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Primäres Lymphödem im Kindesalter

Das primäre Lymphödem (PL) ist eine genetisch bedingte Erkrankung des Lymphgefässsystems und führt zu Schwellungen einer oder mehrerer Extremitäten. Der Zeitpunkt des Auftretens, das klinische Bild und der Schweregrad sind heterogen und variieren je nach Genveränderung. Da syndromale Formen bekannt sind, ist eine genetische Diagnostik essentiell. Um einer Progression möglichst entgegenzuwirken, ist eine zeitgerechte Therapieeinleitung wichtig.

Grundlagen

Lymphödeme werden eingeteilt in primäre und sekundäre Formen. Im Unterschied zu den Erwachsenen tritt das sekundäre Lymphödem (nach Lymphknotenexzisionen, Radiatio, etc.) bei Kindern viel seltener auf(1,2).

Beim PL kommt es durch eine angeborene, genetisch bedingte Fehlentwicklung des Lymphgefässsystems zu einer Flüssigkeitsansammlung im Gewebe und somit zur Ödembildung. Das klinische Bild, der Verlauf und Schweregrad sind abhängig von der Genmutation.3 Meistens sind die unteren Extremitäten betroffen, es gibt aber auch systemische Formen mit Hydrops fetalis, Chylothorax, pulmonalen oder intestinalen Lymphangiektasien. Gemäss aktueller Klassifikation wird das PL in 5 Gruppen eingeteilt (s. Abbildung 1):

  1. Kongenitale Lymphödeme (1)
  2. Late-onset Lymphödeme (Auftreten nach dem ersten Lebensjahr) (2)
  3. Syndromale Krankheitsbilder (3a und 3b)
  4. Lymphödeme mit systemischer Beteiligung (5a und 5b)
  5. Erkrankungen mit somatischem Mosaik und segmentaler Wachstumsstörung (6a und 6b)(4).

Aktuell sind über 30 verschiedene Mutationen beschrieben inkl. syndromale Formen. Es ist von grosser Bedeutung, relevante genetische Mutationen frühzeitig zu erkennen, um eine mögliche Beteiligung anderer Organe einschätzen zu können. Eine genetische Beratung ist auch bzgl. Wiederholungsrisiko wichtig.

Die häufigste Form des angeborenen Lymphödems ist die Milroy-Erkrankung, bedingt durch eine heterozygote Mutation im VEGFR-3 Gen (= FLT4)(5). Typischerweise ist das Lymphödem bilateral am Fussrücken und unterhalb der Knie, männliche Betroffene zeigen eine Hydrozele. Da der betroffene Rezeptor auch in der Angiogenese der Venen beteiligt ist, kommt es im frühen Erwachsenenalter nicht selten zu einer Varikosis.

Eine weitere klinisch relevante Form ist die Mutation in GATA2 (Emberger Syndrom), die neben dem Lymphödem einhergeht mit einer sensineuralen Schwerhörigkeit sowie einer zellvermittelten Immundefizienz, die sich mit ausgedehnten Warzen manifestiert (s. Abb. 4a)(6). Die Patient:innen haben ein erhöhtes Risiko für ein Myelodysplastisches Syndrom und eine akute myeloische Leukämie, es sind deshalb regelmässige Knochenmarkspunktionen indiziert.

Bei weiblichen Neugeborenen kann das kongenitale Lymphödem Hinweis sein für ein Turner Syndrom (XO) (s. Abb. 4a).

Abbildung 1.
Klassifikation der Primären Lymphödeme mit Beispielen
1. 13 Monate alter Knabe mit kongenitalem PL an beiden Füssen mit typischer Schwellung von Fussrücken und Unterschenkeln, mit nachgewiesener Mutation im VEGFC-Gen im heterozygoten Zustand (Milroy-ähnliche Erkrankung). 2. 14-jähriger Patient mit late-onset PL des linken Beins aufgetreten im Alter von 13 Jahren. 3a. 4 Monate altes Mädchen mit kongenitalem Lymphödem bei Turner Syndrom. 3b. Hochstehende («ski-jump») Zehennägel beim Turner Syndrom, können auch bei anderen Formen auftreten. 4a,b,c. Mädchen mit Emberger-Syndrom (GATA-2-Mutation), (4a) ausgedehnte, therapieresistente Verrucae vulgares; (4b) beidseitige Schwerhörigkeit mit Cochleaimplantaten; (4c) primäres Lymphödem mit rezidivierenden Erysipelen. 5a. 10-jähriges Mädchen mit Generalized lymphatic anomaly (GLA), mit primärem Lymphödem am rechten Bein und 5b. Skelettbeteiligung. 6a. 7-jähriges Mädchen mit ausgedehnten kapillären Malformationen im Rahmen von PROS (PIK3CA-related overgrowth syndrome) und einem PL des linken Beins mit rezidivierenden Erysipelen.

