Es gibt epidemiologische und experimentelle Daten, die einen Zusammenhang zwischen Eisenmangel ohne Anämie (EMA) und Konzentrationsstörungen, Müdigkeit, Muskelschwäche sowie Minderung sportlicher Leistungen, insbesondere beim älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen herstellen. Gewisse Studien müssen jedoch oft, auf Grund von wesentlichen confounding factors, die mit einem EM-A assoziiert sind (Evidenzgrad 1b–4), kritisch interpretiert werden. Beim Kind fallen die Daten noch heterogener aus und sind schwieriger zu interpretieren, da sie ebenfalls zahlreiche confounding factors aufweisen. Ganz allgemein dürfen demnach solche Symptome nur mit Vorsicht einem Eisenmangel (EM) zugeschrieben werden. Die Behandlung eines EM-A kann manchmal die psychomotorische Entwicklung eines Kindes verbessern, beim jungen Erwachsenen Müdigkeit vermindern und körperliche Leistungen steigern (Evidenzgrad 1b–4, Empfehlungsniveau D), obwohl zahlreiche Studien widersprüchlich sind.
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5. Die Behandlung soll immer per os begon –
nen werden. Es gib\b unseres Erach\bens
bei Pa\bien\ben mi\b EM-A keine einzige In-
dika\bion zur in\bravenösen Eisenbehand-
lung als Therapie ers\ber Wahl. Nur bei
Misserfolg einer korrek\b durchgeführ\ben
peroralen Behandlung (schlech\be Comp-
liance, ungenügende Absorp\bion) wird auf
eine iv-Behandlung übergegangen (Emp-
fehlungsniveau D).
1. Einführung
Die Prävalenz der Eisenmangelanämie ist in
westlichen \bändern relativ gering, etwas
häufiger diejenige des EM-A. In einer über
24 000 Personen umfassenden Studie
(NAHNES-Studie) fand sich im Kindes- und
Jugendlichenalter eine Prävalenz von 3% für
einen Eisenmangel mit Anämie (EM+A) und
von 9% für EM-A
1). Eine weitere Studie ergab
eine Prävalenz von 4.5% bei Kindern im Al –
ter von 3–5 Jahren und von 15.6% bei weib –
lichen Adoleszenten und jungen Frauen,
wobei der EM-A je nach Alter durch Ferritin –
werte zwischen 14 und 16.5 µg/l definiert
wurde
2).
Die Beurteilung der Eisenreserven kann
sich im Kindesalter machmal als schwierig
erweisen, da die \baborbefunde je nach Al –
ter, und vor allem bei Bestehen eines ent –
zündlichen Prozesses, sehr unterschiedlich
ausfallen. Die immunhistologische Eisenbe –
stimmung im Knochenmark ist die Stan –
darduntersuchung zur Diagnose eines EM-
A
3). Der Eingrif f ist jedoch invasiv,
schmerzhaft und wird deshalb nicht routi –
nemässig durchgeführt. Die übrigen \babor –
untersuchungen zur Beur teilung des
Schweregrades eines Eisenmangels sind in
Tabelle 1 dargestellt, angepasst nach Refe –
renz 25. Man muss wissen, dass die Anämie
ein schlechter Indikator eines Eisenman –
gels ist, insbesondere da sie oft spät ein –
tritt
4). Hämoglobin- und Ferritinwerte sind
Zusammenfassung
1. Es
gib\b epidemiologische und experimen –
\belle Da\ben, die einen Zusammenhang
zwischen Eisenmangel ohne Anämie (EM-
A) und Konzen\bra\bionss\börungen, Müdig-
kei\b, Muskelschwäche sowie Minderung
spor\blicher Leis\bungen, insbesondere
beim äl\beren Jugendlichen und jungen
Erwachsenen hers\bellen. Gewisse S\budi-
en müssen jedoch of\b, auf Grund von
wesen\blichen confounding fac\bors, die
mi\b einem EM-A assoziier\b sind (Evidenz –
grad 1b–4), kri\bisch in\berpre\bier\b werden.
Beim Kind fallen die Da\ben noch he\bero –
gener aus und sind schwieriger zu in\ber –
pre\bieren, da sie ebenfalls zahlreiche
confounding fac\bors aufweisen. Ganz
allgemein dürfen demnach solche Symp –
\bome nur mi\b Vorsich\b einem Eisenmangel
(EM) zugeschrieben werden.
2. Die Behandlung eines EM-A kann manch –
mal die psychomo\borische En\bwicklung
eines Kindes verbessern, beim jungen
Erwachsenen Müdigkei\b vermindern und
körperliche Leis\bungen s\beigern (Evidenz –
grad 1b–4, Empfehlungsniveau D), ob- wohl
zahlreiche S\budien widersprüchlich
sind.
3. Es gib\b keine einzige S\budie, welche bei
der spezifischen Indika\bion EM-A-Wir –
kung oder Sicherhei\b einer in\bravenösen
Eisenbehandlung im Kindesal\ber beleg\b (2
S\budien mi\b in\bramuskulärer Verabrei –
chung) (Empfehlungsniveau D).
4. Beim Kind/Jugendlichen mi\b EM-A und
Müdigkei\b und/oder körperlichem Leis-
\bungsabfall soll eine Eisenbehandlung nur
bei gleichzei\big \biefem Serumferri\bin er-
wogen werden. Die Grenzen der Ferri\bin –
wer\be, ab welchen ein EM in Be\brach\b
gezogen werden muss, sind nich\b mi\b Si-
cherhei\b bekann\b. Auf Grund der in den
meis\ben S\budien angegebenen Normwer –
\be und der normalen Ver\beilung der Fer-
ri\binwer\be in der Allgemeinbevölkerung
kann man wahrscheinlich ablei\ben, dass
ein Serumferri\binwer\b < 30 µ g/l bei sei\b
über 6 Mona\ben mens\bruierenden Mäd-
chen, und < 20 µ g/l bei Mädchen ohne,
oder Regelblu\bungen sei\b weniger als 6
Mona\ben sowie bei Knaben, einen gewis -
sen Eisenmangel widerspiegeln, sofern er
mi\b dieser Diagnose kompa\biblen Symp-
\bomen einhergeh\b (Empfehlungsniveau
D). Bei ausgepräg\ben Symp\bomen und
Ferri\binwer\ben im Bereich 30–50 µ g/l
wird die Si\bua\bion von Fall zu Fall beur\beil\b
werden müssen.
Eisenmangel ohne Anämie im Kindes- und
Jugendlichenalter: \bst eine intravenöse
Behandlung indiziert? Gerechtfertigt?
Systematische \biteraturübersicht, Vorschläge zu Abklärung
und Behandlung
François Cachat*, Manuel Diezi** , ***, Maja Beck Popovic** Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, \ba Chaux- de - Fonds
* Département de pédiatrie, Hôpital du Samaritain,
Vevey
** Unité d’Hémato - Oncologie pédiatrique, Départe -
ment de pédiatrie, CHUV, \bausanne, Suisse
*** Division de pharmacologie Clinique, Département
de médecine, CHUV, \bausanne, Suisse
Hb (g/dL) Ferritin (μg/L) Erythrocyte
Porphyrin (μg/dl) Transferrin
saturation (%) MCV(fl)
Normal
≥ 11> 12 < 30 > 15≥ 70
Iron depleted ≥ 11
< 12 < 30
> 15≥ 70
Iron depleted (biological) ≥ 11
< 12 > 30 < 15≥ 70
Iron depleted (biological and cellular) ≥ 11
< 12 > 30 < 15< 70
Tabelle 1: Beurteilung des Eisenmangelschweregrades bei EM-A. Die angegebenen Grenzwerte müssen im Zusammenhang mit der Klinik
interpretiert werden (abgeändert nach Referenz 25).
