Die Cerebralparese (CP) ist mit einer Inzidenz von 2 bis 2,5 auf 1000 Geburten die häufigste motorische Behinderung m Kindesalter. Dieser Begriff umschreibt primär Störungen von Bewegung und Haltung. Diese sind durch nicht progressive vor, während oder kurz nach der Geburt aufgetretene Hirnläsionen bedingt. Sensorische, kognitive, Sprach-, Verhaltensstörungen und in gewissen Fällen auch Epilepsien kommen in unterschiedlichem Ausmass hinzu und sind mit Einschränkungen im täglichen Leben verbunden. Trotz den beachtenswerten Fortschritten der Medizin im letzten Jahrhundert, hat die Inzidenz der CP in den letzten 50 Jahren nicht abgenommen. Die bessere geburtshilfliche und perinatale Betreuung haben zwar bewirkt, geburtsbedingte Komplikationen, konnatale Infektionskrankheiten (z.B. Röteln) und Kernikterusfälle zu vermindern, parallel dazu überleben aber sehr früh geborene Kinder oder solche mit sehr kleinem Geburtsgewicht. Das zunehmende Alter der gebärenden Mütter und neuerdings Mehrlingsgeburten tragen ebenfalls dazu bei, die Häufigkeit der CP konstant zu halten. Die Ätiopathologie wird mehr und mehr als multifaktoriell erkannt (Tabelle 1).
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Die Cerebralparese (CP) ist mit einer Inzi –
denz von 2 bis 2,5 auf 1000 Geburten die
häufigste motorische Behinderung im Kin –
desalter. Dieser Begriff umschreibt primär
Störungen von Bewegung und Haltung.
Diese sind durch nicht progressive vor,
während oder kurz nach der Geburt aufge –
tretene Hirnläsionen bedingt 1). Sensorische,
kognitive, Sprach-, Verhaltensstörungen und
in gewissen Fällen auch Epilepsien kommen
in unterschiedlichem Ausmass hinzu und
sind mit Einschränkungen im täglichen Le –
ben verbunden. Trotz den beachtenswerten
Fortschritten der Medizin im letzten Jahrhun –
dert, hat die Inzidenz der CP in den letzten
50 Jahren nicht abgenommen. Die bessere
geburtshilfliche und perinatale Betreuung
haben zwar bewirkt, geburtsbedingte Kom –
plikationen, konnatale Infektionskrankheiten
(z. B. Röteln) und Kernikterusfälle zu vermin –
dern, parallel dazu überleben aber sehr
früh geborene Kinder oder solche mit sehr
kleinem Geburtsgewicht. Das zunehmende
Alter der gebärenden Mütter und neuerdings
Mehrlingsgeburten tragen ebenfalls dazu bei,
die Häufigkeit der CP konstant zu halten.
Die Ätiopathologie wird mehr und mehr als
multifaktoriell erkannt ( Tabelle 1 ).
Die CP werden entsprechend der moto –
rischen Störung in sechs Gruppen einge –
teilt 2) (in Klammern: Häufigkeit auf Grund
der Zahlen aus 6 westlichen Ländern):
1. Die
spastische Diplegie (18–45%) ma –
nifestiert sich hauptsächlich an den
unteren Extremitäten. Anamnestisch
ist häufig eine Frühgeburtlichkeit zu
erheben und die Bildgebung zeigt klas –
sischerweise eine beidseitige perivent –
rikuläre Leukomalazie.
2. Die
spastische Hemiplegie (27–37%)
kommt einseitig zum Ausdruck. Sie geht
meist mit traumatischen, vaskulären oder
infektbedingten fokalen Hirnläsionen ein –
her und durch Bildgebung können Sub –
stanzverluste nachgewiesen werden.
3. Die
spastische Tetraplegie (8–32%) be –
trifft alle 4 Extremitäten. Es handelt sich
um eine globale, meist schwere Störung,
welche oft auch die Mundmotorik betrifft.
Assoziierte Störungen (geistiger Entwick –
lungsrückstand, gastroösophagealer Re –
flux, Bronchoaspiration, Epilepsie) sind
häufig, die Lebenserwartung oft verkürzt.
Ursache ist häufig eine perinatale hypo –
xisch-ischämische Enzephalopathie.
4. Bei der
dystonen/dyskinetischen CP
(4–10%) stehen unfreiwillige Bewe –
gungen und Haltungsmuster im Vorder –
grund. Sie wird in der Regel von einer
Dysarthrie und einer Dysphagie beglei –
tet, die kognitiven Fähigkeiten dagegen
sind meist erhalten. Dieses klinische
Bild entspricht einer Funktionsstörung
der grauen zentralen Nuclei und ist
heutzutage im Allgemeinen Folge einer
schweren perinatalen Anoxie (historisch
war der Kernikterus die Hauptursache).
5. Die
ataktische CP (5–7%) kennzeichnet
sich durch Störungen von Gleichge –
wicht, Koordination und Feinmotorik,
einhergehend mit einer Dysmetrie. Die –
se Kinder sind oft während der ersten 2
Lebensjahre hypoton. Ursache ist eine
Störung des Kleinhirns.
6. Die
gemischte CP (5–11%) umfasst
gemischte klinische Bilder, meist spas –
tische und dystone Symptome.
Komponenten der
motorischen Störung
Damit wir dem Kind mit CP eine seinen mo –
torischen Störungen angepasste Betreuung
anbieten können, ist es wichtig, deren Merk –
male genau zu kennen. Jede motorische
Störung kann als primäre, direkte Folge
der zu grunde liegenden Krankheit oder als
sekundäre, indirekte Folge langfristiger Ske –
lettveränderungen betrachtet werden.
Primäre Störungen können sein:
● Tonusanomalien
–
Spastizität: Tonuserhöhung mit ge –
schwindigkeitsabhängiger Änderung
des Widerstandes bei passiver Bewe –
gung.
–
Dystonie: abwegige Muskelaktivie –
rung (Begleit-Kontraktionen) bei will –
kürlichen Bewegungen oder Wahren
der Körperhaltung.
–
Hypotonie: Verminderung des axi –
alen und/oder des peripheren To –
nus.
● Muskelschwäche, in verschiedenen
Schweregraden bei der Mehrzahl der
Kinder mit CP vorhanden.
● Selektive Störung der motorischen
Kontrolle, d. h. die Unfähigkeit, die für
eine bestimmte Bewegung notwendigen
Muskeln zu aktivieren.
● Unwillkürliche Bewegungen, chorei –
form, athetotisch und ballistisch.
● Ataxie.
Insbesondere die Spasitizität verändert
die viskös-elastischen Eigenschaften des
Muskels, vermindert die Dehnbarkeit und
verkürzt längerfristig Muskeln und Sehnen.
Dies führt schliesslich zu Gelenkskontrak –
turen. Man beobachtet dieses Phänomen
z. B. beim diplegischen Kind. Das Kind mit
Diplegie beginnt wegen der Spastizität der
Wadenmuskulatur auf den Zehen zu gehen
und diese verliert damit schnell an Elastizi –
tät. Sehr bald stellt man eine zunehmende,
mit den Jahren zu einem Spitzfuss führende
Verkürzung der Muskeln und der Achilles –
Betreuung der motorischen Störungen
von cerebral gelähmten Kindern
Christopher Newman, Lausanne
Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds und Beat Knecht, Zürich
Tabelle 1: Wichtigste Risikofaktoren der Cerebralparese
Vor der Geburt Während der Geburt Nach der Geburt (0–2 Jahre)
Frühgeburtlichkeit Verlängerte Austreibungszeit Meningitis
Geburtsgewicht <2500g Vorzeitiger Blasensprung Enzephalitis
Infekte (TORCH) Abnorme Geburtslage Hypoxie
Chorioamnionitis Bradykardie Blutdruckabfall
Mehrlingsschwangerschaft Hypoxie Krämpfe
Mütterliches Alter Gerinnungsstörungen
(<20 und > 34 Jahre) Ikterus
Schwere Eklampsie Schädelhirntrauma
Drogensucht
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sehne fest. Ausser den Verkürzungen, die
an allen Gelenken beobachtet werden kön –
nen, kann das chronische Ungleichgewicht
der Muskulatur weitere orthopädische
Komplikationen zur Folge haben, wie Hüft –
gelenksluxation, Skoliose oder Wachstums –
störungen eines oder mehrerer Glieder.
