Der folgende Artikel soll die Empfehlungen der Nordamerikanischen Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung (NASPGHAN) zur Evaluation und Behandlung der Obstipation bei Säuglingen und Kindern zusammenfassend ausführen, wobei Anpassungen an die Verhältnisse der Schweiz berücksichtigt sind1). Die Publikation der Empfehlungen erfolgte 2006 und hat nach wie vor ihre Gültigkeit. Von der Europäischen Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung (ESPGHAN) existiert zurzeit noch keine eigene Leitlinie.
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der Symptomatik, ob die Defäkation
sc\bmerz\baft empfunden wird, bezüglic\b
Blutbeimengung am Stu\bl oder Toilettenpa
pier und ob assoziiert Bauc\bsc\bmerzen
vor\banden sind. Stu\blsc\bmieren wird zum
Teil von den Eltern als Diarr\boe fe\blinter
pretiert. Das Vor\bandensein von Stu\blre
tentionsmanövern des Kindes mac\bt eine
organisc\be Erkrankung wenig wa\brsc\bein
lic\b. Ebenfalls soll eine Medikamenten
anamnese er\boben werden.
Alarmzeic\ben einer möglic\ben organisc\ben
Erkrankung sind Fieber, Gedei\bstörung,
Nausea und Erbrec\ben oder auc\b Hämato
c\bezie beim Säugling, welc\be auf eine En
terokolitis infolge eines Morbus Hirsc\b
sprung \bindeuten könnte.
Die psyc\bosoziale Anamnese bein\baltet
Familienstruktur, möglic\be Interaktionen
oder auc\b die Möglic\bkeit einer (sexuellen)
Miss\bandlung.
Die klinische Untersuchung des Kindes
sc\bliesst nebst der abdominellen Palpation
die Inspektion der perinealen Region mit
ein. Die digitale rektale Untersuc\bung ist
\bilfreic\b bezüglic\b Er\bebung des externen
Sp\binktertonus, Stenosen und der rektalen
Füllung. Hinweise für eine organisc\be Er
krankung können ein Sakralporus, Sakral
agenesie, fe\blendes Analsp\binkterrelief
oder verminderte perianale Sensibilität, lee
res Rektum bei abdominell palpabler Masse,
explosionsartige Entleerung nac\b rektaler
Untersuc\bung oder neurologisc\be Auffällig
keiten der unteren Extremitäten sein.
In den allermeisten Fällen kann die Diagno
se einer funktionellen Obstipation mit der
Anamnese und der klinisc\ben Untersu
c\bung gestellt werden.
Der folgende Artikel soll die Empfe\blungen
der Nordamerikanisc\ben Gesellsc\baft für
Pädiatrisc\be Gastroenterologie, Hepatolo
gie und Ernä\brung (NASPGHAN) zur Evalu
ation und Be\bandlung der Obstipation bei
Säuglingen und Kindern zusammenfassend
ausfü\bren, wobei Anpassungen an die Ver
\bältnisse der Sc\bweiz berücksic\btigt sind
1).
Die Publikation der Empfe\blungen erfolgte
2006 und \bat nac\b wie vor i\bre Gültigkeit.
Von der Europäisc\ben Gesellsc\baft für Päd
iatrisc\be Gastroenterologie, Hepatologie
und Ernä\brung (ESPGHAN) existiert zurzeit
noc\b keine eigene Leitlinie.
Hintergrun\b
Obstipation ist eine verzöger te oder
sc\bmerz\bafte Defäkation, welc\be wä\brend
zwei oder me\br Woc\ben andauert und mit
wesentlic\ber Beeinträc\btigung des Patien
ten ein\berge\bt. Die Obstipation ge\bört zu
den funktionellen gastrointestinalen Er
krankungen, welc\be mit den Rome III Kri
terien definiert sind
2). Bis zu 3% der Patien
ten in der allgemein pädiatrisc\ben Praxis
bzw. bis 25% in der pädiatrisc\b gastroente rologisc\ben Sprec\bstunde prä
sentieren
sic\b wegen Stu\blproblemen. Obstipation
löst bei vielen Eltern Besorgnis bezüglic\b
einer möglic\ben zugrunde liegenden orga
nisc\ben Erkrankung aus.
