Ab dem 1. April 2010 sind mehrere neue Gesetze in Kraft getreten, unter anderem die Vorschrift, für den Transport von Kindern unter 12 Jahren oder die weniger als 150 cm messen, das Fahrzeug mit einer entsprechenden Rückhaltevorrichtung auszustatten. Ziel dieses Beitrages ist es, den Stand dieser Vorschriften zu überprüfen.
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nen Sicherheitsgurten während der ganzen
Fahrt tragen. Die Fahrzeugführer haben
sicherzustellen, dass Kinder unter 12 Jahren
ordnungsgemäss gesichert sind. (A: Art. 3a,
Abs. 1)
Für Kinder unter 12 Jahren, die kleiner als
150 cm sind, muss eine geeignete Kinder-
rückhaltevorrichtung verwendet werden, die
nach dem ECE-Reglement Nr. 44 gemäss
Serie 03 oder 04 zugelassen ist. Die Serien –
nummer findet man in der Zulassungsziffer
(erste beiden Zahlen) und beginnt mit 03
oder 04. Alle weiteren Angaben betreffend
die Rückhaltevorrichtung finden sich auf der
Etikette ECE R44, d. h. direkt unter dem Sitz.
Kinderrückhaltevorrichtungen der Serien 01
und 02 können ab 1. April 2010 nicht mehr
verwendet werden. (A: Art. 3a, Abs. 4)
Der Begriff Rückhaltevorrichtungen umfasst
nicht nur Kindersitze, Sitzerhöher und Ba –
byschalen, sondern auch in Fahrzeugsitze
eingebaute Spezialvorrichtungen. Wurde
eine Kinderrückhaltevorrichtung gemäss
Serie 03 oder 04 der Verordnung ECE
Nr. 44 geprüft, bedeutet dies, dass sie
den minimalen gesetzlichen Forderungen
genügt. Es besteht keinerlei Forderung,
dass die Rückhaltevorrichtungen über eine
Rückenlehne verfügen müssen. Sitzerhöher
mit Rückenlehnen vermindern jedoch das
Verletzungsrisiko bei seitlichem Zusam –
menprall, verglichen mit Sitzerhöher ohne
Rückenlehne um 70%
4).
Kinder über 12 Jahren oder unter 12 Jahren,
die mehr als 150 cm messen, müssen sich
mit den im Fahrzeug verfügbaren Sicher-
heitsgurten anschnallen.
Wie steht es mit de\.n übrigen
Fahrzeugen (Taxis, Busse,
Schülertransporte)?
Sicherheitsgurte müssen auf allen Sitz –
plätzen benutzt werden, die über solche
verfügen. Diese Verpflichtung trifft auf alle
Insassen eines Fahrzeuges zu, insbesondere
in Autocars, Taxis, Schulbussen, Fahrzeugen
von Sportklubs usw. Der Fahrer und die In –
sassen müssen sich unbedingt anschnallen,
unabhängig von ihrem Alter. Das Gesetz
ist jedoch vage in Bezug auf Autocars und
Kleinbusse. Art. 3\za, Abs. 3 VRV
A) lautet:
«Mitfahrende Personen in Gesellschafts –
wagen und Kleinbussen sind auf geeignete
Art und Weise auf die Gurtentragpflicht
Ab dem 1. April 2010 sind mehrere neue
Gesetze in Kraft getreten, unter anderem
die Vorschrift, für den Transport von Kindern
unter 12 Jahren oder die weniger als 150 cm
messen, das Fahrzeug mit einer entspre
–
chenden Rückhaltevorrichtung auszustat –
ten. Ziel dieses Beitrages ist es, den Stand
dieser Vorschriften zu überprüfen\z.
Warum wurden Sitzer\.höher für
Kinder bis 12 Jahre obligatoris\.ch
erklärt?
Um wirksam zu sein, muss der Sicherheits –
gurt auf feste knöcherne Skelettteile abstüt –
zen: Becken unterhalb der spinae iliacae
und Schlüsselbein. Im gegenteiligen Fall
umschliesst der untere Teil des Gurtes das
Abdomen und führt zu einem Verletzungs –
muster, das als «Chances Verletzung» oder
«Sicherheitsgurt-Syndrom» beschrieben
wurde
1), 2): Ruptur von Hohlorganen (Coecum,
linke oder rechte Colonflexur, Sigmoid) und
parenchymatöser Organe (Nieren, Milz, Le –
ber) sowie vordere Stauchung von Wirbeln,
meistens Lendenwirbeln. Liegt der schräge
Teil des Sicherheitsgurtes zu hoch und nicht
über dem Schlüsselbein, weil das Kind zu
klein ist, wird er auf den Hals drücken, mit
dem Risiko einer Verletzung von Trachea,
grossen Gefässen, des Zervikalplexus oder
der Halswirbelsäule (siehe «Zeitschriftenre –
view» in Paediatrica 2008; 1\z9(4): 75).