Klinik und Verlauf

Die Ödeme können bereits pränatal auffallen, aber auch erst im Laufe der Kindheit oder Adoleszenz auftreten(7,8). Im Gegensatz zum sekundären Lymphödem kann der spontane Verlauf der PL unterschiedlich sein, von Progression bis zu einer spontanen Regression, wobei wir letzteres v.a. beim Turner Syndrom sehen.

Das PL betrifft am häufigsten die untere Extremität, wobei zunächst der Fuss betroffen ist und das Ödem im Verlauf dann nach proximal fortschreitet. Passenderweise findet sich im klinischen Status ein positives Stemmer-Zeichen (fehlende Abhebbarkeit der Haut proximal der 2. Zehe), vertiefte Hautfurchen über den Zehengelenken und Kastenzehen. Auch die Nägel können mitbetroffen sein, bspw. in Form von «Ski-Jump»-Zehennägel(9,10).

Management des Primären Lymphödemes

Meistens ist das Lymphödem chronisch progredient, im Verlauf kommt es zu einem irreversiblen Stadium mit Fibrosierung der Haut, Fetteinlagerungen und zunehmenden Bewegungseinschränkungen. Eine kurative Behandlung ist bis anhin nicht bekannt. Bisher wurde die konservative Therapie übernommen von den Therapiegrundlagen bei erwachsenen Betroffenen mit sekundären Lymphödemen. Grundsätzlich ist eine frühzeitige Behandlung prognostisch entscheidend, um irreversible Gewebeveränderungen zu verhindern(11).

Die Grundpfeiler der komplexen Entstauungstherapie sind in der Tabelle 1 abgebildet(12):

Tabelle 1.

Die Kompression sollte dem Alter angepasst werden: ein massgefertigter Flachstrickstrumpf ist erst ab dem Alter von ca. 18 Monaten sinnvoll, da die Wirkung des Strumpfes insbesondere beim Gehen erfolgt. Die manuelle Lymphdrainage sollte altersgerecht und spielerisch angepasst werden. Es ist ratsam, die Eltern in die Durchführung der Lymphdrainage zu instruieren: durch regelmässige kurze Massageeinheiten im Alltag beobachten wir einen positiven Effekt auf den Verlauf des Ödems.

Da die lokale Immunabwehr durch das Lymphödem gestört ist, besteht ein erhöhtes Risiko für das Auftreten eines Erysipels. Es ist wichtig, auf eine ausreichend lange Dauer der antibiotischen Behandlung zu achten (14-21 Tage). Durch das Erysipel kann es zu einer Verschlechterung des Lymphödems kommen; bei drei oder mehr Episoden pro Jahr ist deshalb eine Antibiotika-Prophylaxe indiziert(13). Um Eintrittspforten für Bakterien möglichst zu vermeiden, sollte die Hautpflege mittels Emollienzien routinemässig erfolgen. Durch das Tragen der Kompressionsstrümpfe wird die Haut zusätzlich beansprucht und ist häufig sehr trocken. Durch Insektenstiche kann es zu einer Verschlechterung des Ödems kommen, deshalb ist ein Schutz vor solchen wichtig, ebenfalls eine niederschwellige Behandlung mit lokalen Steroiden. Die betroffenen Kinder sollten zu Sport und Bewegung motiviert werden, da es durch die Muskelkontraktion zu einem interstitiellen Druckanstieg und damit zur Steigerung der Lymphangiomotorik kommt. Dieser Effekt wird bei gleichzeitiger Komprimierung von aussen verstärkt. Insbesondere Schwimmen hat durch den Druck der Wassersäule nachweislich einen positiven Effekt auf das Lymphödem. Eine Adipositas wirkt sich negativ auf das Lymphödem aus und sollte möglichst vermieden werden. Die psychosoziale Unterstützung ist bei dieser stigmatisierenden Erkrankung wichtig. Eine Vernetzung unter betroffenen Familien wird häufig sehr geschätzt. In der Schweiz wird die Behandlung des PL über die Invalidenversicherung GGV 312 abgerechnet.     

Die rekonstruktive Lymphchirurgie ist beim sekundären Lymphödem bei Erwachsenen mittlerweile gut etabliert(14). Die Anwendung mikrochirurgischer Techniken zur Behandlung des PLs, insbesondere im Kindesalter, befindet sich noch in den Anfängen mit unterschiedlichen Resultaten(15,16). Wir haben seit mehreren Jahren eine Lymphödem-Sprechstunde etabliert mit einem multidisziplinären Team, um den individuellen Patientenbedürfnissen gerecht zu werden(2,11).

Fazit für die Praxis:

  • Primäres Lymphödem: heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Verläufen
  • An syndromale Formen denken
  • Genetische Diagnostik wichtig
  • Grundpfeiler der Behandlung ist die komplexe Entstauungstherapie
  • Ein Erysipel soll rasch und genügend lange behandelt werden
  • Multidisziplinäres Setting am Zentrumsspital

Referenzen

  1. Devoogdt N, Zanten M, Damstra R et al. Paediatric lymphoedema: An audit of patients seen by the paediatric and primary lymphoedema group of vascular European Reference Network (VASCERN). Eur J Med Genet. 2022 Dec;65(12):104641.
  2. Devoogdt N et al. The VASCERN PPL working group patient pathway for primary and paediatric lymphoedema, Eur J Med Genet. 2024 Feb:67:104905. doi: 10.1016/j.ejmg.2023.104905
  3. Hägerling R. Genetik, Diagnostik und Klinik des primären Lymphödems. Dermatologie 74, 594–604 (2023).
  4. Gordon K, Varney R, Keeley V, et al. Update and audit of the St George’s classification algorithm of primary lymphatic anomalies: a clinical and molecular approach to diagnosis. J Med Genet. 2020 Oct;57(10):653-9.
  5. Brice G, Child AH, Evans A, Bell R, Mansour S, Burnand K et al (2005) Milroy disease and the VEGFR-3 mutation phenotype. J Med Genet 42(2):98–102
  6. Ostergaard P, Simpson MA, Connell FC, Steward CG, Brice G, Woollard WJ et al (2011) Mutations in GATA2 cause primary lymphedema associated with a predisposition to acute myeloid leukemia (Emberger syndrome). NatGenet43(10):929–31
  7. Schook CC, Mulliken JB, Fishman SJ, Grant FD, Zurakowski D, Greene AK. Primary lymphedema: clinical features and management in 138 pediatric patients. Plast Reconstr Surg. 2011;127(6):2419–31.
  8. Watt H, Singh-Grewal D, Wargon O, Adams S. Paediatric lymphoedema: a retrospective chart review of 86 cases J. Paediatr Child Health. 2017;53(1):38–42
  9. Senger J-LB, Kadle R, Skoracki RJ. Current Concepts in the Management of Primary Lymphedema. Medicina 2023,59, 894.
  10. Kaczmarek JM, Graczykowska KA, Szymkuc-Bukowska I, Los-Rycharska E, Krogulska A. Chubby Infant—Should One Worry? An Infant with Primary lymphedema—Mini Review and Case Report. Klin. Padiatr. 2021;233:47–52.
  11. Vignes S, Albuisson J, Champion L et al. Primary lymphedema French National Diagnosis and Care Protocol (PNDS; Protocole National de Diagnostic et de Soins). Orphanet J Rare Dis 16, 18 (2021).
  12. Wilting J, Bartkowski R, Baumeister R, Földi E, Stoehr S et al. S2k Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme. Mai 2017
  13. Quéré I, Nagot N, Vikkula M. Incidence of Cellulitis among Children with Primary Lymphedema. N Engl J Med. 2018;378(21):2047-8.
  14. Grünherz L, Hulla H, Uyulmaz S, Giovanoli P, Lindenblatt N. Patient-reported outcomes following lymph reconstructive surgery in lower limb lymphedema: A systematic review of literature. J Vasc Surg Venous Lymphat Disord. 2021 May;9(3):811-9.
  15. Fallahian F, Tadisina KK, Xu KY. Efficacy of Microsurgical Treatment of Primary Lymphedema: A Systematic Review. Ann. Plast. Surg. 2022, 88, 195–9
  16. Cheng MH, Liu, TT. Lymphedema microsurgery improved outcomes of pediatric primary extremity lymphedema. Microsurgery 2020, 40, 766–75.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Isabelle Luchsinger, Zentrum Kinderhaut, Abteilung Dermatologie, Universitäts-Kinderspital, Zürich
Nataliia Zhovta, Zentrum Kinderhaut, Abteilung Dermatologie, Universitäts-Kinderspital, Zürich