Der Kinderarzt als Mundhygiene- Sachverständiger?
Zahnpflege ist der bei Kindern am wenigsten beachtete Gesundheitsfaktor. Es gibt dafür mehrere Erklärungen:
• Es handelt sich nur ausnahmsweise um eine lebenswichtige Frage.
• Die allgemeine Verbesserung der Mund und Zahngesundheit während der letzten Jahrzehnten dämpft das Interesse für diese Probleme.
Um Zahnkrankheiten des Kindes frühzeitig zu erkennen und zu behandeln, ist eine Verbesserung der während der Ausbildung erworbenen zahnmedizinischen Kenntnisse der Grundversorger notwendig.
Dieser Beitrag bespricht zahnmedizinische Probleme, denen der Kinderarzt häufig begegnet sowie deren praktische und durch Fachliteratur validierte Betreuung.
F o r t b i l d u n g / F o r m a t i o n c o n t i n u e
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Vol. 21 No. 1 2010
Einführung
Der Kinderarzt als \.Mund hygiene-
Sachverständiger?
Zahnpflege ist der bei Kindern am wenigsten
beachtete Gesundheitsfa\Kktor 1).
Es gibt dafür mehre\Kre Erklärungen:
• Es handelt sich nur ausnahmsweise um
eine lebenswichtige Frage.
• Die allgemeine Verbesserung der Mund-
und Zahngesundheit während der letzten
Jahrzehnten dämpft das Interesse für
diese Probleme.
Störungen der Mund- und Zahngesundheit
haben wesentliche Folgen: Kau-, Sprech-,
Schlaf- und Konzentrationsstörun\Kgen, Be –
einträchtigung des Aussehens und des
Selbstbildnisses usw. Tückisch sind manch –
mal die langfristigen Folgen: Das Gewicht
von Kindern mit Mehrfachkaries liegt 25%
oder mehr unter dem Normalgewicht Gleich –
altriger. Sie sind auch kleiner als Kinder
ohne Karies
2). Wegen Karies verpassen
5–17-jährige Amerikaner jährlich 1.6 Millio –
nen Schultage
3).
Gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sta –
tus beeinflussen die Mundgesundheit
4). In
dieser Hinsicht haben benachteiligte Kinder
12-mal mehr Schulabsenzen wegen Zahn –
problemen als besser gestellte Kinder. Ein
Grund ist der erschwerte Zugang zur Zahn –
pflege: Sozial benachteiligte Kinder suchen
2-mal weniger häufig den Zahnarzt auf als
besser gestellte
5).
Weil Krankenkassen wohl die Kosten für den
Besuch des Grundversorgers, aber nicht des
Zahnarztes übernehmen, wenden sich die
Familien lieber an den Kinder- oder Hausarzt
als an den Zahnarzt: 85% der 1–4-jährigen
Kinder sind mindestens einmal beim Grund –
versorger aber nur 20% sind beim Zahnarzt
gewesen
6).
Die Kinderärzte können also zur Förderung
von Mund- und Zahngesundheit beitragen. Wir wissen jedoch so gut wie nichts über
die tägliche Praxis: Wie und in welchem
Alter werden Zähne untersucht, und welche
Auswirkung hat dies
7)? So antworten 90%
der befragten Kinderärzte, beim Erkennen
von Mund- und Zahnproblemen sowie bei
der Beratung der Familien eine wichtige
Rolle zu spielen. 50% jedoch antworten,
während ihrem Studium keine zahnmedizini –
sche Ausbildung erhalten zu haben. Nur 9%
beatworten 4 Fragen zu zahnmedizinischen
Grundkenntnissen korrekt
8).
Diese Situation kann ohne grossen Aufwand
verbessert werden: Nach nur 4 Stunden
gezielter Ausbildung können Kinderärzte
eindeutige Karies mit 76 bis 100%iger und
Kinder ohne Karies mit 87 bis 95%iger Treff –
sicherheit erkennen
7), 9) .
Um Zahnkrankheiten des Kindes frühzeitig
zu erkennen und zu behandeln, ist eine
Verbesserung der während der Ausbildung
erworbenen zahnmedizinischen Kenntnisse
der Grundversorger \Knotwendig
10), 11) .
Dieser Beitrag bespricht zahnmedizinische
Probleme, denen der Kinderarzt häufig be –
gegnet sowie deren praktische und durch
Fachliteratur validier\Kte Betreuung.