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alters- und geschlechtsabhängig 5)–9) . Der
Medianwert liegt im Kindesalter, ausser-
halb der Neugeborenenperiode, zwischen
20 und 30 µg/l, bleibt bei der menstruie -
renden Frau konstant, nimmt hingegen
beim Mann konstant zu, bis zu Werten um
120 µg/l. Die Ferritinwerte werden im Üb-
rigen stark durch entzündliche Prozesse
beeinflusst.
Der EM-A und seine Behandlung sind in
letzter Zeit wieder populär geworden
10), 11) .
Tatsache ist, dass ein EM-A wahrscheinlich
häufig ist, oft aber nicht oder unterdiagnos -
tiziert wird, insbesondere bei Frauen im
gebärfähigen Alter. Zudem sind die dem
EM-A zugeschriebenen Symptome mannig -
faltig und wenig spezifisch. Die Versu -
chung, sie durch Eisengabe zu korrigieren
(wobei der Kausalzusammenhang von Ei -
senmangel und Symptomen damit als Tat -
sache angenommen wird) ist deshalb gross,
möglicherweise gar übertrieben und oft
nicht auf soliden Argumenten beruhend.
Dieser Artikel untersucht im Detail, anhand
zweier klinischer Fälle, die \biteratur zum
Thema EM-A beim Kind und Jugendlichen,
dessen klinische Auswirkungen und ver-
schiedene Behandlungsformen. Zwei Tabel -
len fassen alle zu diesem Thema gefunde -
nen Studien zusammen. Um eine mühsame
Übersetzung medizinischer Fachausdrücke
zu vermeiden, haben wir die beiden Tabel -
len wissentlich in der englischen Original -
sprache gelassen. Ein Teil dieser Resultate
wurde am Kongress der SGP 2010 vorge -
stellt (Swiss Med Weekly 2010; 140: S 34–S
35).
2. \blinische Fallbeispiele
Fall 1
Eine 17-jährige Adoleszentin, mit Regelblu -
tungen seit 4 Jahren, bei guter allgemeiner
Gesundheit, klagt über Müdigkeit und (sub -
jektive) Konzentrationsschwäche und Ab -
fall der körperlichen \beistungsfähigkeit.
Der klinische Status ist normal. \baborwer-
te: Hb 125 g/l, MCV 80 fl und Ferritin
16 µg/l. Es wird eine Eisenbehandlung in
Form von 100 mg/Tag (2 mg/kg/Tag)
Eisen
3+hydroxid (Maltofer ®) verschrieben.
Bei der Kontrolluntersuchung 3 Monate
später klagt die Patientin über unveränder-
te, mässige Müdigkeit. Sie nimmt ihre Ei -
senbehandlung nur unregelmässig. Ihr Hä -
moglobinwert ist weiterhin normal, das
Serumferritin 22 µg/l. Die Mutter fragt, ob
nicht eine intravenöse Behandlung möglich wäre. Bei ihr selbst wurden zwei Eisenkurz
-
infusionen wegen einer postpartalen Anä -
mie durchgeführt.
Fall 2
Ein junger, 17-jähriger Hochleistungssport -
ler klagt über verminder te körperliche
\beistungsfähigkeit. Der klinische Status ist
normal und die \baborwerte ergeben ein Hb
von 140 g/l, MCV 85 fl und Ferritin 20 µg/l.
Er stellt die Frage nach dem Nutzen einer
peroralen oder iv-Eisenbehandlung.
3. Methodik
Literatursuche
Die systematische \biteratursuche wurde in
den Datenbanken von Medline, Cochrane,
Best Evidence, Clinical Evidence, BestBets,
NICE, AHRQ und ClinicalTrials.gov von 1966
bis 2011, mit dem Hauptthema «iron defici -
ency» durchgeführt, als Zweitangaben wur -
den «therapy» oder «drug therapy» oder
«iron» oder «ferritin» eingegeben. Medline
wurde mittels der Funktion Mesh und frei -
em Text, alle anderen Datenbanken mittels
freiem Text angefragt. Die Artikelsuche
erfolgte durch zwei Autoren (FC und MD)
unabhängig voneinander. Die in den Arbei -
ten angegebenen Referenzen wurden eben -
falls durchgesehen. Es wurden keine Auto -
ren persönlich kontaktiert. Es wurde bei
der Artikelsuche keine Altersgrenze festge -
legt, noch wurden sprachliche Einschrän -
kungen gemacht. Die Artikelsuche erfolgte
von März bis September 2009 und noch -
mals Oktober-November 2011.
Artikelauswahl
Folgende Einschlusskriterien wurden vor
Beginn der Artikelsuche festgelegt: Nur am
Menschen durchgeführte Studien, Alter 0
bis 18 Jahre inbegriffen, es besteht ein Ei -
senmangel (Definition dem Autor überlas -
sen) und es gibt eine Kontrollgruppe (ohne
Eisenmangel). Um Resultate epidemiologi -
scher Studien miterfassen zu können, haben
wir die Eisentherapie nicht als unbedingtes
Einschlusskriterium betrachtet. \beserbriefe,
Kommentare oder nicht systematische (nar -
rative) Übersichten wurden nicht berück -
sichtigt. Es wurden 831 Artikel gefunden und
deren Zusammenfassungen durchgesehen.
Auf Grund von Titel und Abstract wurden
692 Artikel ausgeschieden, 139 behielten
und analysierten wir genauer, um schliess -
lich 30, die Einschlusskriterien erfüllende
Arbeiten zu berücksichtigen. Diese Studien sind in
Tabelle 2 und 3 wie-
dergegeben.
Evidenzgrad und Empfehlungsniveau ge -
mäss Oxford Centre for Evidence-based
Medicine (Referenz: Straus SE, Richardson
WS, Glaziou P, Haynes RB. Evidence-Based
Medicine. Elsevier Churchill \bivingston,
Edinburg, 2005).
Die Studien wurden nach folgenden
Evidenzgraden (levels of evidence)
beurteilt
1a–1c: Systematische Übersichten von
kontrollierten Studien oder ran -
domisierte kontrollierte Studien.
2a–2b: Systematische Übersichten von
Kohortenstudien oder individuel -
le Kohortenstudien.
3a–3b: Systematische Übersichten von
Case- Control-Studien oder indi -
viduelle Case- Control-Studien.
4: Case-Serie-Studien.
5: Expertenmeinung.
Es gelten folgende Empfehlungs -
niveaus (grades of recommendation)
A: Empfehlung basierend auf Studien
des Evidenzgrades 1.
B: Empfehlung basierend auf Studien
Grad 2 oder 3 oder extrapoliert aus -
gehend von Studien Grad 1.
C: Empfehlung basierend auf Studien
Grad 4 oder extrapoliert ausgehend
von Studien Grad 2 oder 3.
D: Empfehlung basierend auf Studien
Grad 5, auf nicht schlüssigen Studien
oder solchen mit gehaltlosen Resul -
taten.
4. Resultate
Analyse der relevanten Literatur
zum EM-A, dessen Symptome und zur
Wirkung einer Eisenbehandlung
A. Kognitive und neurologische
Leistungsfähigkeit
In mehrere Studien wird bei Kindern mit
EM± A , im Vergleich zu gleichaltrigen Kin -
dern mit adäquaten Eisenreser ven, eine
signifikant verzögerte Entwicklung festge -
stellt, meist mittels der Bayley Scale of
Infant Development (BSID) beur teilt
12).
Dieser Unterschied wird manchmal schon
vor jeglicher Inter vention beobachtet (epi -
demiologische Transversalstudien)
13), 14) .
Andere Arbeiten er wähnen eine Besse -
rung oder gar vollständiges Aufholen des
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