungen ermutigen dazu, individualisierte Übungsprogramme zur Verbesserung der motorischen Fähigkeiten und kognitiven Funktionen zu entwickeln.

Diese verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten werden derzeit untersucht und es sind in naher Zukunft neue Empfehlungen in diesem Bereich zu erwarten10).

SCHLUSSFOLGERUNG

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Alkohol während der Schwangerschaft ein grosses Problem im Gesundheitswesens darstellt, auf welches aber zahlreiche Fachkräfte Einfluss nehmen können, seien sie nun Allgemeinpraktiker, Kinder-, Frauenarzt oder Hebamme. Es ist wünschenswert, dass nationale Informations- und Präventionskampagnen verwirklicht werden, um die Prävalenz Fetaler Alkoholspektrumstörungen und deren langfristigen Folgen zu mindern. Tatsache ist, dass die Wirkung von Alkohol, im Vergleich zum Tabak, oft verkannt und tabuisiert wird, aber potentiell vermehrt zu Invalidität führt; Präventionskampagnen wie sie in den USA und in Frankreich durchgeführt werden, sollten auch in der Schweiz stattfinden, ist doch die FAS-Prävalenz in unserem Land leider eine der höchsten in Europa.

Referenzen

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Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr med.  Guillaume Maitre Service de Néonatologie, Département Femme-Mère-Enfant, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne

Dr med.   Céline J. Fischer Fumeaux Service de Néonatologie, Département Femme-Mère-Enfant, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne

Prof. Dr med.  Anita Truttmann Service de Néonatologie, Département Femme-Mère-Enfant, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, Lausanne