Gebiss … Gebisse
Ober- und Unterkiefer umfassen je 10 Milch –
zähne (Abb. 1). Die Bildung der Zähne ist
lange vor ihrem Durchbrechen abgeschlos –
sen, die Mineralisation der Gewebe beginnt
zwischen dem 4. und 6. Schwangerschafts –
monat.
Der Durchbruch findet zwischen dem Alter
von 6 und 33 Monaten statt (Abb. 1). Die
engültigen Zähne erscheinen ab dem Alter
von 6 Jahren.
Die Milchzähne beteiligen sich bis zum
Alter von 6 Jahren an der Entfaltung des
Gesichtes durch Formung und Erhalt des
Umfangs des unteren Gesichtsteils. Sie
erhalten den notwendigen Raum und leiten
die bleibenden Zähne, sie spielen damit
Der Kinderarzt und die Zähne der
Kleinsten
Kahina Bouferrache, Sabina Pop, Marcelo Abarca, Carlos Madrid
Abteilung für Mund- und Zahnmedizin, Medizinische Poliklinik Universität Lausanne
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
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Kinderarzt und Karies
Abb. 2 fasst die für die Kariesbildung verant –
wortlichen biologischen Wechselwirkungen
zusammen
23). Die Säureproduktion kario –
gener Bakterien senkt den pH des Spei –
chels unter 5.5. Bei diesem kritischen Wert
vor dem 9. Monat, im Mittel zwischen dem
12. und 20. Monat.
Bei Jugendlichen wurde eine Korrelation
zwischen Milchzahnverlust/Erscheinen der
bleibenden Zähne und Eiweissmangel im
Kleinkindsalter festgestellt; sowohl Verlust
der Milchzähne als auch Durchbruch der
bleibenden Zähne sind verzögert
18).
… und lokale Ursachen
Ein endgültiger Zahn soll 3 Monate nach
dem Durchbruch des entsprechenden kon –
tralateralen Zahns erscheinen. Es muss
nach der Ursache jeder Verspätung gesucht
werden. Tabelle 1 gibt Hinweise und zeigt
die wichtigsten diagnostischen Möglichkei –
ten auf, sowie die Empfehlungen, die der
Kinderarzt der Familie bezüglich Behandlung
geben kann
13), 14), 19), 20) .
Mechanische Behinderung ist eine häufige
Ursache für verspätetes Zahnen. Bei 28–
60% der Personen mit einem überzähligen
Zahn kommt es zu verzögertem Zahndurch –
bruch
21). Anlass kann auch ein cystischer
oder solider Tumor sein, meist odontogen
und gutartig, der einem oder mehreren
Zähnen im Wege steht. Dessen Entfernung
genügt meist, den normalen Durchbruch zu
ermöglichen (Abb. 3).
Die Infektion eines Milchzahns kann zur Zer –
störung des darunter liegenden Zahnspros –
ses führen. Die frühzeitige Entfernung eines
Milchzahns führt zu Wachstumsstörung des
Kiefers und damit Störung beim Durchbruch
der bleibenden Zähn\Ke
22).
bei deren Durchbruch eine entscheidende
Rolle. Ohne Zahndurchbruch und ohne sti
–
mulierende Wirkung durch die Milchzähne
ist ein normales Ausbilden der knöchernen
Zahnfächer nicht möglich.
Durchbruchstörungen:
«Herr Doktor, mein Kind hat\.
keine Zähne!»
Es besteht eine erhebliche Streubreite
bezüglich Zeitpunkt und Reihenfolge des
Zahndurchbruches. In der Praxis werden
oft Abweichungen vom «normalen» Ablauf
beobachtet
12). Der frühzeitige Durchbruch
hat meist keinerlei klinische Bedeutung 13).
Man spricht von verzögertem Durchbruch,
die häufigste Variante, wenn das Erscheinen
eines Milchzahns 6 Monate und eines dau –
erhaften Zahns 1 Jahr nach dem erwarteten
Durchbruch stattfindet. Verzögerter Zahn –
durchbruch kann lokale oder systemische
Ursachen haben
14).
Einige systemische Ursachen …
Wachstumsverzögerung bei Frühgeborenen
ist eine mögliche Ursache von verspäte –
tem Durchbruch der bleibenden Zähne
15).
