Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken
Einleitung
In jeder Kinderklinik und Kinderabteilung werden misshandelte Kinder behandelt. Es gehört deshalb zum Behandlungsauftrag jeder Kinderklinik, subtile Zeichen einer möglichen Misshandlung wahrzunehmen und entsprechende Hilfe einzuleiten. Die phänomenologische Vielfalt und psychologische Besonderheit dieses Krankheitsbildes machen die Diagnose schwierig. Dabei ist Kindsmisshandlung häufiger als andere pädiatrische Diagnosegruppen wie angeborene Herzfehler, bösartige Krankheiten oder Stoffwechselstörungen. Die Diagnosestellung wäre umso wichtiger, als frühzeitiges Aufdecken und korrektes interprofessionelles Management für die Prognose von grosser Bedeutung sind.
Deshalb hat sich die Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken, eine Kommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie, zum Ziel gesetzt, Empfehlungen für Diagnostik und Management von Kindsmisshandlung zu erarbeiten. Diese Gruppe bestand aus Fachpersonen der Bereiche Kinderchirurgie, Kinderpsychiatrie und Pädiatrie mit langjähriger praktischer Erfahrung auf diesem Gebiet. Entsprechend der Häufigkeit von Kindsmisshandlung ist Kinderschutz nicht eine Spezialdisziplin von Einzelnen, sondern soll eine in den medizinischen Alltag integrierte Denkweise im Hinblick auf Sensibilisierung, Wahrnehmung und bewusste Beobachtung sein. Kinderschutz gehört demnach ins Pflichtenheft jeder Oberärztin/jedes Oberarztes und zur Weiterbildung zur Fachärztin/zum Facharzt FMH für Kinder- und Jugendmedizin; Kindsmisshandlung soll auch im Facharztexamen geprüft werden.
Die vorliegenden Empfehlungen sind als Leitlinien gedacht, an denen sich in Kinderkliniken oder Kinderabteilungen tätige Ärztinnen und Ärzte beim Erstkontakt mit Kindern und Jugendlichen und deren Begleitpersonen (wohl meistens in einer Notfallsituation) orientieren können.
Empfehlungen
Fachgruppe Kinderschutz
der schweizerischen Kinderkliniken
EMPFEHLUNGEN
für die Kinderschutzarbeit an Kinderkliniken
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Inhalt
1. Grundsätze der Kinderschutzarbeit …………….. ………………………………………………………… 3
2. Vorgehen bei Verdacht auf körperliche Kindsmisshand lung und/oder Vernachlässigung .. 4
3. Vorgehen bei sexuellem Missbrauch …………….. ………………………………………………………. 6
4. Interventionsmöglichkeiten von Kinderschutzgruppen ………………………………………………. 9
5. Anhang 1: Versicherungsrechtliche Aspekte ……… …………………………………………………. 11
6. Anhang 2: System des Kinderschutzes ………… ……………………………………………………… 12
© Fachgruppe Kinderschutz der Schweiz. Gesellschaft für Pädiatrie, 2000
Gesamtüberarbeitung der Empfehlungen Februar 2017
Kapitel 1: Markus Wopmann, Baden
Kapitel 2: Georg Staubli, Zürich
Kapitel 3: Dörthe Harms, Baden / Renate Hürlimann, Zürich
Kapitel 4: Jean-Jacques Cheseaux, Lausanne
Anhänge: Markus Wopmann, Baden
http://www.swiss-paediatrics.org/de/informationen/e mpfehlungen
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Einleitung
In jeder Kinderklinik und Kinderabteilung werden mi sshandelte Kinder behandelt. Es gehört
deshalb zum Behandlungsauftrag jeder Kinderklinik, subtile Zeichen einer möglichen
Misshandlung wahrzunehmen und entsprechende Hilfe e inzuleiten. Die phänomenologische
Vielfalt und psychologische Besonderheit dieses Kra nkheitsbildes machen die Diagnose schwierig.
Dabei ist Kindsmisshandlung häufiger als andere päd iatrische Diagnosegruppen wie angeborene
Herzfehler, bösartige Krankheiten oder Stoffwechsel störungen. Die Diagnosestellung wäre umso
wichtiger, als frühzeitiges Aufdecken und korrektes interprofessionelles Management für die
Prognose von grosser Bedeutung sind.
