Einleitung
Kinder und Jugendliche, die körperliche, sexuelle oder psychische Übergriffe erleiden, sind in ihrer Entwicklung gefährdet. Unter Übergriffen verstehen sich nicht nur sexuelle Handlungen, sondern auch körperliche und psychische Übergriffe wie z. B. inadäquate Bestrafungen, wiederholte medizinische Handlungen mit ungenügender Schmerzmedikation etc.
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Einleitung
Kinder und Jugendliche, die körperliche, sexu –
elle oder psychische Übergriffe erleiden, sind
in ihrer Entwicklung gefährdet.
Unter Übergriffen verstehen sich nicht nur se
–
xuelle Handlungen, sondern auch körperliche
und psychische Üb er g r if fe w ie z . B . inadäquate
Bestrafungen, wiederholte medizinische Hand
–
lungen mit ungenügender Schmerzmedikation
etc.
Übergriffe in Kinderspitälern sind ein Thema,
dem bis anhin nur wenig Beachtung geschenkt
wurde. Auch wenn keine gesicherten Angaben
zum Ausmass von Übergriffen in Kinderspitä
–
lern vorliegen, so muss davon ausgegangen
werden, dass sie vorkommen.
Aus v ielen Unter suchungen is t b ekannt , das s z.
B. Pädosexuelle gezielt berufliche und ehren
–
amtliche Tätigkeiten wählen, die ihnen den
Kontakt zu Kindern und Jugendlichen ermögli
–
chen. Als TäterInnen kommen erwachsene
Frauen und Männer in Frage, die unterschiedli
–
che Aufgaben in einer Institution erfüllen.
Jedes Kinderspital soll über ein Leitbild verfü
–
gen, in dem u. a. auch die Aufgabe aufgeführt
ist, Kinder vor Übergriffen durch Mitarbeitende
zu schützen. Dieses soll allen Interessierten
zugänglich und für alle Mitarbeitende verbind
–
lich sein.
Ein Kinderspital kann durch verschiedenste
Massnahmen die Wahrscheinlichkeit eines
Übergriffes vermindern. So sollte bereits bei
der Einstellung signalisiert werden, dass in der
betreffenden Institution ein Problembewusst
–
sein vorhanden ist und nicht gezögert wird,
diesbezüglich entsprechende Interventionen
und gesetzliche Schritte zu tätigen. Sorgfältige
Auswahlverfahren bei allen Angestellten eines
Spitals bieten zwar keinen vollständigen Schutz
vor Übergriffen, vermindern aber deren Risiko.
Darüber hinaus ist jede Institution verpflich-
tet, Hinweise oder Verdachtsmomente ernst
zu nehmen, interne Anlaufstellen oder Perso –
nen zu ernennen und Abläufe und Zuständig –
keiten klar zu regeln. Es gilt, für Opfer und
meldende Personen die Hemmschwelle, aktiv
zu werden, möglichst gering zu halten.
Der Umgang mit Übergriffen in
Kinderspitälern *
Empfehlungen der Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen
Kinderkliniken
**
* gemeint sind Kinderspitäler sowie Kinderabteilungen in Spitälern ** M. Caflisch, Pädiatrie HCU Genf, T. Guidi Margaris, Pädiatrie St. Gallen, E. Lagler, ehemals Pflegedienst St. Gallen, D. Münger, Kinderpsychiatrie Baden/Aarau, R. Schla-
ginhaufen, Sozialdienst Zürich, R. von der Heiden, ehemals Pädiatrie Winterthur
Die Fachgruppe Kinderschutz der schweize –
rischen Kinderkliniken, eine Fachgruppe der
Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie
(SGP), hat sich bereits vor einigen Jahren
mit der Thematik der Übergriffe in Kinder –
spitälern auseinandergesetzt.
Aus der Literatur und von verschiedenen
Berufsgruppen ist bekannt, dass Übergriffe
auf Patienten vorkommen. In der Literatur
finden sich zahlreiche Artikel, die sich mit
dieser Thematik auseinandersetzen. Ver –
schiedene medizinische Gesellschaften ha –
ben in den letzten Jahren Empfehlungen zu
dieser Thematik herausgegeben.
Unter Übergriffen verstehen sich nicht nur
sexuelle Handlungen, sondern auch körper –
liche und psychische Übergriffe.
In pädiatrischen Bereichen, z. B. Kinderkli –
niken w ur de diesem T hema f r üher nur wenig
Beachtung geschenkt. Es bestehen keine
gesicher ten A ngab en üb er das Ausmas s von
Übergriffen durch Mitarbeitende in Kinder –
spitälern, aber es muss davon ausgegangen
werden, dass sie vorkommen.
