Der jugendliche Patient ist ein Mensch im Übergang vom Kindes- zum Erwachsenenalter; sein Leben ist geprägt durch Veränderung auf allen Ebenen: Körperlich, seelisch und in seinen Beziehungen zur Umwelt bleibt nichts wie es war.
Fortbildung / Formation continue
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Der Jugendliche:
Veränderung auf allen Ebenen
Der jugendliche Patient 2ist ein Mensch im
Übergang vom Kindes- zum Erwachsenen-
alter; sein Leben ist geprägt durch Verän-
derung auf allen Ebenen: Körperlich, seelisch
und in seinen Beziehungen zur Umwelt
bleibt nichts wie es war. Zu den zentralen
Entwicklungsaufgaben des Jugendalters ge-
hören:
1. die Integration der körperlichen Verän-
derungen in das Bild vom eigenen Selbst,
2. die Neuorganisation der Beziehungen zu
den Eltern und zu den Gleichaltrigen,
3. die Übernahme der männlichen oder
weiblichen Geschlechtsrolle,
4. die Auseinandersetzung mit den schu-
lischen Anforderungen und die Berufs-
wahl.
Die biologische, die psychologische und die
soziale Ebene der Veränderungen im Ju-
gendalter widerspiegeln sich in den drei Fra-
gen, die den Jugendlichen in der Konsultation
beim Arzt beschäftigen:
1. «Bin ich krank?» (der biologisch-medizi-
nische Aspekt),
2. «Wie geht es mir?» (der psychologische
Aspekt),
3. «Bin ich normal?» (der soziale und ent-
wicklungsbezogene Aspekt).
Auch der gesündeste Jugendliche erlebt sich
in der Beziehung zu seinem Körper zeiten-
weise gestört, denn im Unterschied zum
kindlichen Leib, mit dem er einfach identisch
war, ist alles am Körper des Jugendlichen
gross, sexuell aufgeladen und geschlechts-
reif geworden. Der Jugendliche erlebt diesen
ihm zunächst unvertrauten «adoleszentenGeschlechtskörper» als «aufdringlich verän-
derten Körper» (King, 2002, S. 172). Er hat
den unhinterfragten Leib der Kindheit verlo-
ren und muss sich nun diesen neuen Körper
aneignen, der ihm neue Möglichkeiten, aber
auch manche Peinlichkeit zu bescheren
droht. Deshalb tauchen auch immer wieder
Zweifel auf, ob diese oder jene Veränderung
Teil des normalen Entwicklungsprozesses
oder Ausdruck einer krankhaften Verände-
rung ist.
Der Jugendliche orientiert sich zunehmend
mehr an den Normen in der Gruppe der
Gleichaltrigen und weniger an den Normen
seiner Familie; die Peergruppe gibt auch Nor-
men für Krankheits- und Gesundheitsver-
halten vor. Sich anders als die Peers zu er-
leben oder zu verhalten ist schwierig und er-
fordert ein hohes Mass an Unabhängigkeit
und Selbstbewusstsein; das sieht man beim
Gruppendruck in Richtung Waschbrettbauch
und anorektisches Essverhalten. Dement-
sprechend schwierig ist es deshalb, medizi-
nisch notwendige Behandlungsmassnah-
men auch in der Peergruppe durchzuhalten,
z. B. in Lagersituationen. Die Gleichaltrigen
können aber auch, wenn sie über genügend
Informationen verfügen, unterstützend wir-
ken und dann mehr als die Eltern in der Lage
sein, die Compliance des jugendlichen Pa-
tienten zu fördern (vgl. Hagen und Noeker,
1999).
Schwierigkeiten im Zugang
zum Jugendlichen
Vor dem Hintergrund der Entwicklungsauf-
gabe, sich vermehrt von den Eltern unab-
hängig zu machen und gerade auch in kör-
perlichen Angelegenheiten autonomer zu
werden, kann der Besuch beim Arzt den Ju-
gendlichen in eine zweideutige Situation brin-
gen. In der Regel haben die Eltern ihn ange-
meldet und mindestens ein Elternteil be-
gleitet ihn zur Konsultation – in dieser
Konstellation betritt der Jugendliche in der
Rolle des abhängigen Kindes die Bühne der
ärztlichen Konsultation.Da zumeist die Mütter für die körperliche Ver-
sorgung der Kinder zuständig sind, wird
durch die Krankheit des Jugendlichen die
Mutter-Kind-Beziehung verstärkt, während
die Beziehung zum Vater oft im Hintergrund
bleibt. Auch dies steht im Widerspruch zur
Ablösungsbewegung. Dem Arzt fällt dann die
Aufgabe zu, durch sein Behandlungssetting
und seine Haltung kompensatorisch dazu An-
gebote zu machen, die die reiferen Anteile
des Jugendlichen und der Jugendlichen-El-
tern-Beziehung ansprechen und unterstützen.