Alle diese Veränderungen an Muskeln und
Skelett führen zu einer Verschlimmerung
der primären Störungen, insbesondere der
Muskelschwäche.
Wichtigste Prinzipien
der Betreuung
Hauptziel der pädiatrischen Rehabilitation
ist es, jedem Kind eine möglichst grosse
Selbständigkeit zu ermöglichen. Die Verbes –
serung seiner Motorik und seiner Aktivität
im Alltag spielen dabei eine wesentliche
Rolle. Das motorisches Potential solle dabei
therapeutisch so weit als möglich genutzt
werden. In erster Linie geht es um das Er –
lernen funktioneller, für den Alltag wichtiger
Bewegungen und erst in zweiter Linie um
die ästhetischen Aspekte der Bewegung.
Davon ausgehend wurde vermehrt die Mus –
kelkraft als wesentlich für Ausdauer und
Effizienz der Bewegungen erkannt.
Die Vorbeugung orthopädischer Fehlstel –
lungen ist unbedingt notwendig, um die
biomechanische Integrität zu erhalten. Die
spastisch bedingte Muskelverkürzung, der
für die meisten Fehlstellungen wichtigste
Faktor, wird mit physikalischer Therapie,
Orthesen und orthopädischer Chirurgie be –
handelt.
Bei jeder Langzeitbetreuung ist die Zusam –
menarbeit mit der Familie wesentlich. Es
ist wichtig, den Möglichkeiten des Kindes
angepasste realistische Ziele zu setzen, um
die Behandlung zu optimieren, aber auch
um übergrossen Erwartungen von seiten
der Eltern oder des Behandlungsteams zu
vermeiden.
Physiotherapie(n)
Hauptziele der Physiotherapie sind:
1) die Haltung,
2) die Gelenkbeweglichkeit,
3) die motorische Kontrolle,
4) die Muskelkraft,
5) die muskuläre und kardiovaskuläre Aus
–
dauer und
6) die Mobilität zu verbessern
Jede Art Physiotherapie besteht aus konven –
tionellen Massnahmen und therapeutischen
Konzepten.
Die konventionellen Massnahmen umfas –
sen passive und aktive Mobilisierung, um
die Bewegungsumfänge der Gelenke zu
erhalten und Kontrakturen zu vermeiden.
Dehnübungen haben zum Zweck, Muskel-
und Sehnenlänge zu bewahren. Man weiss,
dass, um eine zunehmende Verkürzung des
Triceps surae zu vermeiden, dieser wäh –
rend mindestens 6 Stunden im Tag gedehnt
werden muss. Dieses Ziel kann mit einer
oder zwei Physiotherapiesitzungen pro
Woche nicht erreicht werden. Dehnen zu
Hause und die Verwendung von Orthesen
ist deshalb unumgänglich. Im Verlaufe der
letzten 10 Jahre hat das Training der Mus –
kelkraft in der Physiotherapie wieder an Be –
deutung zugenommen. Früher wurde davon
abgeraten, weil man eine Verstärkung der
Spastizität befürchtete. Inzwischen konnte
jedoch gezeigt werden, dass die Zunahme
der Muskelkraft mit einer verbesserten
Funktion ohne Zunahme der Spastizität
einhergeht 4).
Das wichtigste therapeutische Konzept
wurde von Karel (Neuropsychiater) und
Bertha (Physiotherapeutin) Bobath ab den
40er Jahren in London entwickelt 5). Sie pos –
tulierten, dass die Motorik des CP-Kindes
durch persistierende archaische Reflexe und
primitive motorische Reaktionen behindert
wird. Ihre physiotherapeutischen Methoden
zielten darauf ab, diese zu hemmen und
damit normale Bewegungen zu erleichtern.
Seitdem hat sich das Bobath-Konzept (ent –
wicklungsneurologische Therapie) beträcht –
lich weiter entwickelt. Von den Grundprin –
zipien ist das «handling» (die Art und Weise,
wie das Kind gehalten, wie ihm Haltung
gegeben und wie seine Bewegungen gesteu –
ert werden) von besonderer Bedeutung zur
Besserung von Tonus und Aktivität.