Ebenso können endokrine Störungen (Hy –
pothyreose, Hypopituitarismus, Hypopa –
rathyreoidismus) dazu führen
13), 16), 17) . Das
Downsyndrom ist das repräsentativste
mit verzögertem Zahnen einhergehende
Missbildungssyndrom. Der erste Milchzahn
erscheint bei betroffenen Kindern selten
Abbildung 1: Durchbruchkalender und Milchzahnformel
Oberkiefer
Unterkiefer
8–12 Monate
6–10 Monate
10–16 Monate 17–23 Monate 14–18 Monate 9–13 Monate
16–22 Monate
13–19 Monate
25–33 Monate
23–31 Monate
Abbildung 2:
Karies ist partiell reversibel: Ist die zucker- und bakte –
rienbedingte Entmineralisierung (eventuell verstärkt durch das saure
pH von Sodas und Energiedrinks) nicht allzu weit vorgeschritten
(Zeitfaktor), kann der Vorgang durch das Zusammenwirken von
Fluor, Speichelimmunglobulinen, \KVerhinderung pathogener Einwir-
kungen durch Hygiene und die Zufuhr von Kalcium in der Nahrung
rückgängig gemacht werden.
Bakterien +
Zucker Speichel +
Fluor +
Hygiene +
Ausgeglichene
Ernährung
Zeit
Säureproduktion Ig + F + Ca++
Entmineralisierung Mineralisierung
Abb. 3: Komplexes Odontom, auf der Durch-
bruchbahn des Zahns 44. Man beachte das
Fortbestehen des 84, obwohl die Wurzel
resorbiert ist.
mittlerer Schneidezahn
mittlerer Schneidezahn seitlicher Schneidezahn
seitlicher Schneidezahn Eckzahn
Eckzahn erster Molar
erster Molar zweiter Molar
zweiter Molar
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defekt, dessen Härte normal ist, der aber
Risse aufweist oder dünner als normal ist 34)
(Abb 5) . Zu den Risikofaktoren der Schmelz –
hypoplasie gehören Frühgeburt und tiefes
Geburtsgewicht
33).
Ernährung: CocaCola oder … Kuhmilch
Saccharose wird als einziger Zucker zu
Dextranen, die die Adhäsion der Bakterien
begünstigen, abgebaut und ist damit das
hauptsächlichste kariogene Nahrungsmittel.
Nach heutigen Kenntnissen scheint die Häu-
figkeit wichtiger als die Gesamtmenge der
Saccharoseereinnahme. Bezüglich frühzeiti –
ger Karies beim Kind (siehe Schoppenkaries:
Eine ungleichmässig verteilte Plage) hat die
gesamthaft eingenommen Zuckermenge
keinen prädiktiven Aussagewert, hingegen
wohl die Häufigkeit der Zuckereinnahme:
Wiederholter Zuckergenuss liefert ein kon –
tinuierliches Substrat und begünstigt das
Auftreten einer kariogenen Mundflora
36).
Häufiger Zuckergenuss ist auf Naschen oder
freien Zugang zu Sodagetränken, die zudem
durch ihren Gehalt an Phosphorsäure ein
tiefes pH aufweisen\K, zurückzuführen.
kommt es zur Auflösung von Hydroxyapatit
im Zahnschmelz. Diese Entmineralisation
leitet die Kariesbildung ein.
Dem gegenüber tragen im Speichel enthal
–
tene Kalzium, Phosphat und Proteine, topi –
sches Fluor und adäquate Entfernung von
Zahnplaque zur Remineralisation (Abb. 2)
bei. Tritt diese früh genug ein, kann die Ka –
riesbildung gehemmt \Kwerden.
Übertragung Mutter-Kind
Die meisten Eltern verkennen die Über-
tragbarkeit der Karies und geben zu, die
Nahrung ihres Kindes zu kosten, Tafel –
gedeck gemeinsam zu benutzen oder es
auf den Mund zu küssen
24). Streptococcus
mutans (SM) spielt bei Kariesbildung eine
zentrale Rolle
25), 26), 27) . Gängiger Bewohner
der Mundhöhle, ist SM von Mund zu Mund
übertragbar. SM ist im Mund des Kindes
von Geburt bis zum Durchbruch des ersten
Zahnes natürlicherweise abwesend und wird
vertikal von der Muter auf das Kind über-
tragen
28), 29), 30) . Die horizontale Übertragung
Vater-Mutter kann ebenfalls zu einer sekun –
dären vertikalen Mutter-Kind-Übertragung
führen
31).
Die Übertragungsweise ist banal: Im Mund
«reinigen» des Nuggi oder durch Brei, den
die Mutter gekostet hat.