Im Vergleich zu einer Alltagssituation bringt
die Konsultation beim Arzt einen Verlust an
physischer und psychischer Abgrenzung
mit sich, was der Entwicklungstendenz des
Jugendlichen, solche Abgrenzungen gegen-
über Erwachsenen zu errichten und auf-
rechtzuerhalten, entgegenläuft. Es wird über
ihn gesprochen, mit ihm oder mit seinen El-
tern; er fühlt sich psychisch blossgestellt und
der unangenehmen Situation ausgesetzt,
sich auch körperlich entblössen zu müssen.
In diesem Alter wird Nacktheit zunehmend
als peinlich erlebt und vermieden. Der Kör-
per, um den es beim Arzt geht, ist zwar der
Körper des Biologieunterrichts, aber er ist
voller sexueller Bedeutungen, Empfindungen
und Regungen, die vor Erwachsenen und
Fremden geheim gehalten werden. Be-
stimmte ärztliche Untersuchungen erlebt der
Jugendliche als noch peinlicher, wenn sie in
Anwesenheit der Eltern oder einer anderen
Drittperson vorgenommen werden.
Weil sich Jugendlicher und Eltern in ver-
schiedenen Welten mit verschiedenen Be-
dürfnissen und unterschiedlichen Wahrneh-
mungen befinden, ist zu klären, welcher der
Beteiligten welches Anliegen an den Arzt hat.
Decken sich die Sorgen und Vorstellungen
der Eltern mit dem Auftrag des Jugendlichen
selber? Da Konflikte zwischen Jugendlichen
und ihren Eltern die Regel und nicht die Aus-
nahme sind, ist davon auszugehen, dass
auch in Bezug auf die Konsultation beim Arzt
Konflikte bestehen oder entstehen können.
Kann sich der Arzt in den Jugendlichen und
in seine Eltern einigermassen einfühlen und
gelingt es ihm dabei, einen gleichmässigen
professionellen Abstand zum Jugendlichen
wie zu seinen Eltern aufrechtzuerhalten, so
wird ihm der Zugang zum Jugendlichen bes-
ser gelingen, als wenn er sich einer der bei-
den Seiten zu nahe fühlt und sich – bewusst
oder unbewusst – mit dieser verbündet. Un-
Zum Umgang mit dem jugendlichen
Patienten und seinen Eltern
in der kinderärztlichen Praxis
1
Jürgen Grieser, Urs Eiholzer, Zürich
1 Stark gekürzte Fassung eines Beitrags zum «Hand-
buch der Jugendmedizin», hrsg. von B. Stier und M.
Weissenrieder, Springer-Verlag, im Druck.
2 Um die Lesbarkeit nicht zu erschweren, benutzen wir
für «die Jugendliche» und «den Jugendlichen», «die Ärz-
tin» und «den Arzt» meist nur die männliche Form.
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günstig ist es, wenn er sich aus einem ver-
kürzten Verständnis der Autonomiebedürf-
nisse des Jugendlichen mit diesem identifi-
ziert und sich gegen die Eltern stellt. In einer
solchen Konstellation kommt dem Arzt das
historisch gewachsene Identitätsgefühl des
Pädiaters in die Quere, das Berger (1997, S.
112) so charakterisiert: «Überidentifikation
mit dem Kind, Infantilisierungsneigung und
latente Vorwurfshaltung gegenüber den El-
tern, die Schwierigkeit, einmal gefasste,
emotional bestimmte Einstellungen – bei-
spielsweise zur Familiensituation – genauer
zu hinterfragen bzw. zu relativieren». Auch ist
darauf hinzuweisen, dass Ablösung von den
Eltern nicht die Allerweltslösung für Adoles-
zentenprobleme ist, oft werden Jugendliche
auch vorschnell in die Welt hinausgedrängt
oder von ihren Eltern auf andere Art über-
fordert und emotional im Stich gelassen.