Zwei weitere, in gewissen Teilen Europas
beliebte Methoden sind die Konzepte von
Vojta (gründet auf dem Konzept der Re –
flexbewegung, die durch Manipulation des
Kindes provoziert wird) und die konduktive
Erziehung nach Petö (die sich durch die
Gegenwart eines «Konduktors» auszeichnet,
welcher gleichzeitig die Rolle des Erziehers
und des Therapeuten einnimmt). Bisher
hat keine kontrollierte klinische Studie die
Überlegenheit einer dieser drei Methoden
bewiesen. Die optimale Frequenz der The –
rapien ist ebenfalls umstritten. Gewisse
Zentren bevorzugen regelmässige und lang –
fristige Behandlungen, andere intensive und
kurzfristige.
Je nach den Umständen können zusätzliche
Massnahmen, wie Hydrotherapie, Hippothe –
rapie, funktionelle Elektrostimulation (die
Muskeln werden durch Oberflächenelek –
troden stimuliert) und Medizinische Trai –
ningstherapie (z. B. Laufband, Tretapparate)
eingesetzt werden. Eine neuere Methode,
deren Wirksamkeit sich zu erweisen b eginnt,
ist die «constraint-induced movement
therapy» 6). Diese wird bei Hemiplegien an –
gewandt und gründet auf dem Konzept des
«learned misuse», d. h. der betroffene und im
Alltag weniger gebrauchte Arm wird durch
fehlenden Gebrauch zunehmend inaktiv. Die
Methode besteht darin, die gesunde obere
Extremität zu immobilisieren (durch einen
Gips, eine Schiene oder eine Armschlinge),
um das Kind zu zwingen, den betroffenen
Arm zu benutzen und so dessen Funktion
zu verbessern.
Ergotherapie, Hilfsmittel
und Orthesen
Die Ergotherapie beinhaltet verschiedene
Evaluations- und Behandlungsmethoden,
welche die Feinmotorik, die Ausführung
täglicher Bewegungsabläufe, die Selbstän –
digkeit und das soziale Verhalten des Kindes
in seinem Umfeld verbessern sollen. Um
dies zu erreichen, benutzt der Ergotherapeut
das Spiel, indem er das Kind durch gesteu –
erte Aktivitäten lenkt (z.B. sich anziehen,
schreiben/zeichnen, basteln), um effiziente
motorische Strategien zu erarbeiten und
auch auf die Körperhaltung einzuwirken. Er
beteiligt sich in Zusammenarbeit mit dem
Orthopädietechniker an der Herstellung von
Hilfsmitteln und Orthesen.
Die Hilfsmittel können in zwei Gruppen un –
terteilt werden. Die erste dient der Beweg –
lichkeit und soll dem Kind erlauben, sich effi –
zient, sicher und selbständig fortzubewegen.
Die Hilfsmittel sind entweder leicht gebaut
oder technisch hochentwickelt, z.B. Krücken
oder technische Gehhilfen, Hand- oder Elek –
tro-Rollstühle. Die zweite Gruppe umfasst
Geräte für verschiedene Körperstellungen,
z. B. speziell angepasste Stühle, Stehappa –
rate (standings) und Lagerungshilfen.
Die Orthesen sind Apparate, die eine
äussere Kraft auf das Muskel-Skelettsystem
ausüben, mit dem Ziel, die beweglichen Teile
des Körpers zu stützen, zu richten und, wenn
möglich, deren Funktion zu verbessern. Es
handelt sich um Schienen für Arme und
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Beine, welche, je nach Behandlungsziel, tags
oder nachts getragen werden (tags: Funk –
tionskorrekturen; nachts: Muskeldehnung,
Lagerung). Heutzutage bevorzugt man hand –
liche Unterschenkel– und Handgelenkorthe –
sen. Orthopädische Schuhe und Einlagen
gehören ebenso dazu. Für die Wirbelsäule
werden Korsette und Haltungsschalen ver –
wendet. Die zur Herstellung von Orthesen
verwendeten Materialien werden auf Grund
ihrer mechanischen Eigenschaften ausge –
wählt (Steifheit, Elastizität, Dauerhaftigkeit)
und umfassen Leder, Metall, verschiedene
Plastikarten und Polymere.