Diese Übertragung ist dosisabhängig :
Mütter mit einer Speichelkonzentration
an SM von über 10
6/ml haben eine Über –
tragungsrate von über 50% (10–16-mona –
tige Kinder) verglichen mit nur 30% bei
einer Speichelkonzentration an SM von
10
3/ml 28). Mütter mit vorangegangener Karies, Zahn
–
fleischkrankheit, tiefem Ausbildungs- und
sozio-ökonomischem Niveau sowie solche,
die häufig naschen, haben ein grösseres
Übertragungsrisiko
32), 33) . Um der Übertra –
gung vorzubeugen, gehört deshalb zu jedem
mund- und zahnhygienischem Präventions –
programm die Mundpflege der zukünftigen
Mütter.
«In unserer Familie hat man schlechte
Zähne»
Wie wichtig ist die individuelle Empfindlich –
keit tatsächlich?
Die Eigentümlichkeiten der harten Gewebe
des Kindes können in Bezug auf Kariesri –
siko eine entscheidende Rolle spielen. Die
Härte des Zahnschmelzes stellt eine erste
Schranke gegen Karies dar. Veränderun –
gen von Härte oder Zusammensetzung des
Zahnschmelzes können diese schützende
Wirkung mindern. Die Hypomineralisation \K
ist ein seltener qualitativer Defekt des
Zahnschmelzes (Abb. 4), der als Verände –
rung der Lichtdurchlässigkeit imponiert. Die
Hypoplasie ist ein quantitativer Schmelz –
Zahnen: Das Ende eines Mythos
Dem Zahnen wurden 1839 in England 5016 kindliche Todesfälle zugeschrieben; es war damit die
Todesursache bei 12% der Kinder unter 4 Jahren! Was bleibt von diesem Mythos? Wake schreibt
2009: «Das Zahnen ist, wie die Koliken, einer jener non-evidence based Begriffe, für welche Eltern
die meisten Ratschläge bekommen …».
Gewisse Kinder haben mit dem Zahnen mehr Schwierigkeiten als andere. Die Eltern können bei
ihrem weinerlichen und mürrischen Kind eine Verfärbung der Schleimhaut im Bereich eines durch –
brechenden Zahnes feststellen. Es kann dort eine weiche, bläuliche Schwellung auftreten (Abb.
10), ein sogenanntes «Durchbruchshämatom oder -cyste» genannt. Durch lokale Reizung hat sich
die Follikeltasche mit Blut gefüllt\K.
Die Grösse des Hämatoms hängt von der Grösse und Anzahl der beteiligten Zähne ab, es ist
schmerzlos und platzt spontan mit dem Durchbrechen des Zahnes. Die Eltern können beruhigt
werden. Chirurgisches Eröffnen ist s\Kelten notwendig.
Das Zahnen wird für Fieber, Ausschläge, Appetitmangel, Schlafstörungen, Infekte, Durchfall, Bron –
chitis und sogar Krämpfe verantwortlich gemacht. Im gleichen Alter nimmt aber auch die passive,
durch mütterliche Antikörper bedingte Immunität ab und das Kind ist vermehrt Infektionskrank –
heiten ausgesetzt. Dieses chronologische Zusammenfallen stiftet Verwirrung: Das Zahnen wird
mit einem mildem Verlauf solcher Krankheiten ver\Kwechselt.
Die verfügbaren Studien zeigen keinen oder einen nur unerheblichen Zusammenhang zwischen
Zahnen und den diesem Ereignis zugeschriebenen Allgemeinsymptomen. \K Der Glaube, dass das
Zahnen systemische Symptome verursachen kann, ist wahrscheinlich unbegründet; möglich sind
lokale Symptome und lei\Kchtes Fieber.
Das Kauen eines kalten Ringes wirkt durch die hervorgerufene Vasokonstriktion und das Knabbern
lindernd.
Spezielle für das Zahnen gedachte Biscuits oder tiefgefrorene Nahrung (Gemüse) können nach
demselben Prinzip wirken. Sie sollen jedoch bei Kindern, die noch keine feste Nahrung bekommen,
nicht verwendet werden. Stark zuckerhaltige Nahrungsmittel sind nicht empfehlenswert. Das Kind
soll überwacht werden, da sich Nahrungsteilchen lösen können.
Paracetamol und Ibuprofen können schmerzlindend wirken. Benzocain ist das beim Zahnen am
häufigsten im Eigengebrauch verwendete Mittel. Es soll jedoch wegen des relativen Methämoglo –
binämierisikos mit Vorsicht verwendet werden.