Funktionelle Obstipation ist eine Stu\blentlee
rungsstörung o\bne Hinweis für eine zugrunde
liegende Erkrankung – am \bäufigsten infolge
sc\bmerz\baften Stu\blgangs mit konsekutiven,
willentlic\ben Stu\blretentionsmanövern, um
eine unangene\bme Defäkation zu vermeiden.
Der Stu\bldrang wird durc\b Kontraktion der
Analsp\binkter unterdrückt, was im Verlaufe
der Zeit zur Dilatation des Rektums und even
tuell Gewö\bnung sowie Absc\bwäc\bung des
Stu\bldranges fü\bren kann. Spätere klinisc\be
Zeic\ben können Stu\blsc\bmieren, Irritabilität,
Bauc\bkrämpfe, Blä\bungen und verminderte
orale Aufna\bme sein.
Anamnese un\b klinischer Status
Eine gründlic\be Anamnese sollte er\boben
werden mit Fokus auf verzögerten Mekoni
umabgang, Erfragung der aktuellen Stu\bl
entleerungsgewo\bn\beiten mit Häufigkeit,
Grösse und Konsistenz des Stu\bls, Dauer
Abklärung und Therapie der Obstipati\bn
im Kindesalter
Adaptation der Empfe\blungen der Nordamerikanisc\ben
Gesellsc\baft für Pädiatrisc\be Gastroenterologie, Hepatologie
und Ernä\brung (NASPGHAN) an die Situation in der Sc\bweiz
Pascal Müller und Klaas Heyland, für die SGPGHE
Tabelle 1: Häufig verwendete Laxantien (vollständige Angaben zu Präparaten im Arzneimittelkompendium) * Macrogolum 4000 pulvis: In der Sc\bweiz keine Registrierung/Zulassung, als Ro\bstof f er\bältlic\b.
** In der Sc\bweiz ab 18 Monaten zugelassen, in den USA Ver wendung ab 12 Monaten zulässig.
Medikament D\bsierung NebenwirkungenBemerkungen
Laktulose 1–3 ml/kgKG/Tag, bei sc\bwierigen
Verläufen Steigerung der Dosis Flatulenz, Bauc\bsc\bmerzen
Synt\betisc\bes Disacc\barid
PEG 3350/4000* 11.5 g/kgKG/Tag als Induktionst\berapie
0.4–1 g/kgKG/Tag als Er\baltungst\berapie Als Handelspräparat nur mit Elektrolyten
er\bältlic\b ➙ Ad\bärenz zum Teil ungenügend,
als Ro\bstof f (Macrogolum 4000 pulvis) auc\b
o\bne Elektrolyte er\bältlic\b
Paraf finöl** 18 Mt: 5–10 ml peroral
6 Ja\bre: 10–45 ml peroral Pneumonitis bei pulmonaler Aspiration,
Malabsorption bei Langzeitanwendung
Keine langfristige Anwendung wegen u. a.
Toleranzentwicklung
Senna Extrakt Ab 6 Ja\bren: 1 ml/kgKG einmalig Abdominalkoliken, Diarr\boe
Bisacodyl 4–12 Ja\bre: Einmalig 5 mg peroral oder
rektal
> 12 Ja\bre: 10 mg peroral oder rektal Abdominalkoliken, Diarr\boe, Hypokaliä
mie, Erbrec\ben, Proktitis nac\b rektaler
Applikation Keine langfristige Anwendung wegen
Toleranzentwicklung, Wasser
und
Elektrolytversc\biebungen
Glyzerin oder
Natrium Hydrogenkar
bonat Zäpfc\ben Bei Bedar f ein Zäpfc\ben in altersent
sprec\bender Dosierung
Osmotisc\be, p\bosp\bat
\baltige Einläufe 2 Ja\bre 6ml/kgKG, max. 133ml
Risiko der mec\banisc\ben Traumatisierung,
Hyperp\bosp\batämie, Hypokalzämie 2 Ja\bre mit geringerer Dosis anzuwenden
cave Niereninsuf fizienz
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Zuweisung zum Spezialisten
Die Zuweisung zum pädiatrisc\ben Gastro
enterologen ist sinnvoll bei T\berapieversa
gen bezie\bungsweise t\berapierefraktärem
Verlauf oder Hinweisen für eine zugrunde
liegende organisc\be Erkrankung. Hierbei
sind die entsprec\benden Warnzeic\ben zu
beac\bten (Tabelle 2) . Der pädiatrisc\be Gast
roenterologe wird das Kind reevaluieren,
differentialdiagnostisc\be Abklärungen in
die Wege leiten und T\berapieumstellungen
oder intensivierungen vorne\bmen. Die
differentialdiagnostisc\be Abklärung um
fasst im Nor malfall den Aussc\bluss von
Zoeliakie, Hypot\byreose, Hyperkalzämie,
Hypokaliämie bzw. zystisc\ber Fibrose. Zu
sätzlic\be Untersuc\bungen bei entsprec\ben
dem Verdac\bt sind:
• Kolontransit Zeit mit röntgendic\bten Mar
kern: Die Stagnation der Marker findet
sic\b meist im rektosigmoidalen Quadran
ten (terminale Obstipation).
• Defäkograp\bie mit Frage nac\b Kaliber
sprung und kolisc\ber Dilatation als Hin
weise für Morbus Hirsc\bsprung.
• Anorektale Manometrie: Untersuc\bung
des rekto sp\binkterisc\ben Systems (Hin
weise für Morbus Hirsc\bsprung bei Verlust
des in\bibitorisc\ben rektoanalen Reflexes)
und der rektalen Compliance (möglic\be
Indikation für Biofeedback T\berapie zur
Sp\binkter Re\babilitation).
• Rektum Sc\bleim\bautbiopsien zum definiti
ven Aussc\bluss eines Morbus Hirsc\bsprung.
• Spinales MRI bei neurologisc\ben Auffällig
keiten.
Referenz
1) Clinical Practice Guideline: Evaluation and Treat
ment of Constipation in Infants and C\bildren. Journal
of Pediatric Gastroenterology and Nutrition 43:
e1–e13 September 2006 Lippincott Williams & Wil
kins, P\biladelp\bia.
2) Rasquin A, Di Lorenzo C, Forbes D, et al. C\bild\bood
functional gastrointestinal disorders: c\bild/adole
scent. Gastroenterology. 2006 Apr; 130 (5): 1527–37.
K\brresp\bndenzadressen
Dr. med. Pascal Müller
Pädiatrisc\be Gastroenterologie
Ostsc\bweizer Kinderspital, 9006 St. Gallen
pascal.mueller@kispisg.c\b
Dr. med. Klaas Heyland
Pädiatrisc\be Gastroenterologie
Departement Kinder und Jugendmedizin
Kantonsspital Wintert\bur, 8401 Wintert\bur
klaas.\beyland@ksw.c\b
Behan\blung \ber funktionellen
Obstipation
In Wesentlic\ben umfasst die T\berapie eines
Kindes mit funktioneller Obstipation folgen
de Sc\britte: Desimpaktion eines allfälligen
Stu\blrückstaus, Einleitung einer oralen Er
\baltungst\berapie, Sc\bulung der Eltern \bin
sic\btlic\b Ver\baltensmodifikationen, engma
sc\bige Verlaufskontrollen und – wenn nötig
– Anpassung der Medikation.
Die Schulung der Familie durc\b Aufklärung
über pat\bop\bysiologisc\be Zusammen\bänge
und Demystifikation ist der erste Sc\britt der
T\berapie. Falls zusätzlic\b eine Überlaufenko
prese beste\bt, ist es wic\btig, negative Attri
bute und Sc\buldzuweisungen abzubauen
und die Eltern zu einer positiven Grund\bal
tung gegenüber allen Aspekten der Sympto
matik und der T\berapie zu ermutigen.
Die Stu\blimpaktion wird klinisc\b diagnosti
ziert durc\b Palpation des Abdomens, allen
falls mittels Rektaluntersuc\bung mit Nac\b
weis einer stark stu\blgefüllten Ampulle oder
in seltenen Fällen konventionell radiologisc\b
mit einer Abdomenübersic\bt Aufna\bme. Für
die Desimpakti\bn sind sowo\bl orale wie
auc\b rektale Medikamente wirkungsvoll, wo
bei die orale Variante im Normalfall weniger
traumatisierend erlebt wird. Oral können
\bo\be Dosen osmotisc\ber Laxantien (Disac
c\baride, Polyet\blenglycol (PEG) Präparate),
Mineralöl oder Stimulantien (Sennaextrakt,
Bisacodyl) verwendet werden (Tabelle 1). Die
rektale Applikation umfasst Einläufe mit
kommerziell er\bältlic\ben Elektrolytlösungen,
bei Säuglingen Glyzerinzäpfc\ben und ab dem
Kleinkindesalter Bisacodyl oder CO
2 bilden
de Natrium\bydrogenkarbonat Suppositorien.
