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Telemedizinische Diskussion pädiatrischer Fälle, eine Zusammenarbeit zwischen Ärzte ohne Grenzen und dem Universitätsspital Genf

Ärzte ohne Grenzen / Médecins sans Frontières (MSF) bietet Bevölkerungen, oft in abgelegenen Gegenden und mit beschränkten Mitteln, eine medizinische Betreuung, wenn ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdet sind.

Marie Ballester1, Eline Chauvet Piat1, Coralie Salomon1, Catherine Jorgenssen1, Marie-Claude Bottineau2, Marie Müller1, Amélie Vocat1, Gabriel Alcoba3,4, Selina Pinösch1, Nicolas Peyraud1, Annick Galetto-Lacour 1, Daniel Martinez GarciaMD1,2, Noémie Wagner MD1,2

1 Department of Women-Children-Teenagers, University Hospitals of Geneva, Geneva, Switzerland
2 Women & Child Health & Nutrition Unit, Medical Department, Médecins Sans Frontières (MSF), Operational Centre Geneva, Geneva, Switzerland
3 Division of Tropical and Humanitarian Medicine, University Hospitals of Geneva, Geneva, Switzerland
4 Tropical diseases and epidemics unit, Medical Department, Médecins Sans Frontières (MSF), Operational Centre Geneva, Geneva, Switzerland

Beschreibung des Projekt

Ärzte ohne Grenzen / Médecins sans Frontières (MSF) bietet Bevölkerungen, oft in abgelegenen Gegenden und mit beschränkten Mitteln, eine medizinische Betreuung, wenn ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährdet sind. Man schätzt, dass 1-10% der Patienten, die durch die medizinische NGO betreut werden, eine fachärztliche Beratung benötigen. Dazu hat MSF seit mehreren Jahren ein Telemedizin-Netzwerk aufgebaut1-5). Das medizinische Personal vor Ort kann auf dieser virtuellen Plattform Fälle diskutieren. Die Fälle werden an Fachleute auf der ganzen Welt weitergeleitet, die ihre Beurteilung mitteilen. Diese Zusammenarbeit ist wertvoll, jedoch beschränkt, wenn es um komplexe Situationen geht, insbesondere bei diagnostischen Zweifeln, die diskutiert werden müssen. Tatsächlich erlaubt das Telemedizin-Netz den Fachleuten individuell zu antworten und ihre Meinung zur Situation eines Patienten zu äussern, aber es kommt nicht zum direkten Meinungsaustausch unter den beteiligten Fachleuten. Im Rahmen der Partnerschaft MSF Schweiz und Hôpital des Enfants des Hôpitaux Universitaires de Genève (HUG) haben wir deshalb eine Möglichkeit für live Falldiskussion geschaffen6). Die klinische Situation, der durch die Ärzte vor Ort selektionierten Patienten, wird gemeinsam durch die Fachärzte von HUG, MSF oder der Plattform, sowie dem Projekt-Ärzteteam vor Ort besprochen. Diese Diskussionssitzungen ermöglichen es, alle Gesichtspunkte zu vereinen und die bestmögliche Betreuung des Patienten festzulegen.

Die durch den Koordinator der Telemedizinplattform selektionierten Fälle werden durch einen Assistenzarzt unter des Supervision eines Kaderarztes vorbereitet; sie fordern gemeinsam die Meinung und die Gegenwart der betroffenen Fachärzte an. Es findet dann eine Diskussionssitzung zwischen Fachärzten von HUG und MSF sowie dem Projekt-Ärzteteam statt. Der Assistenzarzt macht anschliessend eine Synthese und vergewissert sich, dass die gemachten Empfehlungen dem Kontext des Patienten angepasst sind. Diese Sitzungen finden zweimal monatlich statt (Abb. 1).

Abbildung 1. Diskussionsablauf pädiatrischer Fälle zwischen MSF und HUG.

Dieses Diskussionsprogramm klinischer pädiatrischer Fälle wurde 2018 durch MSF und die Kinderabteilung des HUG geschaffen. Bis heute wurden auf diese Weise an die 40 Fälle betreut.

Anlässlich der Sitzungen wurden im Wesentlichen folgende Krankheiten vorgestellt: Infektionen (infizierte oder nekrotische Wunden, Osteomyelitis, Fieber ohne Fokus, schwere Malaria, Leishmaniose, Neugeborenen-Tetanus, extrapulmonale Tuberkulose (Kasten), …), neurologische (refraktäre Epilepsie, motorische Entwicklungsstörung, …), pharmakologische (Medikamentenintoxikation, …), onkologische (Lymphom, Kaposi Sarkom), hämatologische (schwere Anämie, Sichelzellanämie) und dermatologische (komplexe Verbrennungen, atypische Hautausschläge) Krankheiten, oft bei schwerer Unterernährung.