Deshalb hat sich die Fachgruppe Kinderschutz der sc hweizerischen Kinderkliniken, eine
Kommission der Schweizerischen Gesellschaft für Päd iatrie, zum Ziel gesetzt, Empfehlungen für
Diagnostik und Management von Kindsmisshandlung zu erarbeiten. Diese Gruppe bestand aus
Fachpersonen der Bereiche Kinderchirurgie, Kinderps ychiatrie und Pädiatrie mit langjähriger
praktischer Erfahrung auf diesem Gebiet.
Entsprechend der Häufigkeit von Kindsmisshandlung i st Kinderschutz nicht eine Spezialdisziplin
von Einzelnen, sondern soll eine in den medizinisch en Alltag integrierte Denkweise im Hinblick auf
Sensibilisierung, Wahrnehmung und bewusste Beobacht ung sein. Kinderschutz gehört demnach
ins Pflichtenheft jeder Oberärztin/jedes Oberarztes und zur Weiterbildung zur Fachärztin/zum
Facharzt FMH für Kinder- und Jugendmedizin; Kindsmi sshandlung soll auch im Facharztexamen
geprüft werden.
Die vorliegenden Empfehlungen sind als Leitlinien g edacht, an denen sich in Kinderkliniken oder
Kinderabteilungen tätige Ärztinnen und Ärzte beim E rstkontakt mit Kindern und Jugendlichen und
deren Begleitpersonen (wohl meistens in einer Notfa llsituation) orientieren können. Vor der
konkreten Umsetzung in die tägliche Praxis müssen d iese Empfehlungen aber in jeder Klinik
individuell den örtlichen, personellen und infrastr ukturellen Gegebenheiten angepasst und ergänzt
werden, eine Aufgabe, die wohl am besten in Zusamme narbeit von Klinikleitung und lokaler
Kinderschutzgruppe erfolgt. Diese so in jeder Klini k zu schaffenden internen Richtlinien haben den
Zweck, auch in Drucksituationen überstürztes Handel n und Einzelaktionen zu vermeiden.
Über diesen (notfall-)ärztlichen Erstkontakt hinaus gehende, spezifische Kinderschutzmass-
nahmen sind in diesen Empfehlungen nicht enthalten, sie gehören in den Aufgabenbereich der
lokalen Kinderschutzgruppe.
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1. Grundsätze der Kinderschutzarbeit
1. Der Kinderschutz gehört zum Leistungsauftrag jed er Kinderklinik. Dafür muss an jeder
Kinderklinik eine Kinderschutzgruppe vorhanden sein .
2. Die Kinderschutzfälle sollen interprofessionell behandelt werden. Innerhalb der
Kinderschutzgruppe sollten, wenn möglich, die Diszi plinen Pädiatrie, Kinderchirurgie, Kinder-
und Jugendpsychiatrie, Pflege, Sozialarbeit, Recht und Kindergynäkologie vertreten sein.
3. Jede Kinderklinik verfügt über ein Interventions konzept bei Kinderschutzfällen, welches die
lokalen Gegebenheiten berücksichtigt. Ebenso defini ert die Klinikleitung zusammen mit der
Kinderschutzgruppe konkrete Abläufe bei Kinderschut zfragen, regelt die diesbezügliche
klinikinterne Weiterbildung und ermöglicht eine ges amtschweizerische Zusammenarbeit in
Kinderschutzfragen. Zudem ermöglicht die Klinikleit ung der Kinderschutzgruppe die eigene
Weiter- und Fortbildung sowie eine Supervision.
4. Die Kinderschutzgruppe trifft sich je nach Bedar f zu interprofessionellen Sitzungen.
Interventionen umfassen medizinische und psychosozi ale Hilfeleistungen sowie das Einleiten
von zivilrechtlichen und strafrechtlichen Massnahme n. Diese Massnahmen werden erst
abgeschlossen, wenn die Folgeverantwortung und die weiteren Zuständigkeiten verbindlich
geklärt sind.