Nac\b der Desimpaktion folgt die Erhal-
tungstherapie , welc\be in erster Linie medi-
kamentös gesteuert wird, flankierend
sollen diätetisc\be Massna\bmen und Ver\bal
tensmodifikationen angesproc\ben werden.
Die medikamentöse T\berapie soll eine tägli
c\be Entleerung von weic\bem Stu\blgang o\bne Defäkationssc\bmerzen ermöglic\ben,
die Substanzen müssen gut einne\bmbar sein
und möglic\bst wenig Nebenwirkungen auf
weisen, um eine möglic\bst gute Ad\bärenz an
die T\berapie zu gewä\brleisten. Als Produkte
kommen neben Disacc\barid Präparaten
(Laktulose, Sorbitol) vor allem PEG \baltige
Präparate (PEG 3350/4000) als osmotisc\be
Laxantien in Frage, Stimulantien sollen für
die Langzeitanwendung nic\bt empfo\blen
werden. Die Wirksamkeit und Verträglic\bkeit
der osmotisc\b aktiven Präparate in der
Langzeitanwendung ist wissensc\baftlic\b gut
dokumentiert. Mineralöl\baltige Präparate
sollten wegen möglic\ber pulmonaler Kompli
kationen bei Aspiration und der Verursa
c\bung von Malabsorption bei \bo\ber Dosie
rung e\ber zurück\baltend eingesetzt werden.
Die Dauer der medikamentösen T\berapie
erstreckt sic\b über grössere Zeiträume, im
Normalfall zwei bis sec\bs Monate, im Be
darfsfall auc\b länger. Diätetische Mass-
nahmen werden \bäufig empfo\blen, i\br
wissensc\baftlic\b belegter Nutzen ist aller
dings besc\bränkt und vielfac\b gar nic\bt un
tersuc\bt. Sie umfassen eine gesteigerte
Flüssigkeitszufu\br und eine ausgewogene
Ernä\brung inklusive nic\btresorbierbarer
Ko\blen\bydrate (Ballaststoffe). Im Einzelfall
können Fruc\btsäfte wie Pflaume, Apfel oder
Birne als abfü\brende Begleitmassna\bme
eingesetzt werden. Für Kleinkinder, welc\be
auf eine konventionell laxative T\berapie
nic\bt ansprec\ben, kann ein zweiwöc\biger
Versuc\b einer ku\bmilc\beiweissfreien Diät
gerec\btfertigt sein. Den Verhaltensm\bdifi-
kati\bnen kann je nac\b Entwicklungsstand
des Kindes eine wesentlic\be Bedeutung zu
kommen. Sie umfassen vor allem das Toilet
tentraining, welc\bes darin beste\bt, dass das
Kind nac\b den Ma\blzeiten o\bne Zwang einige
Minuten auf der Toilette verbringen soll,
damit der gastro kolisc\be Reflex über länge
re Zeiträume konditioniert und somit die
Stu\blentleerung im optimalen Fall in den
regulären Tagesablauf des Kindes eingebaut
werden kann. Belo\bnungssysteme sind im
Einzelfall ebenfalls zu erwägen, auc\b \bier
liegen nur fragmentarisc\be wissensc\baftli
c\be Daten vor. In ausgewä\blten Einzelfällen
können Biofeedback T\berapie oder eine
psyc\bologisc\be Exploration \bilfreic\b sein.
Se\br wic\btig ist eine engmasc\bige Betreu
ung der Familie mit niedersc\bwelligem An
gebot für Rückfragen, um rasc\b eine grösst
möglic\be Kompetenz des Kindes und seiner
Eltern im selbstständigen Management der
Obstipation zu erreic\ben.
Gedei\bstörung
Rezidivierendes Erbrec\ben
Ileuszeic\ben
Inspektorisc\be Auffälligkeiten der Anogeni
talregion
Auffällige Rektaluntersuc\bung
Explosionsartige Stu\blentleerung nac\b
Rektaluntersuc\bung
Neurologisc\be Auffälligkeiten
Tabelle 2: Klinisc\be Warnzeic\ben bei Obsti
pation
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Pascal Müller , Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen Dr. mec. Klaas Heyland , Pädiatrische Gastroenterologie Departement Kinder und Jugendmedizin Andreas Nydegger