Schema 1
Abb. 5: Zahnschmelzhypoplasie – 6-jährig
Abb. 4: Hypomineralisierung\K des Zahn –
schmelzes – 8-jährig
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beruhigen, bekommen sie einen Schoppen
und die Karies geht erst richtig los 42), 43) .
Stillen auf Verlangen des Kindes und lang –
dauernd, insbesondere nachts, wird eben –
falls als Kariesursache in Betracht gezogen.
Ohne die vielen Vorteile des Stillens abzu –
streiten
44), empfiehlt die American Pediatric
Association, es zu vermeiden, das Kind mit
einem Schoppen ins Bett zu legen und, nach
dem Durchbrechen des ersten Zahnes, auch
auf das nächtliche Stillen zu verzi\Kchten.
Prävention: Empfehlungen des\.
Kinderarztes
Frühzeitige Hygien\äe!
Die Eltern müssen die Zahn- und Mundhygi –
ene ins Tagesprogramm aufnehmen und den
Kindern dabei beistehen. Bis zum Alter von
Kuhmilch, täglich mehrmals eingenommen,
wird ebenfalls verdächtigt, durch Laktosezu
–
fuhr Karies zu begünstigen
37)! Unter normalen
Ernährungsbedingungen wird Milch nicht als
kariogen betrachtet
38), 39) . Laktose ist weniger
vergärbar als andere Zucker, zudem hemmen
Milchproteine die Auflösung des Zahnschmel –
zes und in der Milch enthaltene antibakterielle
Wirkstoffe die Entwicklung der kariogenen
Mundflora
40). Während des Schlafes ist der
physiologische Speichelfluss und dessen
Pufferwirkung jedoch vermindert. Bekommt
das Kind nachts oder während dem Nach –
mittagsschlaf einen Milchschoppen, bleiben
Milchresten und damit während längerer
Zeit vergärbare Zucker auf den Zähnen
41). Es
kommt zur sogenannten Schoppenkaries,
und es bildet sich ein Teufelskreis: Kinder mit
Mehrfachkaries schlafen schlecht, um sie zu
Ein Karieskalender für \.das Kind?
Im Verlaufe der Kindhei\Kt, bis zum Abschluss des Wachstums, bestehen 3 \KRisikoperioden.
Kleinkindesalter: Verantwortlich ist der Kinderar\äzt
Im Verlaufe des Kleinkindesalters ist der Schoppen der wichtigste Risikofaktor für Karies, abhängig
von kulturellen Gewohnhei\Kten und sozialem und\K Erziehungsniveau d\Ker Eltern.
Unabhängig von diesen Umständen, können Kinderärzte und Pharmaindustrie jedoch für das
Entstehen von frühzeitiger Karies mitverantwortlich sein. Kinder mit chronischen Krankheiten, die
saccharosehaltige Medikamente erhalten, oft kurz vor dem Zubettgehen und ohne entsprechende
Mundhygiene, sind diesem Risiko ausgesetzt. Eine brasilianische Studie zeigt, dass die Mehrzahl
der analysierten pädiatrischen Medikamente ein für die Auflösung des Zahnschmelzes kritisches
pH (5.5) und einen \Kerhöhten Zuckergehalt (11.21 bis 62.46%!) aufw\Keisen.
Erster bleibender Zahn
Das Durchbrechen des ersten bleibenden Molars (6 Jahre) stellt ebenfalls einen Meilenstein dar.
Die Handfertigkeit des Kindes ist noch begrenzt, die elterliche Kontrolle lässt nach und diese Zähne
sind schlecht sichtbar. Beim Durchbruch ist der Zahnschmelz noch unreif und deshalb anfälliger
für bakterielle Angriffe.\K
Schwierige Jugendliche
Der Jugendliche stellt die Mund- und Zahnhygiene und deren «institutionellen» Charakter in Frage. In
diesem Alter nimmt auch das Knabbern zu, die Ernährung ist oft wenig ausgeglichen, oft bestehen gar
ernsthafte Ernährungsstörungen, alles wichtige Risikofaktoren für die Mund- und Zahngesundheit.
Schoppenkaries: Eine ungleichmässig verteilte \.Plage
Schoppensyndrom oder Mehrfachkaries des Kleinkindes wird ein Befall der Milchzähne des
Kleinkindes (71 Monate oder darunter) genannt, deren Ursprung im längerdauernden und/oder
nächtlichen Trinken eines Schoppens mit zuckerreichen Getränken (Icetea, Sodas) oder Milch zu
suchen ist.
Klinisches Bild und Verlauf sind typisch: Frühzeitige, schon im ersten Lebensjahr auftretende, pro –
gressive Karies im Bereich der Schneidezähne des Oberkiefers, dann der oberen und unteren Milch –
molaren sowie der oberen, seltener der unteren Eckzähne (je nach Reihenfolge ihres Erscheinens).
Die unteren Schneidezähne sind im Allgemeinen nicht befallen, einerseits dank der Nähe der
sublingualen Speicheldrüsen, andererseits weil sie beim Schoppentrinken durch Lippe und Zunge
zugedeckt werden (Abb. 6).
Es ist eine ungleichmässig verbreitete Plage: In einer kürzlich in Winterthur durchgeführten Studie
wiesen15% der Schweizer Kinder gegenüber 65% aus dem Balkan stammenden Kindern schwere
Karies auf.
Der Kinderarzt ist oft die einzige Medizinalperson, die Kinder unter 3 Jahren untersucht und ist
deshalb am ehesten \Kin der Lage, diese\Kr verheerenden Kran\Kkheit vorzubeugen.
Abb. 6: Schoppenkaries. Man beachte den
fast vollständigen Verlust der Schneide- und
Eckzähne sowie den Befall der Backenzähne
des Oberkiefers; pathognomonisch ist der
gleichzeitige, überraschende Erhalt der Un –
terkieferzähne.
Abb. 7: Open bite oder Auseinanderklaffen \K
der vorderen Zähne im Zusammenhang mit
Daumenlutschen
Abb. 10: Hämatom bei Zahndurchbruch
Abb. 8: Cross bite rechts (Umkehr des nor-
malen Bisses)
Abb. 9: Overjet. Nach vorne ausladende
Schneidezähne des Obe\Krkiefers
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im peridentalen Raum während der Zahn-
keimbildung und folglich von der täglichen
Fluoreinnahme
47). Die Fluoroseschäden sind
vor allem ästhetischer Natur und reichen
von einer leichten weisslichen Sprenkelung
bis zu ausgeprägtere\Kn braunen Flecken.
Im Alter von 0 bis 6 Jahren, während wel –
chem es zur Mineralisation der bleibenden
Zähne kommt, schlucken die Kinder ei –
nen grossen Teil der Zahnpaste (im Mittel
werden im Alter von 2 Jahren
2/3 der auf
der Zahnbürste liegenden Zahnpaste ge –
schluckt)
48), 49), 50), 51) . Am besten wird eine
Zahnpaste mit geringem Fluorgehalt be –
nutzt. Unüberwacht neigt das Kind dazu, zu –
viel Paste auf die Zahnbürste zu geben, was
wiederum die eingenommene Fluormenge
bedingt
52). Die meisten Empfehlungen für
Kleinkinder geben eine «erbsgrosse» Menge
an, was 0.4 g Paste oder 0.44 mg Fluor ent –
spricht. Kinder, welche die Zähne zweimal
im Tag putzen, kommen damit auf die täglich
die Schweizerische Akademie der Medizi
–
nischen Wissenschaften empfohlen, dem
Kochsalz 250 ppm Fluor/kg beizugeben.
Im Kanton Waadt erweist sich, 8 Jahre nach
dessen Einführung, Fluor im Kochsalz bei
gleichen Mengen als ebenso wirksam wie
Fluor im Trinkwasser
46). Deshalb wurde diese
weniger kostspielige Methode vorgezogen.