Behandlung der Spastizität
Die Spastizität ist eine Störung der Moto –
rik, die sich durch die geschwindigkeitsab –
hängige Erhöhung des Muskeltonus aus –
zeichnet. Sie ist Ausdruck einer erhöhten
Reizbarkeit des Dehnreflexes durch Funkti –
onsstörung der absteigenden pyramidalen
Nervenbündel, welche normalerweise einen
hemmenden Einfluss auf diesen Reflex aus –
üben. Spastizität und Hyperreflexie gehören
zu den «positiven» Zeichen des Syndroms
der übergeordneten motorischen Zentren,
während Muskelschwäche, Verlust von Ge –
schicklichkeit und selektiver motorischer
Kontrolle «negative» Zeichen sind.
Je nach Art der CP und Verteilung der
Spastizität wählt man systemische oder
fokale Behandlungen 7). Die systemische
orale Behandlung 8) ist im Allgemeinen den
schweren Formen der Spastizität vorbehal –
ten. Am häufigsten verwendet wird Bacl –
ofen, welches als Agonist des wichtigsten
hemmenden Neurotransmitters GABA wirkt
und so die mono- und polysynaptischen
spinalen Reflexe hemmt. Schläfrigkeit, Ver –
wirrtheit, Gedächtnis- und/oder Aufmerk –
samkeitsstörungen sind häufig auftretende
Nebenwirkungen. Die Benzodiazepine, die
am zweithäufigsten verwendete Arzneimit –
telgruppe (Diazepam oder Clonazepam),
haben eine GABA-synergistische Wirkung
sowie ähnliche Nebenwirkungen. Tinazidin
hat eine beta2-adrenergische Wirkung und
verhindert die Freisetzung neurostimulie –
render Aminosäuren (Aspartat, Glutamat)
im präsynaptischen Bereich. Diese Substanz
hat ebensoviele Nebenwirkungen wie die
zuvor erwähnten (Sedierung, Müdigkeit,
Schwindel, Blutdruckabfall, Mundtrocken –
heit). Dantrolen unterscheidet sich von den
vorangehenden Medikamente durch seine
direkte Wirkung auf die Muskelfaser; es
vermindert die Freisetzung des Kalziums
des sarkoplasmatischen Retikulums. Die
sedierende Wirkung ist geringer als diejeni –
ge der zentral wirkenden Substanzen. Seine
Verschreibung wird jedoch durch die hohe
Lebertoxizität (0,3% tödlich verlaufende Fäl –
le) eingeschränkt. Auch kann die Muskel –
schwäche so ausgeprägt sein, dass sich die
motorische Funktion verschlechtert.
Die intrathekale Baclofenbehandlung 9) be –
steht in einer kontinuierlichen Instillation
von Baclofen über eine unter der Bauch –
decke implantierte und an einen intra –
thekalen Katheter angeschlossene Pumpe.
Der Hauptvorteil ist die Verminderung der
zentralen Nebenwirkungen durch die di –
rekte Wirkung auf das Rückenmark. Durch
Programmierung der Pumpe ist die anti-
spastische Wirkung titrierbar und reversibel.
Diese Technik hat jedoch eine perioperative
Komplikationsrate von 2–8%, im Wesent –
lichen Infekte des Pumpensystems. Auch
Spätkomplikationen sind häufig, 15–40%
je nach Serie. Es handelt sich dabei um
Funktonsstörungen der Pumpe oder des
Katheters mit dem Risiko eines potentiell
schweren akuten Entzugssyndroms, falls
der Defekt nicht rechtzeitig entdeckt wird.
Ein iatrogenes Risiko ist die Überdosierung
beim Nachfüllen der Pumpe, was gewöhn –
lich alle 2 bis 3 Monate notwendig wird.
Gebräuchliche Indikationen dieser Behand –
lung beim Kind sind die schwere spastische
Tetraplegie und die schwere dystone CP,
bei welcher die Muskelspastizität zu einer
Störung des Befindens, Verminderung der
Lebensqualität und zu Schwierigkeiten bei
der Pflege führt. Die Anwendung dieser Be –
handlung bei der schweren spastischen Di –
plegie scheint erfolgversprechend, befindet
sich aber noch in der Evaluationsphase.