Die Standardhöhe der Verankerung der
hinteren «3-Punkte» Gurten europäischer
PKWs erfüllen die Sicherheitskriterien \z nur
für Fahrgäste die 150 cm oder mehr mes –
sen. Die 50. Percentile12-jähriger Schweizer
Kinder enspricht 150 cm. Aus diesem Grund
hat sich der Gesetzgeber an diese Norm
gehalten, in der Meinung, dass Kinder im
höheren Percentilenbereich, also grössere
Kinder, davon ausge\znommen sind
A).
Ein Kind auf einen Sitzerhöher zu setzen,
hat einen doppelten Effekt. Einerseits führt
dies zu einem schrägen Zug nach unten des
horizontalen Anteils des Gurtes, der so auf das Becken zu liegen kommt, der schräge
Teil des Gurtes andererseits kommt auf das
Schlüsselbein zu liegen. Das Risiko einer
Bauchverletzung ist 3 mal geringer, wenn
der Gurt über dem Becken und nicht über
dem Abdomen liegt. In der Alterskategorie
4–8-jährig beseitigt der Sitzerhöher das
Risiko einer Bauchverletzung
3).
Im Gegenteil zur oft gehörten Behauptung,
sind Sitzerhöher billiger als Kindersitze.
Man findet sie auf dem Schweizer Markt ab
dreissig Franken, mit Rückenlehne für ca.
hundert Franken. Das Gesetz verlangt keine
Rückenlehne (siehe unten).
Es darf auch daran erinnert werden, dass
die schwache Mobilmachung der euro –
päischen Verbraucher an der derzeitigen
Situation mitverantwortlich ist: Warum
können Sicherheitsgurte eines in Nordame –
rika verkauften Automodells hinten und
vorne auf verschiedene Höhen eingestellt
und damit der Grösse des Insassen ange –
passt werden, während dasselbe, in Europa
verkaufte Modell, nur vorne verstellbare
Verankerungen besitzt? Weitere Verbes –
serungen wären am nordamerikanischen
Modell möglich, wie zum Beispiel Art und
Anzahl Verankerungen an den Hintersitzen
sogenannter Familienfahrzeuge. Leider
wurde auch zugelassen, dass bis 2012
Kinder über 7 Jahren mit einem einfachen
Bauchgurt, soweit ein solcher vorhanden
ist, angeschnallt werden dürfen, was es
dem Automobilmarkt erlaubt, in Europa
bis 2012 weiterhin Fahrzeuge mit «2-Punkt»
Bauchgurten für den mittleren Sitzplatz
zu verkaufen, während diese Variante in
Nordamerika nicht mehr existiert, da alle
Sitzplätze mit «3-Punkt» Gurten ausgestat –
tet sind
B).
Was sagt das Gesetz?
Die Verantwortung liegt beim Fahrzeugfüh –
rer: Bei Fahrzeugen, die mit Sicherheits –
gurten ausgerüstet sind, müssen Fahrer
und mitfahrende Personen die vorhande –
Transport von Kindern im Auto:
Gesetzesänderung ab 1. April 2010
Olivier Reinberg, LausanneÜbersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds
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aufmerksam zu machen.» Bedeutet auf ge-
eignete Art und Weise aufmerksam machen
nach Gutdünken?
Schülertransporte: Gewisse bereits zuge –
lassene Schulbusse sind mit Sitzen kleine –
ren Kindern angepassten Ausmasses aus –
gerüstet, die senkrecht zur Fahrtrichtung
angeordnet sind. Seit dem 1. Januar 2010
dürfen diese Fahrzeuge nur noch verkeh –
ren, wenn jeder Sitz zumindest über einen
Bauchsicherheitsgurt verfügt. Wenn nötig,
müssen sie nachträglich damit ausgerüstet
werden. Für neu zugelassene Fahrzeuge,
die dem Schülertransport dienen, sind
senkrecht zur Fahrtrichtung angeordnete
Sitzplätze nicht mehr zulässig. Sitze kleine –
ren Ausmasses in neu zugelassenen Schul –
bussen werden ab 1. August 2012 nur noch
freigegeben, wenn ein vom Bundesamt
für Strassen zugelassenes Kontrollorgan
bestätigt, dass diese Sitze einen den Rück –
haltevorrichtungen gemäss Reglement ECE
R44/03 oder 04 vergleichbaren Schutz
bieten.