5. Eine notfallmässige Einberufung der Kinderschutz gruppe (oder mindestens Teilen davon)
sollte – zumindest unter der Woche – innerhalb von 24 Stunden möglich sein.
6. Entscheidungen in Kinderschutzfällen sollten nie alleine, sondern wenn immer möglich, durch
mindestens zwei Personen gefällt werden.
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2. Vorgehen bei Verdacht auf körperliche Kindsmisshand lung und/oder
Vernachlässigung
Verdacht bei Zuweisung Zuweisung mit Selbstzuwei sung
(Arzt, Institution, etc.) anderer Diagnose (meis t aus anderen Gründen)
Information OA
Verdacht auf Kindsmisshandlung
Aufgrund von Anamnese/Befunden
Information OA
Diagnostik
* Mögliche Blutentnahme zum Ausschluss einer Erkrankun g, Gerinnungsstörung oder Stoffwechselerkrankung:
Blutbild Handdifferenzierung,
Normale Gerinnung (PTT, INR, Fibrinogen), Faktoren VIII, IX, XIII,
PFA 100
Leberwerte, Amylase, Nierenwerte, Elektrolyte (Na, K, Ca, Cl)
Urin: Status, organische Säuren
Guthrie entblinden lassen (Stoffwechsellabor Kispi Zü rich)
Anamnese
(bei Jugendlichen evtl. auch allein)
Status
(inkl. Anogenitalbereich)
Vernachlässigung
– In der Regel keine
notfallmässige Diagnostik
– Dokumentation Körperliche Misshandlung
– Verletzungen/Hämatome:
o Dokumentation (Übersichts- und Detailfotos
mit Massstab/Farbskala)
– Verdacht auf Fraktur:
o Gezieltes Röntgen
Ev. Skelettstatus (Kinder < 2 Jahren)
Ev. Szintigraphie (Kinder > 2 Jahre)
o Schädelhirntrauma: CT, MRI,
ophthalmologisches Konsil
– Abdominalverletzungen:
o Ultraschall, Labor, evt. CT
– Blutentnahme je nach Fragestellung*
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Nein
Ja
Eltern einverstanden? Nein ambulantes Setting
Akute Gefährdung
des Kindes? Nein
Ja
Ja
Je nach Beurteilung der Gesamtsituation und der kan tonalen Gesetzeslage:
Stationäre Aufnahme zum Schutze des Kindes notwendi g?
Hospitalisierung
Sofortiger Entzug des
Aufenthaltsbestimmungsrechtes bei der KESB beantragen, wenn
möglich nach Rücksprache mit der
KSG. Wenn KESB nicht erreichbar,
ev. Polizei einschalten
Einschalten der Kinderschutzgruppe möglichst innert 24 h Einschalten der
Kinderschutzgruppe
Festlegen des weiteren Procedere nach Kinderschutzg ruppensitzung
· strafrechtliche Massnahmen
· zivilrechtliche Massnahmen
· einvernehmliche Massnahmen
· Vernetzung nach aussen
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3. Vorgehen bei sexuellem Missbrauch
Definition sexueller Missbrauch
Einbezug von Kindern und abhängigen Jugendlichen in sexuelle Handlungen zu einem Zeitpunkt
ihrer Entwicklung, zu dem sie den Inhalt und die Be deutung dieser Handlungen noch nicht
vollumfänglich begreifen können.
Formen sexuellen Missbrauchs
Berührungen im Brust- und Genitalbereich, Einbezug in Masturbation, digitale oder penile
Penetration.
Einbezug in sexuelle Handlungen ohne Körperkontakt wie Exhibitionismus, gemeinsames
Anschauen oder Herstellen von pornographischem Mate rial, auch im Internetbereich.
Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch kann sich ergeben
· aufgrund von Aussagen des Kindes oder des/der Juge ndlichen
· aufgrund körperlicher Zeichen
· aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten
· aufgrund von Beobachtungen durch Drittpersonen
· aufgrund von Foto- oder Filmmaterial
· aufgrund von Chatprotokollen, Handydaten etc.
Die Symptomatik von sexuellem Missbrauch kann vielf ältig sein, die Zeichen sind sehr oft
unspezifisch. Zur Bewertung der Situation und somit zur Entscheidung, ob weitere Abklärungen
angezeigt sind, sollte möglichst früh eine multidis ziplinäre Fachgruppe zugezogen werden. Dies ist
auch wichtig, da die multidisziplinäre Diskussion u nd Beurteilung entlastend für die einzelnen
involvierten Fachpersonen wirkt im Sinne einer gete ilten Verantwortung.
Aussage des Kindes oder des/der Jugendlichen
Spontane Äusserung der Betroffenen sollen möglichst wörtlich festgehalten werden.
Zusätzlich ist es wichtig, dass die Begleitumstände und das Verhalten der Betroffenen und der
Begleitpersonen genau beschrieben werden. So sollte zum Beispiel erfasst werden, wem
gegenüber das Kind oder der/die Jugendliche was aus gesagt hat und unter welchen Umständen
es zu dieser Aussage gekommen sein soll.
Befragungen zum Verdacht, Suggestivfragen, wiederho lte Nachbefragungen zur Täterschaft (z.B.
durch Pflegefachpersonen oder weitere Ärzte) müssen unterlassen werden.
Untersuchung
Eine notfallmässige körperliche Untersuchung ist no twendig, wenn eine akute Gefährdung des
Kindes bzw. der/des Jugendlichen besteht oder ein K örperkontakt in den letzten 72 Stunden
stattfand. Dann darf das Kind bzw. die/der Jugendli che vor der Untersuchung nicht gebadet,
geduscht oder gewaschen werden. Auch Kleider oder a ndere Textilien wie z.B. Handtücher,
Decken müssen ungewaschen gesichert werden (Forensi sche Untersuchungsbox/Papiersack)).
Die Untersuchung des Anogenitalbereichs bei Kindern und Jugendlichen verlangt neben
spezifischem Fachwissen über das normale und nicht normale Genitale ein hohes Mass an
Einfühlungsvermögen und Erfahrung. Daher muss zunäc hst überlegt werden, ob eine
Überweisung an ein Zentrumsspital mit entsprechende r Expertise und oder die Beiziehung des
zuständigen Instituts für Rechtsmedizin sinnvoll is t. In jedem Fall muss die Untersuchung des
Anogenitalbereichs bei Kindern und Jugendlichen mit V.a. oder sicherem sexuellem Missbrauch
von einer entsprechend geschulten Person vorgenomme n bzw. supervidiert werden. Die
Untersuchung muss unbedingt ohne Gewaltanwendung ge schehen. Eine gute und lückenlose
Dokumentation ist zwingend, auch um wiederholte Unt ersuchungen zu vermeiden.
Folgende Qualitätsstandards für die Untersuchung mü ssen erfüllt werden:
· Fachperson mit Fachwissen über altersabhängige Nor malbefunde, Normvarianten und
Pathologien verfügbar
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·
Kolposkopische Untersuchung
· Beurteilung und schriftliche Dokumentation der erh obenen Befunde nach gültigen
Guidelines (Adams et al)
· Fotographische oder Video-Dokumentation der erhobe nen Befunde
Die körperliche Untersuchung umfasst neben der Unte rsuchung der Anogenitalregion immer einen
Allgemeinstatus inklusive Beurteilung der Haut und Schleimhäute.
Bei der Mehrheit missbrauchter Kinder und Jugendlic her ergibt die Untersuchung des
Anogenitalbereichs einen unauffälligen Befund. Ursa chen dafür sind:
· Missbrauch ohne Berührung
· Berührungen ohne Verletzung
· Verletzungen heilen rasch und ohne Residuen ab
Trotz dieser Einschränkungen ist die körperliche Un tersuchung bei Verdacht auf sexuellen
Missbrauch von grosser Wichtigkeit,
· für eine forensische Spurensicherung < 72 h nach Ü bergriff
· um Aussagen des Kindes bzw. des / der Jugendlichen untermauern zu können
· um allfällige sexuell übertragbare Erkrankungen od er eine Schwangerschaft zu erkennen
bzw. zu therapieren.
Besonders wichtig ist die körperliche Untersuchung auch für die psychische und physische
Integrität des Kindes bzw. der/des Jugendlichen. Di e Bestätigung, dass der Körper unversehrt ist
bzw. keine bleibenden körperlichen Folgen befürchte t werden müssen, ist für den
Verarbeitungsprozess von grosser Wichtigkeit.
Folgende Überlegungen müssen Teil der körperlichen Untersuchung nach sexuellem Missbrauch
sein:
· Einleitung einer Postkoitalantikonzeption, vorgäng ig immer Schwangerschaftstest
· Asservierung von Material für forensische Zwecke ( Forensische Untersuchungsbox)
In der Regel ist eine Asservierung von Fremd DNA si nnvoll, wenn das Ereignis innerhalb
der letzten 72 Stunden stattfand. Bei noch sichtbar en Verletzungen sollte auch nach mehr
als 72 Stunden der Versuch unternommen werden, Frem d DNA zu sichern.
· Suche nach sexuell übertragbaren Krankheiten wie H epatitis B (HBsAK, HBsAg), Hepatitis
C, HIV, Chlamydien und Gonorrhoe (PCR aus Vaginalse kret), Lues (VDRL)
· Postexpositionsprophylaxe (HIV und Hepatitis B)
o Sinnvoll in der Regel nur innerhalb 72 Stunden nac h dem Ereignis und nach
Absprache mit den Infektiologen
· Prophylaktische Behandlung von Chlamydien und Gono rrhoe bei entsprechender
Risikosituation. Gegebenenfalls auf Veranlassung de r Staatsanwaltschaft Blutentnahme bei
der mutmasslichen Täterschaft für Screening auf HIV (p28), Hepatitis B und C.
Der Kontakt zu einer kantonalen Opferhilfestelle is t frühzeitig zu vermitteln, da jedes Opfer
Anspruch auf Beratung und Betreuung hat. Dies beinh altet:
· besondere Rechte im Strafverfahren
· Anspruch auf finanzielle Hilfe
· Anspruch auf psychologische Betreuung
Literatur
1. Adams JA, Kellog ND, Farst JF et al: Updated Gui delines for the Medical Assessment and
Care of Children Who May Have Been Sexually Abused. J Pediatr Adolesc Gynecol. 2016
Apr;29(2):81-7.
2. Jenny C, Crawford JE and Committee on child abus e and neglect: The Evaluation of Children
in the Primary Setting when Sexual Abuse is Suspect ed. Pediatrics. 2013, 132, e558-67.
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Abb. 1: Vorgehen bei sexuellem Missbrauch
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4. Interventionsmöglichkeiten von Kinderschutzgruppen
Wer ein Kind misshandelt, hat oft nicht die Einsich t, dass er Unterstützung braucht. Unterstützung
ist aber notwendig zur Veränderung der Verhältnisse , so dass sich die Misshandlung nicht
wiederholt und zur Bewältigung der erlittenen Traum en durch die Opfer und durch jene
Angehörigen, die nicht Täter waren. Wegen der mange lnden Einsicht ist aber eine Verpflichtung zu
einer Massnahme und der damit verbundenen Kontrolle vielfach notwendig. Es besteht somit ein
Dilemma zwischen Angebot und Verpflichtung zur Hil fe .
Weg 1 Weg 2 Weg 3
Kooperation mit Kooperation mit der Kin des- und Kooperation mit der
der Familie Erwachsenenschutzbehörde Strafb ehörde
Weg 1:
Bei leichteren Fällen wird versucht, die Familie ohne Einschalten von Behörden zur Kooperation zu
bewegen. Mögliche Ansätze können beispielsweise sei n:
· Regelmässige Kontrollen beim Kinderarzt oder bei d er Mütterberatung
· Einschalten eines Sozialdienstes mit dem Ziel, soz iale Faktoren zu verbessern
· Elterngespräche
· Psychotherapie für das Kind
Auch bei diesem Weg muss eine Kontrolle gewährleist et sein, die aber nicht durch eine Behörde
übernommen wird. Voraussetzung für die Wahl dieses Weges ist, dass die Kinderschutzgruppe
das Risiko für eine weitere Gefährdung des Kindes a ls sehr gering einschätzt. Zudem setzt der
kooperative Weg voraus, dass bei der Familie eine g rundsätzliche Problemeinsicht und damit auch
eine Bereitschaft zur Veränderung vorhanden ist. In Fällen von sexuellem Missbrauch ist dieser
Weg in aller Regel nicht möglich.
Weg 2:
Hat die Kinderschutzgruppe den Eindruck, dass die F amilie nicht genügend motivierbar ist, so
sucht sie die Kooperation mit der Kindes- und Erwac hsenenschutzbehörde. Diese hat die
Möglichkeit, die Familie zu Massnahmen zu verpflich ten und auch entsprechende Kontrollen
anzuordnen. Den gleichen Weg wählt die Kinderschutz gruppe, wenn eine Gefährdung des
Kindeswohls vorliegt.
Weg 3:
In bestimmten Fällen erfordert die bekannt geworden e Misshandlung eine Strafanzeige. Eine
Strafanzeige ist immer nur ein Teil einer Kindersch utzmassnahme, denn es braucht zusätzlich die
Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, um weitere Ki ndesschutzmassnahmen zu verordnen.
Wenn es von den kindlichen Voraussetzungen her mögl ich ist, muss das Kind in die Entscheidung,
welcher Weg gewählt werden soll, mit einbezogen wer den.
Aufgrund des von der Familie erlebten Widerspruches von Verpflichtung und Kontrolle einerseits
sowie Hilfe und Unterstützung andererseits ist es ä usserst ratsam, dass die Verpflichtenden und
Kontrollierenden andere Personen sind als jene, die helfen und unterstützen.
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Ziele der Interventionen einer Kinderschutzgruppe
Die Arbeit der Kinderschutzgruppe hat 3 Hauptziele:
1. Schutz des Opfers
2. Hilfe bei der Klärung und Einordnung der Ereigni sse (Diagnosestellung)
3. Hilfe zu Veränderungen, sodass sich die Misshand lung nicht wiederholt und die erlittenen
Traumen besser bewältigt werden können.
Für das Vorgehen bezüglich der Klärung sei auf die Kapitel 2 und 3 dieser Empfehlungen
verwiesen.
Der Schutz des Opfers erfolgt durch Trennung von Op fer und Täter oder durch andere
Massnahmen, welche sicherstellen, dass sich die Mis shandlung nicht wiederholt.
Die Ziele der Veränderungen unterscheiden sich etwa s je nach Misshandlungsart, wobei sie bei
kombinierten Misshandlungen auch verbunden werden k önnen. Allgemein ist Folgendes wichtig:
· Verbesserung von sozialen Faktoren, welche ein Ris iko für die Misshandlung darstellen
· Stärkung der elterlichen Erziehungsfähigkeit und d es Verständnisses für die kindlichen
Bedürfnisse
· Thematisierung von eigenen früheren oder aktuellen Misshandlungserfahrungen mit den
Eltern, da diese Erfahrungen zur Gefährdung von Kin dern beitragen können
· Unterstützung der Elternteile, die nicht Täter sin d, zur Bewältigung von traumatischen
Ereignissen
· Hilfsangebot für misshandelte Kinder zur Bewältigu ng von erlittenen Traumen. Dies gilt
insbesondere auch bei sexuellem Missbrauch, damit O pfer später nicht zu Tätern werden
Im Einzelfall wird aufgrund des psychischen Befinde ns des Kindes und der vorhandenen
Ressourcen sorgfältig abgewogen, wieviel an Unterst ützung, Hilfe und Psychotherapie benötigt
wird.
Abschluss der Kinderschutzarbeit
Bereits bei der Planung von Interventionen und Ther apien sollten die Ziele klar vorgegeben sein
und damit verbunden die Kriterien, welche zeigen, o b die Ziele erreicht worden sind. Somit wissen
auch alle Beteiligten, weshalb etwas gemacht wird u nd wann gewisse Massnahmen nicht mehr
nötig sind.
Katamnese
Es ist sehr lehrreich, bei möglichst vielen Fällen, an denen man in irgendeiner Form beteiligt war,
den längerfristigen Verlauf zu erfahren, um sich so professionell zu verbessern.
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5. Anhang 1: Versicherungsrechtliche Aspekte
Kindsmisshandlung gilt versicherungsrechtlich als U nfall. Die Krankenkassen sind nach KVG (Art.
1, Abs. 2, Bst. b) verpflichtet, das Unfallrisiko z u übernehmen, soweit keine Unfallversicherung
dafür aufkommt. Kindsmisshandlung ist also eine Pfl ichtleistung der Krankenkasse. Da das Kind
als Versicherungsnehmer gilt (auch wenn die Eltern die Prämie bezahlen), darf die Kasse die
Kostenübernahme nicht verweigern, auch wenn sie ein schuldhaftes Verhalten der Eltern geltend
macht. Allerdings hat sie nach Art. 79, Abs. 2 das Recht, Regress auf Verwandte des Versicherten
zu nehmen, wenn der Versicherungsfall absichtlich o der grobfahrlässig herbeigeführt wurde. Der
Anspruch auf Leistungen für Hospitalisationen endet mit dem Zeitpunkt, in welchem die somatisch-
medizinische Spitalbedürftigkeit entfällt (Art. 49, Abs. 3).
Konkret ist wie folgt vorzugehen:
· Kindsmisshandlung offen als Diagnose deklarieren u nd zwar als Unfall
· Fürsorge- und Strafuntersuchungsbehörden baldmögli chst darauf aufmerksam machen,
dass die Hospitalisation nur bis zum Abschluss der Abklärungen resp. zur somatisch-
medizinischen Heilung über die Krankenkasse abgerec hnet werden kann und danach zu
Lasten dieser Behörden geht.
Stationäre Kinderschutzfälle sollten unbedingt unte r dem DRG-Komplexcode 99.A5
(komplexe Abklärung bei Verdacht/Nachweis auf Kind smisshandlung bzw.
Vernachlässigung im Neugeborenen-/Säuglings-/Kindes - und Jugendlichenalter) codiert
werden.
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6. Anhang 2: System des Kinderschutzes
Tabellarische Übersicht System des Kinderschutzes
© Christoph Häfeli, jus.haefeli@bluewin.ch
Aufenthalt 301 Abs. 3, 301a ZGB
Erziehung
302, 303 ZGB
Elterliche Sorge Gesetzliche Vertretung 304-306 ZGB Eltern
Vorname 301 Abs. 4 ZGB
Wohnsitz 25 ZGB
Kindesvermögen 318-327 ZGB
Erziehungsberatung Jugend- und Familien-
Freiwilliger Familienberatung/-therapie beratungsstellen, Jugend-
Kindesschutz Scheidungsberatung ämter, kommunale Sozialdienste
.
Massnahmen
Geeignete Massnahmen 307, 324 ZGB
Beistandschaften 308, 306 ABs. 2, 325, ZGB
310, 314b, ZGB
System des Zivilrechtlicher Entziehung der elterlichen Sorge 311, 312 ZGB Gerichte, Kindes- und
Kindesschutzes Kindesschutz Schranken des persönlichen Verkehrs 274 ZGB Erwachsenenschutzbehörde
Pflegekinderbewilligung und aufsicht 316 ZGB, PA VO Institutionen der Jugendhilfe
Verfahrensgarantien Abklärung der Verhältnisse 296 ZPO
Vertretung des Kindes 299 ZPO, 314a ZGB
Anhörung des Kindes 298 ZPO, 314 a ZGB
Bundesverfassung 11, 41 Abs. 1 BV - Jugendstrafrecht 82-100 StGB
- BG über die Betäubungsmittel
- Erwachsenenstrafrecht 111 ff, 122 ff, 127, 136, 180 ff,
- 187 ff, 213, 219, StGB
Öffentlichrechtlicher Verschiedene Behörden
Kindesschutz
- Arbeitsrecht
- Schulrecht
- Opferhilfegesetz (OHG)
- Normen betreffend Film, Literatur, Internet etc.
Internationaler Zahlreiche internationale Abkommen Zuständige Bundesstellen
Kindesschutz (z. B. Haager Minderjährigenschutzabkommen, HKsÜ Internationaler Sozialdienst
UNO-Konvention über die Rechte des Kindes von 198 9
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Markus Wopmann , Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Baden