Diskussion

Diese Sitzungen ermöglichten es, trotz den projektbedingten Beschränkungen, zahlreiche Fälle zu lösen. Sie haben zahlreiche Vorteile. In erster Linie bringen sie dem Patienten eine umfassende, individuelle und multidisziplinäre Beurteilung. Im HUG sehen sich die jüngeren und auch erfahreneren Ärzte mit andersartigen Krankheitsbildern konfrontiert, als sie in ihrer täglichen Praxis erleben. Sie lernen auch, Medizin unter Bedingungen zu praktizieren, in welchen diagnostische und therapeutische Mittel begrenzt sind.

Für die Teams von MSF, die vor Ort sind, bedeuten diese Sitzungen eine Unterstützung bei der Betreuung ihrer Patienten. Insbesondere bei schwierigen Entscheiden wie zum Beispiel dem Übergang zu Palliativpflege oder der Verlegung eines Patienten in ein spezialisiertes Zentrum. Zusätzlich ist es eine Gelegenheit für die Ärzte vor Ort, sich darin zu üben, Fälle strukturiert und umfassend vorzustellen und die Problematik unter Bedingungen darzulegen, die der Arbeitsfluss sonst oft verunmöglicht.

Den jüngeren Ärzten öffnen die Sitzungen einen Einblick in die humanitäre Pädiatrie. Für gewisse unter ihnen wird es zu einer Quelle der Motivation, sich für ein MSF-Projekt zu engagieren. Allen Ärzten ermöglichen die Diskussionen, ihre klinischen Kenntnisse zu erweitern und die kritische Haltung zu fördern, die sie jeden Tag am Bett des Patienten benötigen (Abb. 3 oben). Die Sitzungen verstärken auch die Partnerschaft zwischen Mitarbeiter von MSF und HUG und können Perspektiven für neue Synergien eröffnen.

Das Projekt generiert keine zusätzlichen Kosten im Zusammenhang mit der Rekrutierung von Spezialisten, der Einrichtung der Plattform und anderer technologischen Unterstützung. Ist die Internetverbindung schlecht, kann die Sitzung trotzdem stattfinden und das Ärzteteam vor Ort erhält die Schlussfolgerungen schriftlich, die Diskussion kann dann auf der Telemedizin-Plattform weitergehen.

Dieses Vorgehen hat seine Grenzen. Es hat den Nachteil, dass es langsam und unflexibel ist. Akute Situationen können schwerlich betreut werden, da es mehrere Tage benötigt bis die Diskussion stattfinden kann (Abb. 3 unten).

Abbildung 3. Gewinn und Grenzen der Diskussion pädiatrischer Fälle zwischen MSF und HUG.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit diesem Modell komplexe Fälle angepasst und effizient betreut werden können in direktem Kontakt mit dem Team vor Ort und seinen Gegebenheiten. Diese Diskussionen bieten viele Vorteile für den Patienten, wie für das Ärzteteam des Projektes, die Fachärzte des HUG und der MSF-Telemedizin-Plattform. Das Modell könnte durch andere Universitätskliniken in der Schweiz und andere Fachbereiche der Medizin angewendet werden, je nach den Bedürfnissen und der Nachfrage von Projekten, die eine Synergie zwischen akademischer und humanitärer Welt erlauben. 

Beispiel eines Falles, bei welchem die Zusammenarbeit Früchte trug – Irreführendes Erscheinungsbild einer klassischen Pathologie

Mehr Details zu diesem Fall finden Sie im Originalartikel7). Hier erwähnen wir lediglich das Wesentliche, um durch einen konkreten Fall zu illustrieren, welchen Nutzen unser gemeinsames Projekt einer MSF-HUG-Telemedizin bringen kann.

Kontext: Regionalspital einer ländlichen, südlich der Sahara gelegenen Gegend, mit einer Bevölkerung von über einer Million Menschen, wovon 20% Kinder unter fünf Jahren.

Klinischer Fall: 2-jähriges Kind, schwer unterernährt, seit 3 Wochen fiebrig, mit multiplen, grossvolumigen (>1.5 cm), schmerzlosen, elastischen Adenopathien zervikal, axillär und inguinal (Abb. 2).

Abbildung 2. Allgemeinzustand eines 2-jährigen Kindes, unterernährt, Fieber seit 3 Wochen, mit generalisiert geschwollenen Lymphknoten (Abbildung aus dem Originalartikel mit freundlicher Erlaubnis der Autoren7)).

HIV-Test negativ. Im Ultraschall keine Flüssigkeitsansammlung (kein Eiter, keine Nekrose) der Lymphknoten, hingegen zeigt sich abdominal bei sonst normalem Befund eine Milzvergrösserung. Im Thoraxröntgenbild, von mittelmässiger Qualität, verbreitertes Mediastinum und eine mögliche runde Verdichtung in der linken Lunge.

Die multidisziplinäre Diskussion MSF-HUG lässt die Diagnosen Lymphom versus Tuberkulose vermuten; es wird versuchsweise eine Antituberkulose-Behandlung eingeleitet. Ebenfalls wird eine Lymphknotenpunktion vorgeschlagen, und einige Tage später im nächstgelegenen Referenzspital durchgeführt. Die mikroskopische Beurteilung ist mit einem Granulom vereinbar, doch konnte die Ziehl-Neelsen-Färbung (Nachweis von Säure-Alkohol-resistenten Keimen wie Mycobacterium tuberculosis und weiteren Mykobakterien) nicht durchgeführt werden, da nicht alle Reagenzien zur Verfügung standen.

Der Verlauf ist rasch günstig, das Kind entfiebert innert weniger Tage, findet auch den Appetit wieder und nimmt an Gewicht zu. Die Lymphknoten beginnen sich 2-3 Wochen nach Therapiebeginn zurückzubilden. Sie waren nach 3 Monaten noch feststellbar, nahmen jedoch weiter en Volumen ab.

Die Diskussion des Falles ermöglichte eine rasche gemeinsame Entscheidungsfindung mit dem Ärzteteam vor Ort und das Einleiten einer probatorischen Therapie. Dem Kind ging es rasch besser. Dieser Fall und die regelmässigen Feed-backs des Ärzteteams vor Ort erlaubte es allen Beteiligten, die Erfahrung mit der extrapulmonalen Tuberkulose zu erweitern, sowie  festzustellen, wie wichtig es ist, bei anhaltendem Fieber in Gebieten hoher Prävalenz eine hohe Verdachtsschwelle zu haben. Der Fall wurde als Case Report publiziert, gemeinsam mit dem MSF-Ärzteteam (vor Ort und am Sitz) und den Kinderärzten des HUG.

Danksagungen

Wir möchten uns bei der Innere Medizin des HUG (M. Werhli, A. Wanders, B. Vischer, S. Palomo, M. Salamoni, J. Sartoretti, F. Luterbacher, S. Maiolo, M. Crédeville, I. Castroviejo, F. Cane, C. Leclercq, L. Lebrun, M. Yohannes, P.-. C. Genton), das MSF-Team der telemedizinischen Plattform, die Fachärzte im HUG und bei MSF sowie die medizinischen Teams des Projekts bedanken.

Referenzen

  1. Delaigue S, Bonnardot L, Steichen O, Garcia DM, Venugopal R, Saint-Sauveur JF, Wootton R. Seven years of telemedicine in Médecins Sans Frontières demonstrate that offering direct specialist expertise in the frontline brings clinical and educational value.  J Glob Health. 2018 Dec;8(2):020414. DOI: 10.7189/jogh.08.020414.
  2. Schneider F, Jha Y, Liang A, Martinez D, Hiffler L, Bottger C, Casademont C. MSF Experience with Testing Hybrid Model of Telemedicine During Humanitarian Intervention – Providing Distant Clinical Support in Madaoua, Niger. April 2017. Prehospital and disaster medicine. 32(S1): S85. DOI: 10.1017/S1049023X17002230.
  3. Martinez Garcia D, Bonnardot L, Olson D, Roggeveen H, Karsten J, Moons P, Schaefer M, Liu J, Wootton R. A Retrospective Analysis of Pediatric Cases Handled by the MSF Tele-Expertise System. Front Public Health. 2014 Dec 8; 2:266. DOI: 10.3389/fpubh.2014.00266. eCollection 2014.
  4. Philip Arijo E, Carla Schwanfelder Carla, Fentress M, Martinez Garcia D, Zimmermann K, Nadimpalli A, Tamrat A, Stratta E. The joint implementation of Point of Care Ultrasound (POCUS) & MSF Telemedicine to improve paediatric care – a model clinical training program. MSF Paediatric Days Stockholm, Sweden, April 2019, DOI: 10.13140/RG.2.2.17304.65280
  5. Delaigue S, Karsten J, Daniel Martinez Garcia D, Roggeveen H, Faghfoury H, Sigaudy S, Lipoff J, Murrell D, Morand JJ, Vuagnat H, Wanat K, Bottineau MC, Saint-Sauveur. JF Erythroderma or Blistering in neonates: review from the MSF Telemedicine Platform and management in low-resource settings. MSF Paediatric Days Sept. 2016. Stockholm, Sweden DOI: 10.13140/RG.2.2.27223.78249
  6. Bapst T, Thévoz L, Salomon C, Santos Herraiz P, Galetto-Lacour A, Bottineau MC, Martinez Garcia D, Wagner N From Magaria to Geneva: a bond between Medecins Sans Frontières and a University Hospital. Paediatric Days, Stockholm 2019, poster
  7. Bottineau MC, Ayekoué Kouevi Kagni, Chauvet Eline, Martinez Garcia D, Galetto-Lacour A, Wagner N. A misleading appearance of a common disease: tuberculosis with generalized lymphadenopathy—a case report. Oxford Medical Case Reports, 2019;9, 392–397. https://doi.org/10.1093/omcr/omz090

Weitere Informationen

Übersetzer:
Rudolf Schlaepfer
Autoren/Autorinnen
Médecin dipl.  Marie Ballester Département de la femme, de l’enfant et de l’adolescent, Hôpitaux universitaires de Genève