Während einige sozialpädagogische oder
psychotherapeutische Institutionen über
Empfehlungen oder Vorkehrungen zum
Schutz der Kinder und Jugendlichen verfü –
gen, gab es in Kinderspitälern meist keine
oder nur marginale Empfehlungen.
Aufgrund dieser Gegebenheiten erarbeitete
eine Arbeitsgruppe
** der Fachgruppe Kin -derschutz der schweizerischen Kinderklini
–
ken Empfehlungen zum Thema «Der Um –
gang mit Übergriffen in Kinderspitälern» (s.
Anhang) .
Die Empfehlungen haben zum Ziel, dass sich
Klinikleitungen und Mitarbeitende mit der
Thematik auseinandersetzen und Massnah –
men zum Schutz umsetzen. Der Schutz des
Kindes vor Übergriffen durch Mitarbeitende
sollte Bestandteil des Leitbildes sein und
damit für alle verbindlich. Die Einleitung und
Umsetzung von notwendigen Massnahmen
zur Prävention und Abklärung liegen im
Verantwortungsbereich der Klinikleitung.
Aufgrund der verschiedenen regionalen und
klinikbedingten Voraussetzungen sollen die
Massnahmen entsprechend angepasst wer –
den.
Zwischenzeitlich haben die Mehrzahl der
Kinderspitäler und Kinderabteilungen klini –
kinterne Empfehlungen erarbeitet und in
Kraft gesetzt.
Die Empfehlungen wurden im Jahr 2011 von
der Schweizerische Gesellschaft für Pädia –
trie (SGP) anerkannt. Die Schweizerische
Gesellschaft für Kinderchirurgie (SGKC) hat
die Empfehlungen im Jahr 2014, die Schwei –
zerische Gesellschaft für Kinder- und Ju –
gendpsychiatrie und –Psychotherapie
(SGKJPP) im Jahr 2015 anerkannt.
Die Fachgruppe möchte anhand des Artikels die Thematik in Erinnerung rufen.
20Kindennr inunndJgl
20Kinder un
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Prävention
Im Zentrum der Prävention steht stets das
Kindswohl, d. h. die persönliche Privatsphäre
des Kindes und Jugendlichen, welche im Sinne
einer gesunden Entwicklung respektiert wer-
den muss.
Die Einleitung und Umsetzung von notwendi –
gen Massnahmen zur Prävention liegt im
Verantwortungsbereich der Klinikleitung.
Allgemein
Aus dem Leitbild und/oder anderen Unterla –
gen soll klar ersichtlich sein, dass die Institu –
tion über ein Problembewusstsein verfügt und
somit Übergriffe jeglicher Art nicht toleriert.
Diese Informationen sowie die weiteren
Schritte sollten allen zugänglich sein. Ebenso
sollen regelmässig Fortbildungen durchge –
führt werden, bei denen eine offene Bespre –
chung der Problematik möglich ist.
Anstellung
Im Anstellungsgespräch soll das Thema der
Übergriffe besprochen werden, ev. begleitet
durch die Abgabe eines Merkblattes. Zusätz –
lich kann es fester Bestandteil des Einfüh –
rungstages sein. Dem Bewerber soll klar
werden, dass die Institution ein Problembe –
wusstsein hat und bei Fehlverhalten entspre –
chende Massnahmen ergreifen wird.
Empfohlen wird bei jeder Anstellung das Ein –
fordern eines Strafregisterauszugs sowie voll –
ständiger und lückenloser Arbeitszeugnis –
se. Ebenfalls könnte eine separat aufgestellte
Bestätigung unterschrieben werden, in denen
der Bewerber bestätigt, dass nie bezüglich
solcher Vergehen ermittelt wurde.
Spitalinterne Strukturen
Nur transparente Strukturen ermöglichen
eine offene Darlegung der Problematik. Jeder
Angestellter darf/soll melden, unabhängig
von Position und ausserhalb des Dienstwe –
ges.
Jedes Spital soll über verbindliche Regelungen
verfügen, die z. B. den Umgang mit schmerz –
haften Eingriffen regeln (Bsp.: Inadäquate
Anzahl Versuche beim Legen von Infusionen,
Lumbalpunktionen, Blutentnahmen etc.).