Vom Kinderarzt- zum
Jugendmedizinersetting
Wenn man den Jugendlichen seit dem Säug-
lingsalter kennt und regelmässig gesehen
hat, fällt der mit dem Älterwerden des Kin-
des fällige Wechsel von der Arzt-Mutter
(Kind-)Beziehung hin zu einer Arzt-Jugend-
licher (Eltern-)Beziehung oft allen Beteiligten
schwer. Verpasst man jedoch den richtigen
Zeitpunkt für diesen Wechsel, so wird man
den Jugendlichen als Patienten verlieren. Im
Kindesalter entscheidet die Qualität der Be-
ziehung zwischen dem Arzt und der Mutter
darüber, ob der Patient wiederkommt. Im Ju-
gendalter ist entscheidend, ob es dem Ju-
gendlichen beim Arzt gefällt. Seine Mutter
würde das alte, vertraute Arzt-Mutter
(Kind-)Setting hingegen viel länger akzep-
tieren, aber für die medizinische Betreuung
im Jugendalter ist es entscheidend von Be-
deutung, den Jugendlichen auch hier vom Ob-
jekt zum Subjekt werden zu lassen, zum Ak-
teur also auch in der Frage der Arztwahl. Er
sollte entscheiden können, ob er weiter zum
Kinderarzt gehen will oder ob er zu einem
Arzt für Erwachsene wechselt.
Es gibt gute Argumente, welche für eine wei-
tere Betreuung durch den Kinderarzt spre-
chen. Ebenso valable Gründe sprechen für
die Weiterbetreuung durch einen Hausarzt
für Erwachsene. Für Ersteres spricht die Tat-
sache, dass man sich schon lange kennt,
dass die ganze Vorgeschichte bekannt ist
und dass oft bereits eine Beziehung besteht
und nicht zuerst eine neue geschaffen wer-den muss. Vor allem bei chronisch kranken
Kindern ist ein forcierter Wechsel oft
schwierig und gelingt häufig nicht. Solche Ju-
gendliche verabschieden sich vom Kinder-
arzt, ohne aber bei einem Arzt für Erwach-
sene anzudocken. Für den Wechsel zu einem
Hausarzt für Erwachsene spricht, dass da-
mit oft auch der Wechsel von der Beziehung
des Typs Arzt-Mutter(Kind-)-Beziehung zu ei-
ner Beziehung vom Typ Arzt-Jugendlicher
(-Eltern) erleichtert wird. Positiv zu Buche
schlagen kann bei einem Arztwechsel auch
die Tatsache, dass ein neuer Arzt den Ju-
gendlichen aus einer neuen Perspektive
wahrnehmen und auch neue diagnostische
und therapeutische Überlegungen anstellen
kann.
Den Übergang vom Kinderarzt- zum Ju-
gendmedizinersetting leitet der Arzt damit
ein, dass er die künftige Trennung der
Sprechstunde in einen ersten Teil, bei wel-
chem der Jugendliche und der Arzt alleine
sind, und einen weiteren Teil, zu welchem die
begleitende Mutter und der Vater einbezogen
werden, im Voraus ankündigt und mit dem
Patienten und seinen Eltern diskutiert: «Du
bist nun bereits so alt, dass es vielleicht Sinn
macht, dass wir uns beim nächsten Mal für
die Untersuchung zuerst alleine sehen und
erst nachher die Untersuchungsbefunde
gemeinsam mit deinen Eltern besprechen.»
Der Arzt sieht dann, wie der Jugendliche und
seine Eltern auf diese Ankündigung reagie-
ren und kann seine Pläne entsprechend an-
passen. In diesem Moment findet ein inten-
siver Austausch zwischen dem Patienten und
den Eltern statt – mit Blicken, Körperaus-
druck und kurzen Sätzen. Man erhält damit
in kurzer Zeit einen wichtigen Einblick in die
aktuelle Verfassung und die Entwicklungs-
situation der Familie. Selten einmal reagie-
ren die Eltern unwirsch, wenn man ihnen
dann vorschlägt, die Untersuchung im War-
tezimmer abzuwarten. Auf jeden Fall sollte in
diesem Stadium der Begegnung aber ver-
mieden werden, dass sich jemand brüskiert
oder überrumpelt fühlt.
Ab welchem Alter man einem Jugendlichen
oder einem älteren Kind eine Untersuchung
und ein Gespräch ohne Anwesenheit des be-
gleitenden Elternteils vorschlagen soll, hängt
etwas von der Reife des Betroffenen sowie
auch von der Reife der Beziehung zum Arzt
ab. Bewährt hat es sich, ein solches Vorge-
hen etwa ab einem Alter von 13 Jahren vor-
zuschlagen.Wenn dem Kinderarzt daran liegt, dass Ju-
gendliche weiter in seine Sprechstunde kom-
men, dann empfiehlt es sich, den Tages- oder
Wochenablauf der Praxis so zu strukturieren,
dass es Zeiten mit einem Schwerpunkt für
Säuglinge, für ältere Kinder und für Jugend-
liche gibt. Jugendliche fühlen sich im Warte-
zimmer des Kinderarztes neben Müttern mit
Säuglingen und Kleinkindern oft deplaziert. Es
ist für den Arzt auch einfacher, wenn er sich
nicht nach jedem Patienten auf eine andere
Art der Beziehung einstellen muss.
Mit dem Jugendlichen
im Sprechzimmer
Der Jugendliche sitzt meist nicht alleine im
Wartezimmer, sondern wird von Vater, Mut-
ter, manchmal auch von Geschwistern oder
Freunden begleitet. Jetzt muss der Arzt ent-
scheiden, ob und wie er Einfluss darauf neh-
men will, wer nachher bei der Untersuchung
und beim Gespräch bei ihm im Sprechzim-
mer sitzt – der Jugendliche alleine oder zu-
sammen mit seiner Mutter, seinem Vater
bzw. seinen Eltern.
Es ist unbedingt notwendig, sich auf die
Sprechstunde kurz vorzubereiten und Noti-
zen von früheren Konsultationen durchzule-
sen. Ein Jugendlicher erträgt es schlechter als
ein Erwachsener, wenn er sich als Nummer
behandelt fühlt. Wenn man in der Kranken-
geschichte Hobby, Schulsituation, Berufs-
wünsche und aktuelle Ereignisse notiert und
diese vor der nächsten Konsultation schnell
durchliest, dann kann man gezielt das Ge-
spräch dort beginnen, wo es beim letzten Mal
aufgehört hat. Dieses Vorgehen vermittelt
Geborgenheit; «mein Arzt interessiert sich für
mich». Auch für den Arzt wird das Gespräch
dadurch befriedigender.
Das Gespräch über die psychosoziale Situ-
ation des Jugendlichen gehört zu jeder Kon-
sultation. Die psychosoziale Situation muss
gezielt exploriert werden, weil diese von den
Jugendlichen in der Regel nicht spontan an-
gesprochen wird. Als Einstieg bieten sich die
üblichen Fragen nach Schule, Hobbys, Sport
und Kollegen an. Der Arzt muss wissen, wie
es beispielsweise in der Schule und in der
Gruppe der Gleichaltrigen geht. Wenn man
die gleichen Fragen nachher dem beglei-
tenden Elternteil stellt, kommen Konflikte,
unterschiedliche Wahrnehmungen und der
Realitätsbezug des Jugendlichen recht
schnell zur Darstellung. Zu wissen, woher der
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Jugendliche Bestätigung und Anerkennung
bezieht und welche Umstände seine Selbst-
wertzweifel schüren und zu seinem Gefühl
beitragen, welcher Norm auch immer nicht
zu genügen, ist zentral für das Verständnis
der Situation des Jugendlichen.
Bei vielen jugendlichen Patienten zeigt sich,
dass sie nicht krank sind, sondern unter dem
Gefühl leiden, nicht der Norm zu entsprechen
– sie erleben sich als zu gross, zu klein, zu
dick, zu dünn, gehemmt usw. Hier genügt es
schon oft, sie vor dem Hintergrund der al-
tersgerechten Norm zu untersuchen und sie
aufzuklären. Manchmal kommen auch hart-
näckige Selbstwertprobleme zur Sprache, die
zum Teil mit der Diskrepanz zwischen ge-
sellschaftlich vermitteltem Körper-Ideal und
dem Bild, das der Jugendliche von sich sel-
ber hat, zu tun haben.
Nach einer kurzen Klärung des Auftrags mit
dem Jugendlichen – «Was möchtest du von
mir?» «Was fehlt dir?» – beginnt der Unter-
suchungsgang, auf den aus Platzgründen an
dieser Stelle im Einzelnen nicht weiter ein-
gegangen werden kann. Wichtig ist, über In-
halt und Zweck jedes einzelnen Schrittes kurz
zu orientieren. Während oder auch nach der
Untersuchung ergeben sich oft Fragen um die
Normalität der Entwicklung: «Ist mein Penis
nicht zu klein» oder «zu krumm» oder «die Vor-
haut ist hier angewachsen» (Frenulum). Bei
Mädchen drehen sich solche Fragen meist um
die Brüste. Wird gefragt, ob die Brüste so
bleiben wie sie sind, so weist dies auf Unzu-
friedenheit mit der Grösse oder Form hin. Vie-
le junge Männer haben merkwürdige Vor-
stellungen von einem normalen männlichen
Genital sodass man ihnen, falls man Genitale
und Hoden untersucht, auch ohne entspre-
chende Fragen die Normalität der Befunde
erklären sollte. Jugendliche haben wenig Ver-
gleichsmöglichkeiten und beziehen ihre Bil-
dung die Anatomie und Funktion der Ge-
schlechtsteile betreffend oft aus Pornobildern
und -filmen. Verzerrte Vorstellungen darüber,
was normal oder wünschenswert ist und was
nicht, bestehen auch bezüglich anderer Or-
gane. So kursieren falsche Vorstellungen über
eine normale Muskelentwicklung und darü-
ber, wie sehr man diese durch Training und
Medikamente beeinflussen kann. Ähnliches
gilt für die Körperbehaarung bei weiblichen
und männlichen Jugendlichen.
Während der Untersuchung kann man im Ge-
spräch zu wichtigen Informationen und Ein-drücken kommen. Solange die Eltern nicht
mit dabei sind, wird das Gespräch über Be-
ruf und Freizeit von den Jugendlichen als
Interesse an ihrer Person und nicht als be-
drohliches Eindringen in ihre Intimsphäre
erlebt. Die Antworten ergeben Einblicke in
Leistungsprobleme, die Integration in die
Peergruppe und den täglichen Stress des Ju-
gendlichen. Ein lockeres Gespräch über die
Ziele (Berufsziele usw.) bietet Aufschlüsse
über die Reife im Umgang mit der äusseren
Realität. Wie konkret sind die beruflichen Vor-
stellungen schon? Wie weit ist die Lehrstel-
lensuche gediehen? Wie realitätsgerecht sind
seine Wünsche und Ziele?
Ein wichtiger Teil der gesamten Untersu-
chung ist die Wahrnehmung des ganz per-
sönlichen Eindrucks, den der Jugendliche
beim Arzt hinterlässt (Wie wirkt der Jugend-
liche auf mich? Wie könnten ihn seine Eltern
erleben? Wie könnte er auf Gleichaltrige wir-
ken? Ist er ein Leadertyp? Einer der geplagt
wird? Ein Besserwisser?). Vor Ende der
Untersuchung wird dann noch gefragt: «Hast
du sonst noch irgendwo Schmerzen oder
habe ich etwas nicht angesehen, von dem du
nicht sicher bist, ob es normal ist?» «Gibt es
noch etwas, was du ansprechen möchtest,
bevor wir nun deine Eltern ins Zimmer ho-
len?» Manchmal kommt den Patienten dann
noch etwas in den Sinn, das sie vorher ver-
gessen hatten, gelegentlich handelt es sich
dabei sogar um die wichtigste Frage, wie
z. B. bei Mädchen, ob sie die Pille haben kön-
nen.
Das Gespräch mit dem
Jugendlichen und seinen Eltern
Wenn der Jugendliche nicht alleine in die Pra-
xis gekommen ist, dann werden im An-
schluss an die Untersuchung und das Ge-
spräch mit dem Jugendlichen die Eltern ins
Sprechzimmer gebeten. Es ist immer wieder
beeindruckend, mitzuerleben, wie ältere Kin-
der und jüngere Jugendliche im Gespräch un-
ter vier Augen schon auf einer Erwachse-
nenebene kommunizieren können, um dann
aber sofort in die Kinderrolle zurückfallen,
wenn die Eltern ins Zimmer kommen.
Der Arzt fasst den Auftrag und die Befunde
zusammen und stellt dazu seine Überlegun-
gen an. Dabei beobachtet er die Reaktionen
der Anwesenden. Man merkt dann schnell,
ob die Eltern Dinge anders sehen, ob bei-
spielsweise ihr Auftrag an den Arzt anderslautet als der ihres Sohnes oder ihrer Toch-
ter. Zwischen den Problembeschreibungen
des Jugendlichen selber und denen der Eltern
ergeben sich in der Regel Widersprüche bis
hin zu offener Uneinigkeit über den Zweck
des Besuchs beim Arzt. Es geht nun darum,
diese Differenzen zwischen den Schilderun-
gen des Jugendlichen, die dieser oft nur im
Einzelgespräch mit dem Arzt formulieren
kann, und denjenigen der Eltern zum Thema
werden zu lassen und als Drittes auch noch
die Sicht des Arztes selber zur Verfügung zu
stellen.
Dabei gilt es im Umgang mit den Informa-
tionen und Anliegen des Jugendlichen grös-
ste Sorgfalt walten zu lassen. Wenn man
die Mitteilungen der Jugendlichen zu-
sammenfasst, muss man Acht geben, dass
man die Geheimhaltungspflicht, welche
auch gegenüber den Eltern besteht, nicht
verletzt. Der Arzt ist an das Vertrauen ge-
bunden, das ihm der Jugendliche entgegen-
gebracht hat. Auch zwischen dem Jugend-
lichen und seinen Eltern steht die ärztliche
Geheimhaltungspflicht als eine Grenze, die
der Arzt zu respektieren hat. Indem er aus-
drücklich auf diese Grenze verweist, macht
er die Familie darauf aufmerksam, dass es
Grenzen gibt und dass auch der Jugendliche
ein Recht auf seinen Privatraum hat, wozu
seine eigene Gedankenwelt gehört, und dass
die Eltern darauf verzichten müssen, über
den Arzt in die Geheimnisse des Jugend-
lichen eingeweiht zu werden, wenn ihr
Kind dies nicht will. Mehr darüber erfahren,
wie es dem Kind geht, ist oft ein zentraler
Wunsch der Eltern an die Konsultation beim
Arzt. Ein Satz wie: «Ihr Sohn hat aber vorher,
als er mit mir alleine sprach, die Situation so
und so geschildert» bedroht diese Abgren-
zungen und die Vertrauensbasis zwischen
Patient und Arzt und sollte deshalb nicht
ohne Rücksprache mit dem Jugendlichen
gesagt werden. Im Zweifelsfall muss man
sich vorher vom jugendlichen Patienten be-
stätigen lassen, ob man dies oder jenes
auch in Anwesenheit der Eltern ansprechen
soll oder darf.
Es ist aber auch wichtig, dass die Wider-
sprüche zu Tage treten können. Manche Ju-
gendliche haben Schwierigkeiten, die Realität
wahrzunehmen; dann gibt es inhaltliche Dif-
ferenzen zwischen seinen Einschätzungen
und denen der Eltern, die solche Dinge oft an-
ders wahrnehmen, mitunter auch realitäts-
gerechter – aber auch nicht immer. Solche
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Differenzen gibt es beispielsweise dann,
wenn ein Jugendlicher seine schulischen oder
sozialen Schwierigkeiten verleugnet. Ande-
rerseits übertreiben überbesorgte oder über-
motivierte Eltern die Schwierigkeiten ihrer
Kinder und malen die schlimmsten Entwick-
lungen an die Wand.
Das gemeinsame Gespräch mit dem Ju-
gendlichen und seinen Eltern beinhaltet ne-
ben vielen verbalen Aussagen auch viele im-
plizite Informationen über die Familiendy-
namik. Der Arzt bemüht sich, gut zuzuhören
und so viel wie möglich und so klar wie mög-
lich zu erklären. Er kann gegen Ende des Ge-
spräches noch einmal auf den Anfang zu-
rückkommen, um dem Patienten und seinen
Eltern zu zeigen, was die getrennte Unter-
suchungs- und Gesprächssituationen ge-
bracht hat. «Wir haben gesehen, dass es
unterschiedliche Meinungen zwischen dir
und Ihnen als Eltern darüber gibt, ob die Akne
dringend behandelt werden muss. Das haben
wir nur deshalb herausgefunden, weil du dei-
ne Ansicht im Gespräch mit mir alleine deut-
licher formulieren konntest, als du das
bisher deinen Eltern gegenüber darstellen
konntest. Auch Sie als Eltern sind nun ent-
lastet, weil Sie nicht mehr nur Vermutungen
darüber anstellen müssen, ob Ihre Tochter
unter der Akne wirklich so sehr leidet, wie Sie
das dachten.» Diese Zusammenfassung des
Arztes weist die Familie darauf hin, dass es
in der heutigen Konsultation sinnvoll war,
sich zu trennen, und dass es sich auch sonst
lohnen kann, eigene Räume einzunehmen
und auch widersprüchliche Meinungen zu
vertreten. Manchmal kann man auch erle-
ben, wie die Eltern die Anregung des Arztes
aufnehmen und in den nächsten Konsul-
tationen mehr darauf hintendieren kön-
nen, dass der Jugendliche alleine zum Arzt
geht.
Der Jugendliche braucht ein abgegrenztes
Gegenüber mit einer eigenen Identität, damit
wird der Andere als Anderer interessant. Das
Ziel der Arzt-Patienten-Beziehung kann nicht
sein, sich zum Freund des Jugendlichen zu
machen. Eine einseitige Identifikation mit
dem Jugendlichen oder mit den Eltern rächt
sich immer. Erliegt man der Versuchung, sich
mit dem Jugendlichen gegen seine Eltern zu
verbünden, so wird sich der Jugendliche viel-
leicht plötzlich wieder mit seinen Eltern so-
lidarisieren und der Arzt hat sich mit seinem
unprofessionellen Engagement ins Abseits
manövriert. Schluss
Jugendliche Patienten mit einer chronischen
Krankheit und deren Eltern haben grössere
Schwierigkeiten als andere Familien, den Pro-
zess der Ablösung und Neuverhandlung der
Beziehungen erfolgreich zu durchlaufen,
weil der Patient wegen der mit der Krankheit
verbundenen Sorgen, Pflege- oder Auf-
sichtsbedürftigkeit im Kinderstatus gegen-
über den Eltern bleibt. Die Eltern haben
Angst, dem nun jugendlichen Kind die Ver-
antwortung zu übergeben, und der Jugend-
liche spielt ihnen gegenüber seine Macht
aus, die er mit der Verbesserung oder Ver-
schlechterung seiner Symptomatik auf das
Befinden der Eltern hat. Hier kann dem Arzt
die Rolle eines Entwicklungshelfers zukom-
men, der diese Ablösungsschwierigkeiten
erkennen und dafür sorgen kann, dass der Ju-
gendliche mehr Verantwortung für sich sel-
ber übernimmt. Dabei muss der Arzt voran-
gehen und selber den Jugendlichen in die
Verantwortung nehmen, wobei er damit rech-
nen muss, dass sowohl der Jugendliche als
auch die Eltern zunächst einmal Angst davor
haben werden, die Zuständigkeiten und da-
mit die Verantwortung neu zu verteilen.
Ein solcher Umgang des Arztes mit dem ju-
gendlichen Patienten und seinen Eltern in der
jugendmedizinischen Praxis ist die Grundla-
ge dafür, dass er von beiden Seiten, dem Ju-
gendlichen wie seinen Eltern, als Begleiter in
den medizinischen Belangen der Pubertäts-
und Adoleszentenentwicklung optimal in
Anspruch genommen und wirksam werden
kann.
Referenzen
– Berger, Margarete (1997): Erfahrungen in der Zusam-
menarbeit mit Kinderärzten. Kinderanalyse 2/97,
S. 103–123.
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Störung versus Kompetenzgewinn. In: Oerter,
Rolf; Hagen, Cornelia von; Röper, Gisela; Noam, Gil
(Hrsg.): Klinische Entwicklungspsychologie. Weinheim
(Psychologie Verlags Union).
– King, Vera (2002): Die Entstehung des Neuen in der
Adoleszenz. Opladen (Leske + Budrich).
Korrespondenzadresse:
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