Die empfohlene Zufuhr beträgt 0.05 mg/kg
und Tag, alle Quellen inbegriffen, mit einer
maximalen Tagesdosis von 1 mg.\K
In der Schweiz besteht kein Risiko, durch
Trinkwasser und Nahrung eine Zahnfluo –
rose hervorzurufen. Der transplazentäre
Übergang ist beschränkt, weshalb es selten
zu einer Fluorose der in utero minerali –
sierten Milchzähne kommt. Eine Fluorose
kann hingegen Folge von übertriebener
Fluoreinnahme während der Mineralisation
der bleibenden Zähne sein (Kinder unter 8
Jahren). Sie ist abhängig vom Fluorgehalt
Potentielle Ursachen einer Verzögerung Diagnostische Mittel
Empfohlene Behandlun\äg
Infekt des dem bleibende\Kn Zahn
vorangehenden Milchzahns Klinische Untersuchung (Milchzahnkaries, Zahnfleischfistel in
Wurzelnähe, submuköser Abszess)
Intraorale Röntgen\Kuntersuchung: Lokalisierung des endg\Külti
–
gen Zahns, Suche nach entzündlicher Lyse des Knochens Ziehen des Milchzahns zur Beschleunigung
des Durchbruchs des bleibenden \KZahns
Knospe des bleibend\Ken Zahns
fehlt (Agenesie) Intraorale Röntgen\Kuntersuchung: Fehlende Zahnschmelz
–
bildung, fehlender \KRand um den Zahnfol\Klikel Platzhalter in Hin\Ksicht auf ein Implanta\Kt
nach Abschluss des Kieferwachstums oder
Verschluss der Öffnung f\Kalls später kiefer-
orthopädische Behandlung vorge\Ksehen
Narbengewebe am Ort\K des er-
warteten Zahndurchbruchs Klinische Untersuchung (narbige, den Zahnd\Kurchbruch
hindernde fibröse \KSchleimhautfalte)
Intraorale Röntgen\Kuntersuchung: Narbiger kondensierender
Osteitisherd nach Verlust des Milchzahns durch chronischen
Infekt Abtrennen des Narb\Kengewebes oder
führende Alveolektomie
Raumverlust Klinische Untersuchung (Einengung des Raumes für den erwar –
teten Zahn durch Zusammenrücken der benachbarten Zähne)
Intraorale Röntgenuntersuchung: Anstossen der Zahnkrone des
erwarteten Zahnes gegen die Kronen (und/oder Wurzeln) der
bereits durchgebrochenen Zähne
Klinische Untersuchung (klinische Zahnformel) Kieferorthopädische Behandlung: Ausei
–
nanderrücken der benachbarten Zähne,
eventuell Zug auf de\Kn zurückgehaltenen
Zahn
Überzähliger Zahn Orthopantomographis\Kche Untersuchung: Erlaubt es, die Z\Kähne
zu zählen, noch intraalveolär lie\Kgende Zahnsprosse \Kinbegriffen.
Darstellung des Durchbruchverlaufes des blei\Kbenden Zahnes
Klinische Untersuchung (palpatorische Suche nach einer
schmerzhaften oder -losen Knochendeformation, nac\Kh einer
Okklusionsstörung o\Kder einer Veränderung der deckenden
Schleimhaut) Entfernen des über\Kzähligen Zahns, um d\Ken
bleibenden Zähnen P\Klatz zu schaffen
Tumor Feststellung der dre\Kiflächigen Verlängerung des Tumor\Ks
(CT scan oder Cone Be\Kam CT)
Orthopantomographis\Kche Untersuchung: Lokalisierung eines
soliden oder cystis\Kchen Tumors, Beziehun\Kg zum zurückgehal –
tenen Zahn (Zahn im Tumor gefang\Ken oder peripher g\Kelegen.
CT oder Cone Beam CT: dreidimensionale\K Abgrenzung des
Tumors Tumorentfernung
Tabelle 1: Lokale Ursachen für verzögerte\Kn Durchbruch der bleibenden Z\Kähne
einem Jahr sollen Mundschleimhäute und
Zähne mit einem NaCl-getränkten Tüchlein
gereinigt werden. Hat das Kind mehrere
Zähne, werden diese mit Wasser gebürstet
solange das Kind noch nicht ausspucken
kann. Anschliessend, sobald das Kind aus
–
spucken kann und bis zum Alter von 6
Jahren, empfiehlt sich die Anwendung einer
erbsgrossen Menge Zahnpasta mit weniger
als 45 mg Fluor pro\K 100 g Paste.
Fluor!
Die Vorteile von Fluor als Kariesprophylaxe
sind gut dokumentiert:
• Vermehrte Mineralisa\Ktion der Zähne
• Rückbildung bereits entstandener Entmi –
neralisation
• Hemmung kariogener Bakterien
Die Wirkungsmechanismen von Fluor sind
topisch und systemisch, wobei die topi –
sche Wirkung ausgeprägter ist
43). 1981 hat
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empfohlene Fluormenge von 0.05 mg/kg
einzig durch das Zähneputzen.
Fluor stellt in der Schweiz kein gesundheits-
politisches Problem dar, ganz im Gegen –
satz zur Karies. Der mögliche ästhetische
Schaden rechtfertigt jedoch entsprechende
Vorsichtsmassnahmen.
Daumen oder Schnuller:
Die Stellung des Kin\.derarztes
Normale, unübliche Mundfunktionen
Unphysiologische Mundfunktionen (Bruxis –
mus, Nagelkauen, nicht ernährungsbeding –
tes Nuckeln etc. sind im Kindesalter häufig,
können jedoch, halten sie an, für Mund-
Zahnstrukturen schädlich sein
53). Daumen –
lutschen beginnt in utero oder während den
ersten Lebensmonaten mit einem Maximum
mit 12 Monaten. Dieses nicht der Ernährung
dienende Saugen ist ein wichtiges Element
bei der Entwicklung der auto-regulativen
Funktionen des Kindes und seiner Fähigkeit,
Gefühle zu beherrschen. Die Benutzung des
Schnullers nimmt während der ersten 5
Lebensjahre von 40% auf 1% der Kinder ab;
das Daumenlutschen von 31% mit 12 Mona –
ten auf 12% bei 4-Jährigen
54). Die Mehrzahl
der Kinder verzichtet mit 2 Jahren auf das
Lutschen von Daumen oder Nuggi
55).
Einfluss auf die Kie\äfer
Der Einfluss von nicht ernährungsbeding –
tem Nuckeln auf Form und Entwicklung der
Kiefer ist gut belegt
56), 57) . Es ensteht eine
vermehrte Überdachung der unteren Zähne
durch die oberen (overjet), eine verstärkte
Vorwärtsneigung der oberen Zähne (over-
jet), eine Retroposition des Unterkiefers ge –
genüber dem Schädel und dem Oberkiefer
(Klasse II). Verlängertes Lutschen verstärkt
und erhält diese Schäden
58); lutscht das Kind
48 Monate oder länger, kommt es zu einem
engen Gaumenbogen und zu zahlreichen
Bissstörungen (overjet, hinterer crossbite).
Die Prävalenz von offenstehenden Vorder-
zähnen (Abb. 7) , hinterem crossbite (Abb. 8)
und übertriebenem overjet (> 4 mm) (Abb. 9)
nimmt mit der Lutschdauer zu.
Und der Schnuller?
Der Nuggi kann zu verschiedenen Zahn –
stellungsstörungen führen, insbesondere
Bissstörungen. Das Kind verzichtet im All –
gemeinen früher auf den Nuggi als auf das
Daumenlutschen, letztere Gewohnheit ist
auch deshalb schädlicher für die Zahnstel –
lung, da der Daumen Kraft auf die knöcher-
nen Strukturen des Kiefers ausübt, während
der Schnuller passiv ist.\K
Was tun?
Die Gewohnheit, im Kleinkindesalter am
Daumen oder einem Ersatz zu lutschen, ist
normal und hat nur minime Auswirkungen
auf die Gesichtsknochen. Dauert diese Ge –
wohnheit jedoch über das Alter von 4 Jahren
hinaus, so sollte eine zahnärztliche oder
kieferorthopädische Beratung erfolgen. Eine
Information der Eltern betreffend Lutschge –
wohnheiten sollte schon stattfinden, wenn
das Kind 6 bis 12 Monate alt ist. Im Idealfall
verzichtet das Kind im Verlaufe des zweiten
Lebensjahres darauf
60).
Schlussfolgerung:
Gesunde Zähne – Gesundheit
ganz allgemein
Gesunde Zähne gehören zur allgemeinen
Gesundheit und zum Wohlbefinden des
Kindes. Ein Kinderarzt, der mit Zahnkaries
und den Risiken, Karies zu entwickeln sowie
den entsprechenden Präventionsmassnah –
men vertraut ist, der die therapeutischen
Möglichkeiten kennt und über öffentliche
und private Leistungserbringer \K informiert
ist, kann wesentlich zur Gesundheit seiner
Patienten beitragen. Karies ist eine sehr
häufige Krankheit und kann bei Kindern
schwerwiegende Folgen haben: Mundhygi –
ene muss deshalb vom Kinderarzt in seine
tägliche Praxis einbezog\Ken werden.
Referenzen
Siehe französischer Text
Korrespondenzadresse
Dr C. Madrid
Service de Stomatologie et Médecine Den –
taire, Policlinique\K Médicale Universit\Kaire
Rue du Bugnon 44, 1011 Lausanne
carlos.madrid@hospv\Kd.ch
Weitere Informationen
Übersetzer:
Rudolf Schläpfer
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Carlos Madrid , Service de Stomatologie et Médecine Dentaire, Policlinique Médicale Universitaire, Lausanne