Die selektive hintere Rhizotomie ist eine
neurochirurgische Technik, bei welcher se –
lektiv die hinteren (sensiblen) Wurzeln des
Rückenmarkes durchtrennt werden. Dies
unterbricht den myostatischen Reflexbo –
gen. Klassischerweise ist sie indiziert beim
spastisch diplegischen Kind, das nicht an
Gelenkkontrakturen leidet und alleine gehen
kann. Der Eingriff wird auf Höhe L2 bis S1
unter EMG-Kontrolle durchgeführt. Er ge –
niesst in den USA eine gewisse Popularität;
es wurden dazu jedoch wenige kontrollierte
Studien durchgeführt und seine Wirsamkeit
wird in Frage gestellt 10). Hauptsächliche
Nachteile sind die Tatsache, dass der Ein –
griff irreversibel ist sowie gelegentliches
Auftreten einer Hypästhesie oder einer
schmerzhaften Dysästhesie, seltener einer
neurologischen Blase oder einer Hüftge –
lenksluxation.
Durch die chemische Neurolyse werden
ausgewählte Muskeln fokal durch die Injekti –
on chemischer Substanzen denerviert. Man
geht die spastischen Muskeln an mit dem
Ziel, ihren Tonus zu vermindern und damit
die Motorik des Gliedes zu verbessern.
Ursprünglich wurde 3–6%iges Phenol (oder
50%iges Aethanol) verwendet, welches das
Myelin und die axonalen Proteine dena –
turiert. Diese Substanzen werden in den
motorischen Nerv oder in die «motorischen
Punkte» (intramuskuläre Konzentration von
Nervenbündeln) injiziert. Sie werden manch –
mal heute noch verwendet, da sie schnell
wirken, eine lange Wirkungsdauer (6–12
Monate) haben, kostengünstig sind und
auf grosse Muskelgruppen wirksam sind
(z. B Injektion in den N. obturatorius für die
Hüftadduktoren). Die Injektion ist jedoch
schmerzhaft, sie ist technisch schwierig
und es beteht das Risiko einer chronischen
Empfindungsstörung.
Die heute am meisten verwendete Subs-
tanz ist das Botulinumtoxin 11). Es handelt
sich um das potenteste auf den Menschen
wirksame Neurotoxin, bestehend aus 7
verschiedenen (A–G), durch das anaerobe
Bakterium Clostridium botulinum produ –
zierte Toxine. Die ersten therapeutischen
Versuche wurden in den 80er Jahren zur
Behandlung des Strabismus durchgeführt.
Die intramuskuläre Injektion ist bei allen
fokalen Manifestationen muskulärer Hyper-
aktivität indiziert (Strabismus, zervikale Dys –
tonie, Spastizität, etc.). Zur Behandlung wird
vor allem das Botulinumtoxin A benutzt.
Es blockiert die präsynaptische Acetyl –
cholinfreisetzung, was zu einer chemischen
Denervierung führt. Die Dauer der klinisch
wirksamen Muskelrelaxation ist 3 bis 4
Monate bevor die Reinnervation durch das
Einwachsen neuer Nervenendigungen statt –
findet. Das Botulinumtoxin hat nur wenig
Nebenwirkungen und die Injektionen wer –
den bei wirksamer Analgie gut toleriert. Bei
gutem Erfolg wiederholt man die Injektionen
alle 4–9 Monate. Die Gesamtzahl gleichzei –
tiger Injektionen wird durch die Toxizität der
Substanz beschränkt. Diese Behandlung
eignet sich deshalb nicht für eine diffuse
Spastizität (spastische Tetraplegie).
Serienweise angelegte Gipschienen wer –
den seit den 70er Jahren verwendet, vor
allem für die Behandlung des spastischen
Spitzfusses. Es werden sukzessiv redres –
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sierende Gipsstiefel angepasst, welche dem
Kinde das Gehen erlauben. Bei jedem neuen
Gips wird das Sprunggelenk stärker dorsal –
flektiert. Durch die Immobilisierung erzielt
man eine Verminderung der Spastizität und
eine Verbesserung der Gelenksamplitude,
was besonders bei einer bereits bestehen –
den Achillessehnenverkürzung von Nutzen
ist. Diese Methode kann alleine oder, um
deren Wirkung zu verstärken, in Kombina –
tion mit einer chemischen Neurolyse ange –
wendet werden 12).
