In der Schweiz werden jährlich rund 200 Kinder und Jugendliche wegen einer Neoplasie abgeklärt und behandelt. Rund drei Viertel von ihnen benötigen, evtl. in Kombination mit Radiotherapie oder Chirurgie, eine Chemotherapie.
Fortbildung / Formation continue
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Vol. 16 No. 1 2005
Einleitung
In der Schweiz werden jährlich rund 200 Kin-
der und Jugendliche wegen einer Neoplasie
abgeklärt und behandelt. Rund drei Viertel
von ihnen benötigen, evtl. in Kombination mit
Radiotherapie oder Chirurgie, eine Chemo-
therapie. Fieber in schwerer Neutropenie
(Neutrophilenzahl < 0,5 x 10
9)/l) ist die häu-
figste potenziell lebensgefährliche Kompli-
kation der Chemotherapie bei Kindern und
Jugendlichen mit malignen Erkrankungen
1).
Knapp die Hälfte aller Kinder und Jugend-
lichen unter Chemotherapie müssen min-
destens einmal wegen Fieber in Neutropenie
hospitalisiert werden
2). Die Einführung einer
sofortigen empirischen intravenösen Breit-
spektrum-Antibiotikatherapie hat die Letali-
tätsrate dieser Komplikation, die früher bei
gramnegativen invasiven bakteriellen Infek-
tionen bis 80% betrug, drastisch gesenkt auf
heute rund 1% nach konventioneller, nicht
myeloablativer Chemotherapie
1). Die notfall-
mässige Hospitalisation mit der oben er-
wähnten Antibiotikatherapie und weiteren
supportiven Massnahmen nach Bedarf ist
deshalb seit Jahrzehnten der etablierte
Goldstandard der Therapie von Fieber in Neu-
tropenie bei Kindern und Jugendlichen.
Aktuell offene Fragen
Risikoadaptierte Behandlung
Seit einigen Jahren versuchen verschiedene
Studiengruppen, die Therapie bei Fieber in
Neutropenie auch an das konkrete Risiko des
individuellen Patienten zu adaptieren. Mit Ri-
siko ist hier die Wahrscheinlichkeit einer
schweren Infektion, z.B. Bakteriämie, Sepsis,
Pneumonie, gemeint. Es besteht ein Exper-
tenkonsens, dass alle Kinder und Jugend-
lichen mit Fieber in Neutropenie – auch die-
jenigen mit vermutlich niedrigem Risiko einer
schweren bakteriellen Infektion – initial mit
intravenösen Antibiotika behandelt werden
sollen
1), 3), dies zur Vermeidung bzw. adäqua-
ten Behandlung einer sich eventuell entwi-
ckelnden Sepsis, vor allem durch gramne-
gative Erreger und insbesondere Pseudo-
monas ssp. Daneben ist die Strategie der frü-hen Spitalentlassung mit oder ohne Weiter-
führung der Antibiotikatherapie bei günsti-
gem Verlauf (early discharge) wissen-
schaftlich gut begründet
3), 4), 5) . Sie wird
auch breit klinisch angewandt, meist nach
rund drei Tagen Hospitalisation mit intrave-
nöser Antibiotikatherapie.
Hingegen besteht in der pädiatrischen On-
kologie Uneinigkeit darüber, ob die orale, am-
bulant verabreichte Antibiotikatherapie im
Anschluss an eine initiale intravenöse Anti-
biotikagabe und einige Stunden stationärer
Überwachung (sequential approach) bei Fie-
ber und Neutropenie mit niedrigem Kompli-
kationsrisiko angewandt werden darf. Bisher
wurden zu dieser Frage drei randomisierte
kontrollierte Einzelzenterstudien in Houston,
USA
6), São Paulo, Brasilien 7), und Buenos
Aires, Argentinien 8). Sie alle kamen zum
Schluss, dass keine signifikanten Unter-
schiede betreffend Mortalität (überall 0%)
und Therapieeffizienz bestehen zwischen der
Fortführung der intravenösen Antibiotika-
therapie im Spital und dem Wechsel auf am-
bulant verabreichte orale Antibiotika. Ge-
stützt auf diese Resultate, kommen zwei ak-
tuelle Übersichtsarbeiten zum Schluss, dass
Kinder mit Fieber in Neutropenie und nied-
rigem Risiko für Komplikationen nach kurz
dauernder intravenöser stationärer Ini-
tialbehandlung mit genügender Sicherheit
ambulant
5)beziehungsweise ambulant und
mit oralen Antibiotika 3)behandelt werden
können. Die drei erwähnten Studien weisen
jedoch einzelne methodologische Mängel
auf, welche die Generalisierbarkeit ihrer
Resultate einschränken
9). Deshalb kommen
Hughes et al. 4)in den IDSA-Guidelines zur ab-
schliessenden Einschätzung, dass heute zu
wenig Daten zur Verfügung stehen, um
in dieser Situation eine empirische orale An-
tibiotikatherapie bei Kindern zu empfeh-
len. Auch Alexander et al.
1)stellen fest, dass
der Wechsel von stationär verabreichter
intravenöser zu ambulanter oraler Antibio-
tikatherapie innert 24 Stunden für Kinder
mit Fieber in Neutropenie und niedrigem
Risiko zuerst im Rahmen von sorgfältig
kontrollierten Studien evaluiert werden soll, bevor dieses Vorgehen eventuell zum
neuen Behandlungsstandard erklärt werden
kann.
Risikobeurteilung
Teilweise beruht das Fehlen einer Antwort auf
die Frage der risikoadaptierten Behandlung
darauf, dass es in der pädiatrischen Onko-
logie auch die Antwort auf die Frage der Ri-
sikobeurteilung bei Fieber in Neutropenie
fehlt: Es gibt keine international anerkannte
und validierte Methode, das Komplikations-
risiko von pädiatrischen Episoden von Fieber
in Neutropenie zu beurteilen. Dies im Gegen-
satz zur Erwachsenenonkologie, wo die
Multinational Association for Supportive
Care in Cancer (MASCC, www
.mascc.org ) ei-
nen klinischen Risikoindex erarbeitet hat, der
das Komplikationsrisiko bei erwachsenen Pa-
tienten mit Fieber in Neutropenie mit einer
guten Sensitivität und Spezifität erfasst
10 ).
Dieser Index, der multizentrisch und multi-
national entwickelt und validiert wurde, ist
jedoch nicht auf Kinder und Jugendliche mit
Fieber in Neutropenie übertragbar, da bei-
spielsweise «Alter unter 60 Jahren» und «Ab-
wesenheit einer chronisch obstruktiven
Pneumopathie» zu den relevanten Kriterien
gehören
9). In der Kinderonkologie gibt es zu
dieser Fragestellung einige monozentrische
Studien, jedoch keine multizentrischen oder
gar multinationalen Studien
5). Die verschie-
denen, aus diesen Einzelstudien resultie-
renden Risikoscores und -kriterien wider-
sprechen sich teilweise. Der kleinste ge-
meinsame Nenner, die Kombination von
gutem Allgemeinzustand sich bereits erho-
lender Knochenmarkfunktion und die Abwe-
senheit einer Komorbidität, ist zur Definition
einer Episode von Fieber in Neutropenie mit
niedrigem Risiko einer schweren Infektion
nicht sicher ausreichend
3), 5), 9) . Für pädiatrisch
onkologische Patienten mit Fieber in Neu-
tropenie ist somit keine Methode interna-
tional etabliert und ausreichend validiert, die
das Risiko einer schweren Infektion anhand
von den innert weniger Stunden verfügbaren
Informationen aus Klinik und Hilfsuntersu-
chungen vorhersagen könnte.
Die SPOG 2003 FN-Studie
Innerhalb der Schweizerischen Pädiatri-
schen Onkologiegruppe (SPOG) wurde im
Verlauf des Jahres 2003 ein Forschungs-
protokoll zu diesen beiden Fragen bei Fieber
in Neutropenie (FN) entwickelt. Die Patien-
tenrekrutierung für die multizentrisch aus-
SPOG 2003 FN
Risikobeurteilung und risikoadaptierte Behandlung bei Kindern
und Jugendlichen mit Fieber in Neutropenie
Roland A. Ammann, Bern
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gelegte prospektive SPOG 2003 FN-Studie
hat seit Januar 2004 in den Kinderonkolo-
giezentren Basel, Bern und Zürich begonnen.
Weitere Zentren innerhalb der Schweiz wer-
den folgen, die Studie dauert voraussichtlich
bis 2008. Die ursprünglich nur national aus-
gelegte Studie wurde im Verlauf des Jahres
2004 so adaptiert, dass sie zur schnelleren
Erreichung der Studienziele und zur besse-
ren Generalisierbarkeit ihrer Resultate inter-
national erweitert werden konnte: Seit No-
vember 2004 nimmt das Zentrum für pädia-
trische Onkologie am Universitätsklinikum
Bonn an der Studie teil. Weitere Zentren in
Deutschland und in den Niederlanden planen
ebenfalls eine Teilnahme.
Selbstverständlich sind die Bewilligungen
durch die lokalen und nationalen Ethikbe-
hörden (in der Schweiz: Institutionelle Ethik-
kommission sofern vorhanden, kantonale
Ethikkommission, Swissmedic) Vorausset-
zung zur Teilnahme einzelner Kinderonkolo-
giezentren. Bedingung zur Studienteilnahme
der einzelnen Patienten ist die schriftliche
Einverständniserklärung der Eltern und evtl.
der Patienten selber, nach ausführlicher In-
formation (written informed consent).
Beobachtender Studienteil:
Risikobeurteilung
Der rein beobachtende, nicht interventionelle
Studienteil erfasst alle zwischen einem und
18 Jahre alten Kind und Jugendlichen, die sich
an einem der teilnehmenden Zentren mit
Fieber in Neutropenie vorstellen. (Patienten,
die nach Hochdosistherapie [myeloablative
Therapie] mit Transplantation autologer oder
allogener hämatologischer Stammzellen Fie-
ber in Neutropenie bekommen, sind aller-
dings ausgeschlossen, da diese Patienten
gemäss heutigem Kenntnisstand immer ein
hohes Risiko von Komplikationen haben.)
Das Ziel dieses rein beobachtenden Stu-
dienteils ist es, Zusammenhänge zwischen
den notfallmässig und innerhalb der ersten
maximal 22 Stunden verfügbaren Informa-
tionen einerseits (aus Anamnese, Status,
routinemässig durchgeführten Hilfsuntersu-
chungen wie Blutbild und C-reaktivem Pro-
tein sowie kurzfristigem klinischen Verlauf),
und dem Ergebnis der Episode von Fieber in
Neutropenie andererseits zu suchen (z.B.
Verlauf ohne oder mit infektiologischen
Komplikationen, Notwendigkeit des Wech-
sels der antibiotischen Behandlung, lebens-
bedrohliche Komplikationen). Aus diesen Zu-
sammenhängen soll schliesslich ein mög-lichst einfaches, jedoch trotzdem zuverläs-
siges, also sensitives und spezifisches In-
strument (z.B. Risikoscore oder Entschei-
dungsbaum) konstruiert werden, um das Ri-
siko von Komplikationen bei Fieber in Neu-
tropenie auch in der pädiatrischen Onkolo-
gie anhand der in der Notfallsituation oder
der innert weniger als einem Tag verfügbaren
Informationen vorhersagen zu können. Die
Behandlung der Patienten, die nicht zusätz-
lich am interventionellen Teil der Studie teil-
nehmen, wird vom zuständigen pädiatrischen
Onkologen festgelegt und ist nicht von der
Studie vorgegeben.
Interventioneller Studienteil:
Risikoadaptierte Behandlung
Alle Patienten des beobachtenden Studien-
teils, die gemäss dem heutigem Stand des
Wissens ein niedriges Risiko für schwere In-
fektionen haben, können zusätzlich am
interventionellen Teil der Studie teilnehmen.
Auch sie werden initial hospitalisiert und
intravenös antibiotisch behandelt. Die Wahl
dieses Antibiotikums trifft wieder der be-
handelnde pädiatrische Onkologe aufgrund
der konkreten klinischen Situation und des
lokalen Keimspektrums samt Resistenzen.
Falls nach 8 bis 22 Stunden klinischer Be-
obachtung weiterhin alle recht eng (also vor-
sichtig) gefassten Kriterien einer Episode mit
niedrigem Komplikationsrisiko erfüllt sind,
folgt ein Randomisationsentscheid zur wei-
teren Behandlung: Die auf den konventio-
nellen Behandlungsarm randomisierten
Patienten bleiben weiter hospitalisiert und er-
halten unverändert die intravenöse An-
tibiotikatherapie. Die auf den alternativen Be-
handlungsarm randomisierten Patienten
werden nach Hause entlassen und erhalten
oral Ciprofloxacin und Amoxicillin in mittle-
rer bis hoher Dosierung, welche zusammen
ein sehr breites Keimspektrum insbesonde-
re auch im gramnegativen Bereich, abdeck-
en. (Dass Ciprofloxacin, welches offiziell für
Kinder und Jugendliche nicht zugelassen ist,
im Gegensatz zu Tiermodellen beim Men-
schen keine Schäden am wachsenden Ske-
lett verursacht, ist aufgrund der Erfahrung
von mehr als 10 000 Therapiezyklen in die-
ser Altersgruppe erwiesen.) Diese ambulan-
ten Patienten werden, analog zur Visite am
Krankenbett, täglich in der Poliklinik des Kin-
der-Onkologiezentrums oder durch den Kin-
derarzt kurz kontrolliert. Beim Auftreten von
Problemen können sie sich selbstverständ-
lich rund um die Uhr melden. Die Minimal-
vorschriften der Studie für klinische und la-bormässige Kontrollen sowie für die rele-
vanten Entscheidungsschritte wie Wechsel
und Stopp der Antibiotikatherapie, Entlas-
sung, Rehospitalisation sind durch die Stu-
die vorgegeben und für die beiden Behand-
lungsarme identisch.
Das primäre Ziel dieses interventionellen Stu-
dienteils ist es, aufzuzeigen, ob der alterna-
tive Behandlungsarm mit dem Wechsel auf
ambulant verabreichte orale Antibiotika be-
züglich Effizienz (Episode ohne Komplikation,
kein Wechsel der Antibiotika notwendig) und
Sicherheit (keine lebensbedrohliche Kom-
plikation) nicht schlechter ist als die Weiter-
führung der stationären intravenösen Anti-
biotikatherapie im konventionellen Behand-
lungsarm. Ein Kostenvergleich zwischen
den beiden Behandlungsarmen ist eines der
sekundären Ziele. Es ist geplant, insgesamt
360 Episoden von Fieber in Neutropenie bei
Kindern und Jugendlichen in diesen Stu-
dienteil einzuschliessen. Jedoch sind nach
jeweils 90 Episoden Zwischenauswertungen
geplant, welche bei bereits eindeutigen Re-
sultaten einen früheren Abschluss der Stu-
die erlauben würden.
Für weitere Auskünfte zum Thema und zur
vorgestellten Studie steht der Autor gerne
zur Verfügung.
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Roland A. Ammann
Pädiatrische Hämatologie/Onkologie
Medizinische Universitäts-Kinderklinik
Inselspital
3010 Bern
Tel. 031 632 93 72
roland.ammann@insel.c
h
Referenzen
siehe französischer Text.
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Autoren/Autorinnen
Dr. med. Roland A. Ammann , Bern