Ebenfalls sollen spezielle Untersuchungssitu –
ationen geregelt werden, wie z. B. die Unter –
suchung von Jugendlichen inkl. gynäkologi –
scher Status, pflegerische Verrichtungen wie
z. B. Körperpflege bei Kindern und Jugendli –
chen, Fixation/Isolierung von Kindern und Jugendlichen (Bsp.: zum Schutz von Infusio
–
nen, bei suizidalen oder aggressiven Patien –
ten).
Mitarbeitende
An Rapporten und Sitzungen sollten schwie –
rige oder besondere Situationen mit Kindern
und Jugendlichen laufend besprochen wer –
den. Durch regelmässige interne Weiterbil –
dungen sollte die Sensibilität für das Erkennen
von Übergriffen wach gehalten werden.
Risikosituationen sollen besonders berück –
sichtigt werden, z. B.:
Situationen mit höherem Machtgefälle und/
oder Abhängigkeit zwischen Mitarbeitenden
und Kind, chronisch kranke Langzeitpatien –
ten, verhaltensauffällige Kinder und psychisch
belastete, emotional bedürftige Kinder, unbe –
obachtete Situationen/Nachtschicht, Injekti –
onen/Manipulationen am Kind. Die Abteilun –
gen sollen diesbezüglich individuelle
Verhaltensregeln erarbeiten.
Kinder und Eltern
Eltern sollen jederzeit Zugang zum Leitbild
und den Meldemöglichkeiten haben.
Vorgehen
Vorgehen bei und Umgang mit Ver –
dacht
Die Beurteilung und Abklärung eines Verdach –
tes sollte immer durch eine externe Fachstel –
le erfolgen. Diese kann je nach regionalen
Gegebenheiten z. B. die Kinderschutzgruppe
eines anderen Spitals, eine Regionalstelle
Kinderschutz, ein Jugendamt oder ein Kinder –
schutzzentrum sein.
Intern sollte eine Fachperson und deren Stell –
vertreterIn (z. B. LeiterIn Kinderschutzgruppe
etc.) ernannt werden, welche die Meldungen
erhält und weiterleitet.
Meldung
Mitarbeitende müssen verpflichtet werden,
Kenntnisse über Fehlverhalten von Mitarbei –
tenden gegenüber Abhängigen unverzüglich
mitzuteilen. Die Beobachtungen sollen doku –
mentiert werden (Kurzbeschreibung der Situ –
ation aus Sicht des Melders) und an die dafür
ernannte Fachperson weitergeleitet werden.
Auch eine anonyme Meldung ist möglich, er –
schwert aber die Abklärung und Beurteilung
der Situation.
Die Fachperson, die die Meldungen weiterlei –
tet, informiert den Chefarzt/Klinikleitung über die laufenden Abklärungen. Die beschul –
digte Person wird im Verlauf ebenfalls über
den Ablauf der Abklärungen informiert.
Beurteilung – Massnahmen
Die Beurteilung erfolgt durch die externe
Fachstelle, das Einleiten notwendiger Schritte
nach Absprache entweder durch die externe
Fachstelle oder durch die Klinikleitung, dies
unter Wahrung der Rechte aller Beteiligten.
Die externe Fachstelle informiert die interne
Fachperson über das Resultat der Abklärun –
gen und die weiteren notwendigen Massnah –
men. Diese Fachperson informiert den Chef –
arzt/Klinikleitung.
Ergibt die Abklärung, dass der Verdacht nicht
erhärtet werden kann, wird die Angelegenheit
mit einer vertraulichen Aktennotiz abge –
schlossen. Die beschuldigte Person wird dar –
über informiert und erhält eine Kopie der
Aktennotiz.
Der/die Betroffenen und deren Angehörige
werden ebenfalls über die Abklärungsresulta –
te informiert.
Liegt ein schwerwiegendes Verhalten vor, so
erfolgt die Einleitung notwendiger personal –
rechtlicher oder strafrechtlicher Massnahmen
durch die Klinikleitung, dies unter Wahrung
verfahrensrechtlicher Vorgaben.
Ebenfalls erfolgt die Information und Einlei –
tung notwendiger Massnahmen zur Unterstüt –
zung betroffener Personen/Familien.
Korrespondenzadresse
Dr. med. Tamara Guidi Margaris
Stv. Chefärztin Allg. Pädiatrie
Leiterin Kinderschutzgruppe
Ostschweizer Kinderspital
Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen
tamara.guidi @ kispisg.ch
20Kindennr inunndJgl
20Kinder un
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Tamara Guidi Margaris , Stv. Chefärztin Allg. Pädiatrie, Leiterin Kinderschutzgruppe, St. Gallen