Für die spezifische Behandlung der dysto –
nen und dyskinetischen CP wird seit kurzem
die Möglichkeit einer tiefen cerebralen
Stimulation (des Pallidum oder des Thala –
mus) untersucht. Die vorläufigen Resultate
sind beim Kinde sehr unterschiedlich und
verlangen deshalb weitere Forschung vor
einer allgemeinen Anwendung 13).
Orthopädische Chirurgie
Die orthopädische Chirurgie spielt bei der
Betreuung der motorischen Probleme des
an einer CP leidenden Kindes eine wich –
tige Rolle. Das Ziel des Orthopäden ist es,
eine biomechanische Korrektur des Muskel-
Skelettsystems zu erreichen und damit die
Motorik, die Lebensqualität und das Wohl –
befinden zu verbessern.
Die Muskel-Sehnenchirurgie umfasst Teno –
tomien, Sehnenverlängerungen und Muskel-
Sehnenverlagerungen und wird sowohl an
den oberen wie an den unteren Extremitäten
angewandt. Die Knochen-Gelenkchirurgie
umfasst ihrerseits korrigierende Osteoto –
mien, Arthrodesen und Epiphysiodesen der
unteren Extremitäten sowie der Wirbelsäule
zur Korrektur neurologischer Skoliosen.
Heutzutage neigt man dazu, chirurgische
Eingriffe an den unteren Extremitäten mög –
lichst hinauszuschieben 14) und alle notwen –
digen Eingriffe möglichst zu kombinieren
(Single Event Multi Level Surgery). Dies
erlaubt eine optimale Korrektur und verhin –
dert das «Birthday Syndrome», bei welchem
jeder Geburtstag für das Kind einen neuen
Eingriff bedeutet.
Wegen der sehr heterogenen Kasuistik feh –
len generell gesehen wissenschaftliche Da –
ten zur mittel- und langfristigen Wirksamkeit
dieser orthopädischen Korrekturen. Da die
Operationen für jedes Kind individuell an –
gepasst werden müssen, ist eine möglichst
objektive Beobachtung der Fähigkeiten und
der Funktion vor und nach dem Eingriff
wesentlich. Dazu stehen verschiedene Eva –
luationsskalen zur Verfügung. Objektive, im
Bewungsanalyselabor durchgeführte Mes –
sungen können mithelfen, wichtige chirur –
gische Entscheidungen richtig zu treffen.
Schlussfolgerung
Die Rehabilitation des Kindes mit einer CP
hat in den letzten zwei Jahrzehnten beträcht –
liche Entwicklungen durchgemacht, einher –
gehend mit einer fortschreitenden Festigung
der wissenschaftlichen Grundlagen, die den
obigen Ausführungen zugrunde liegen. Sie
ist durch Multidisziplinarität charakterisiert,
verschiedene Berufe (medizinische sowie
medizinische und technische Hilfsberufe)
arbeiten zusammen, um eine optimale und
umfassende Betreuung zu gewährleisten.
Die Behandlungsziele in Hinblick auf die
Motorik werden mit dem Kind und seiner
Familie während der ganzen Dauer seines
Wachstums evaluiert und diskutiert, damit
es das Erwachsenenalter mit einem mög –
lichst hohen Grad an Autonomie, Wohlbe –
finden und Lebensqualität erreichen kann.
Es darf nie aus den Augen verloren werden,
dass der Patient vor allem ein Kind ist. Die
Betreuung muss deshalb die spielerischen
Aspekte bevorzugen und muss so gestaltet
werden, dass der normale Lebensrhythmus
möglichst gewahrt bleibt.
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Korrespondenzadresse:
Dr Christopher Newman
Unité de neurologie et
neuroréhabilitation pédiatrique
Hôpital Orthopédique
Av. Pierre-Decker 4
1005 Lausanne
christopher.newman@chuv.ch
Weitere Informationen
Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer, Beat Knecht
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Christopher Newman , Unité de neurologie et neuroréhabilitation pédiatrique, Hôpital Orthopédique, Lausanne