Kommentare
Der Nutzen von Kinderrückhaltevorrichtun –
gen in Fahrzeugen wurde mehrfach belegt.
Korrekt angewandt, verringern Kindersitze
das Risiko einer tödlichen Verletzung um
67% und einer schweren Verletzung um
71%
5). Die Verwendung eines Sitzerhöhers
im Vergleich zu einem Sicherheitsgurt allei –
ne reduziert das Verletzungsrisiko um 59%
6).
Gemäss bfu sind 4 von 10 Kindern in der
Schweiz nicht korrekt angeschnallt.
Bereits vor deren in Kraft Treten, hat die
neue Regelung in der Schweiz zu Protest
und Auflehnung geführt. Eine Petition mit
über 20 000 Unterschriften verlangt, diese
neue Vorschrift zu überprüfen. Über 53%
der kanadischen Eltern glauben zu Unrecht,
ihr Kind könne mit 6 Jahren ausschliesslich
mittels eines Sicherheitsgurtes festgehalten
werden
7). Diese Mobilmachung erinnert an
jene, die wir beim in Kraft treten des Si –
cherheitsgurtenobligatoriums erlebt haben.
Sie ist unvernünftigt. Kinder sind eine Min –
derheit (immerhin 20% der Bevölkerung),
Opfer unseres irrationalen Verhaltens im
Strassenverkehr, selbst als Eltern oder
Ärzte. Es ist leider so, dass in allen westli –
chen Ländern Mortalität und Morbidität im
Zusammenhang mit dem Strassenverkehr
nur durch Zwangsmassnahmen verringert
werden konnten. Die vom Bundesrat kürz –
lich ergriffenen Sicherheitsmassnahmen
zugunsten der Kinder in Fahrzeugen gehen
in diese Richtung aber unseres Erachtens
noch zu wenig weit, da sie zum Beispiel im –
mer noch Bauchsicherheitsgurte erla\zuben.
«Will man die Öffentlichkeit erziehen, kann
man sich schon mal vergewissern, dass
Kinder- und Hausärzte die geltenden Emp –
fehlungen betreffend Kindertransporte in
Kraftfahrzeugen kennen» (Empfehlungen
der kanadischen Kinderärztegesellsc\zhaft
8)).
Kinderärzte müssen die Gesetze kennen und
jede Gelegenheit nutzen, um Botschaften
zur Vorbeugung zu übermitteln, so auch
bei der Wahl von Rückhaltevorrichtungen.
Wir raten, die Empfehlungen der Canadian
Paediatric Society zu lesen, die unserer
Gesetzgebung eher entsprechen, als die an –
derer Länder. Sie sind auf französisch oder
englisch verfügbar und können den Familien
zur Lektüre empfohlen werde\zn
( www.cps.ca/francais/enonces/IP/ip08-
01.htm und www.soinsdenosenfants.cps.
ca/enfantssecurite/\zSecuriteAuto.htm ).
Referenzen
A) Verkehrsregelnverordnun\zg (VRV). AS 1962 1409
(SR 741.11).
Änderung vom 14. Oktober 2009 der Verordnung
vom 13. November 1962 über die Verkehrsregeln
(AS 2009 5701).
B) Verfügung des Bundesamtes für Strassen (ASTRA)
betreffend Ausnahme von der Sicherungspflicht
mit einer Kinderrückhaltevorrichtung für Kinder ab
sieben Jahren auf Plätzen mit Beckengurten vom
2. Febraur 2010.
1)–8) Siehe französischer Text.
Korrespondenzadresse
Prof. Olivier Reinberg\z
Chirurgien pédiatr\ze FMH
Service de chirurgie pédiatriq\zue
1011 Lausanne CHUV
Weitere Informationen
Übersetzer:
Rudolf Schläpfer
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Olivier Reinberg , Service de Chirurgie Pédiatrique, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne