Abkürzungen
CDS clinical decision support, klinische Entscheidungshilfe
CPOE computerized physician order entry, elektronische Verordnung
Abstract
Die Arzneimitteltherapie von Kindern stellt eine der grössten Herausforderungen der Medizin dar. Mangelnde Angaben in der Fachinformation, pharmakokinetische Besonderheiten, komplexe Dosisberechnungen, Fehlen von kindsgerechten Arzneiformen und nicht zuletzt auch behördliche Auflagen beim «off-label-use» erschweren den Alltag der Kinderärztinnen und Kinderärzte bei der Arzneimitteltherapie. Die hohe Komplexität kann zu Medikationsfehlern mit teils schwerwiegenden Folgen führen. Dabei treten die häufigsten Fehler bei der Dosierung von Arzneimitteln auf. Die Kinderspitäler und Kinderkliniken haben die Herausforderungen rund um die Medikation erkannt und gehen die Problematik proaktiv an. Eine der Massnahmen zur Verhinderung von Medikationsfehlern ist die Einführung von intelligenten eHealth-Tools, sogenannte «Clinical Decision Support» (CDS) Tools, welche die Gesundheitsfachpersonen unterstützen. Internationale Studien zeigen, dass die Implementierung eines CDS Dosierungsfehler stark reduziert und die Mortalität senkt. Mit PEDeDose steht den Kinderärztinnen und Kinderärzten erstmals ein professionelles, webbasiertes «Clinical Decision Support»-Tool zur Verfügung, das die Arzneimitteltherapie bei Kindern sicherer gestaltet.
Arzneimittelsicherheit in der Kindermedizin
Die medikamentöse Therapie von Kindern ist ungleich komplexer als die von erwachsenen Patientinnen und Patienten. Die nicht-lineare Entwicklung des Kindes sowie pharmakokinetische Besonderheiten führen zu komplexen Dosierungen bezogen auf das Alter und/oder das Gewicht oder die Körperoberfläche. Ungenügende Datenlage und fehlende Dokumentation zur Wirksamkeit und Sicherheit, ungeeignete Arzneiformen für Säuglinge und Kleinkinder, die keine festen oralen Arzneimittel schlucken können, das Heraussuchen und Berechnen der korrekten Dosierung – diese Tatsachen stellen die Fachpersonen vor enorme Herausforderungen. Das hat zur Folge, dass bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen mehr unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Medikationsfehler auftreten.
Die Inzidenz von unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei hospitalisierten Kindern liegt gemäss einem kürzlich veröffentlichten Review bei 16% 1). Sie lassen sich teilweise nicht vermeiden, insbesondere solche, die dosisunabhängig auftreten. Anders liegt die Sache bei unerwünschten Ereignissen, die durch Medikationsfehler, also zum Beispiel durch eine nicht korrekte Verordnung, Zubereitung oder Applikation, verursacht wurden. Diese können mit oder ohne Folgen für den Patienten enden. Über den gesamten Medikationsprozess führten gemäss einer Untersuchung von Kaushal R et al. 2) 5.7% aller Verordnungen bei hospitalisierten Kindern zu einem Fehler. Rund drei Viertel aller Fehler erfolgte bei der ärztlichen Verordnung, wobei in 28% eine falsche Dosierung verordnet wurde. Insgesamt kam es zu 55 Medikationsfehlern auf 100 Hospitalisationen. Als Vergleich: Bei erwachsenen Patienten waren es 6 Medikationsfehler auf 100 Hospitalisationen – also zehnmal weniger 3). Entsprechend einer eben veröffentlichte Review zur Prävalenz von Medikationsfehlern bei hospitalisierten Kindern in UK lag der Median der Verordnungsfehler bei 6.5% aller Verordnungen, 11% davon betraf die Dosierung 4). Studien in Schweizer Kinderspitälern- und -kliniken sind spärlich. Gemäss einer Studie, welche bei den komplexesten Patientinnen und Patienten auf den Intensivstationen durchgeführt wurde, lag die Fehlerrate bei Verordnungen bei 14%, die Hälfte davon betraf die Dosierung. Die Schweregradeinteilung (Klassifizierung gemäss National Coordinating Council for Medication Error Reporting and Prevention) zeigte, dass 70% aller Verordnungsfehler eine Intervention benötigen. Oder anders gesagt, 7.5% aller Verordnungen hätte ohne Intervention zu einem Patientenschaden führen können 5). Eine Analyse von Daten aus Nordirland, ausgehend von über 1’500 «critical incident» Meldungen zur Medikation bei Kindern aus Spitälern und Kinderarztpraxen, führten ebenfalls zum Resultat, dass Dosierungsfehler die häufigste Quelle für Medikationsfehler sind 6). Diese Tatsache wird durch weitere aktuelle Studien in der Kindermedizin und Neonatologie untermauert 6–8). Eine umfassende Übersichtsarbeit mit 35 eingeschlossenen Studien zum Thema Medikationsfehler und vermeidbare unerwünschte Arzneimittelereignisse kommt zum Ergebnis, dass Dosierungsfehler die häufigsten Medikationsfehler auf pädiatrischen und neonatologischen Intensivstationen darstellen 8). Die Datenlage im ambulanten Bereich der Kindermedizin ist bei weitem nicht so solide wie im stationären Bereich. Jedoch zeigte eine Studie der Forschungsgruppe von Kaushal und Bates, dass jede siebte Verordnung bei Kindern im ambulanten Setting einen «near miss» beinhaltete, also den jungen Patientinnen und Patienten potenziell schaden konnte. Insgesamt betrafen fast ein Drittel aller Fehler die Dosierung 9).
Die Medikationssicherheit hat bei vielen Kinderspitälern und Kinderkliniken eine hohe Priorität, die Sensibilität für dieses Thema hat in den letzten Jahren zugenommen. Entsprechend haben die Kliniken ein CIRS-Meldesystem implementiert und diverse Qualitätsprojekte sind im Gange. Insbesondere führten diese Anstrengungen auch zu einer verantwortungsvollen, offeneren und systematischen Kommunikation gegenüber Betroffenen.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen
«Pediatrics does not deal with miniature men and women, with reduced doses and the same class of disease in smaller bodies, but… has its own independent range and horizon», sagte Abraham Jacobi (1830 – 1919), ein Pionier der Kinderheilkunde.
Die pharmakokinetischen Besonderheiten beim Kind beeinflussen direkt die Verfügbarkeit eines Wirkstoffes und somit die Dosierung. Alle «Schritte» der Pharmakokinetik (Absorption, Distribution, Metabolismus und Elimination) sind der nicht-linearen Entwicklung eines Kindes unterworfen. 10)
Off-label-use in der Schweiz weit verbreitet
«Off-label-use» ist vielfach aufgrund der fehlenden formalisierten randomisierten Trials in der Altersklasse der Kinder notwendig. Viele dieser Medikamente werden jedoch dennoch aufgrund von Erwahrungswerten in gewichtsadaptierter Dosierung seit Jahren erfolgreich eingesetzt. Die Erfahrungen aus dem klinischen Alltag fliessen in Beobachtungsstudien ein. Rund die Hälfte aller Verordnungen bei hospitalisierten Kindern in der Schweiz erfolgt im «unlicensed» oder «off-label»-Bereich erfolgt. Oder anders gesagt: Über 80% aller Patienten in Schweizer Kinderspitälern werden mit mindestens einem Arzneimittel therapiert, bei welchem es sich um ein – oft spezifisch für den Patienten – hergestelltes Arzneimittel (Formula-Arzneimittel), um ein Importprodukt («unlicensed») oder aber um ein Arzneimittel handelt, welches zwar in der Schweiz registriert ist, aber nicht gemäss Fachinformation («off-label») angewendet wird 11). Im ambulanten Bereich dürfte der Anteil im Off-Labeleingesetzter Arzneimittel etwas tiefer liegen, gemäss einer Studie aus Frankreich bei 40% aller Arzneimittelabgaben 12). Zum «off-label-use» gehören alle Anwendungen eines Arzneimittels ausserhalb der Fachinformation, d.h. die Anwendung bei einer anderen Indikation, bei einer anderen Altersgruppe, in einer anderen Dosierung oder nach einer nicht beschriebenen «Manipulation» des Arzneimittels wie z.B. dem Suspendieren einer Tablette zur einfacheren Einnahme oder dem Verdünnen einer Injektionslösung zur Erhöhung der Dosiergenauigkeit.
Die Situation hinsichtlich «off-label-use» in der Kindermedizin verbessert sich schrittweise aufgrund von behördlichen Massnahmen auf europäischer wie auch auf nationaler Ebene. So profitiert die Pharmaindustrie von zusätzlichen Anreizen in Form von Verlängerung von Patenten, wenn sie Arzneimittel auch für Kinder erforscht. Diese Massnahmen fokussieren jedoch nur auf neu zugelassene Wirkstoffe. Für die am häufigsten in der Kindermedizin eingesetzten Wirkstoffe greifen sie hingegen nicht – denn sie fallen längst nicht mehr unter den Patentschutz. Ohne finanziellen Anreiz schwindet die Hoffnung, dass die älteren Wirkstoffe bei Kindern je noch besser untersucht werden. Neuere Ansätze wie «data driven medicine», «machine-learning» Technologien und «patient related outcome measures» können in der Zukunft wesentlich zur Erfassung von erwünschten und unerwünschten Wirkungen von Medikamenten im realen Routine-Alltag in der Pädiatrie beitragen. Die aktuelle SPHN Initiative (www.sphn.ch) versucht in der Schweiz eine Infrastruktur aufzubauen, mit denen Forschende und Kliniker/innen unter Einhaltung des Datenschutzes, der ethischen und rechtlichen Richtlinien auch innovative klinische Forschung mit grösseren Datenmengen aus allen Kinderspitalern zur Verbesserung der Versorgungsqualität bei Kindern durchführen können.
Gesundheitsfachperson auf sich allein gestellt
Dosierungen bei Kindern sind nicht nur aufgrund der pharmakokinetischen Besonderheiten ein komplexes Thema, sondern auch aufgrund von Unterschieden abhängig von der Indikation. Aufgrund der fehlenden Datenlage bleibt der Kinderärztin oder dem Kinderarzt gar keine andere Wahl, als ein Medikament im «off-label» oder «unlicensed» Bereich zu verordnen. Das heisst, dass die «korrekte» Dosierung eines Arzneimittels aus verschiedenen Quellen zusammengesucht werden muss. Oft ist schwierig abschätzbar, welche Evidenz hinter einer Angabe steckt. Hier hakte der Bund im Rahmen einer Revision des Heilmittelgesetztes ein und lancierte die nationale Datenbank mit harmonisierten Off-Label-Dosierungsempfehlungen. Der Verein SwissPedDose betreibt seit April 2018 im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit diese Datenbank. Diese Anstrengungen sind vorbildlich, das Engagement der acht grössten Kinderkliniken, welche pädiatrische Dosierungen vereinheitlichen, beachtenswert. Seit der Gründung im Mai 2017 wurden Dosierungen zu 125 Wirkstoffen (Stand Mai 2021) harmonisiert und unter www.swisspeddose.ch veröffentlicht.
Verein SwissPedDose:
Der Verein SwissPedDose wurde von den acht Kinderkliniken des Collège A (Aarau, Basel, Bern, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen, Zürich) zusammen mit der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) und dem Schweizerischen Verein für Amts- und Spitalapotheker (GSASA) im Mai 2017 gegründet. Er betreibt seit dem 1. April 2018 im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) die nationale Datenbank mit Dosierungsempfehlungen für Arzneimittel bei Kindern.
Eine Datenbank alleine reicht jedoch nicht, um Kinder vor Dosierungsfehlern zu schützen. Liegt nämlich eine Dosierungsangabe vor, welche sich meist auf das Körpergewicht oder die Körperoberfläche bezieht, so müssen Ärzte/innen und Apotheker/innen die individuelle Dosierung für das Kind trotzdem noch berechnen. Bei flüssigen Arzneiformen braucht es einen weiteren Rechenschritt: von der Menge und der Konzentration zum Volumen oder der Anzahl Tropfen.
Individuelle Berechnungen mit hohem Fehlerpotenzial
Für die Gesundheitsfachpersonen kann eine Angabe der Dosierung in «mg/Tag verteilt auf 3 Gaben» Schwierigkeiten bereiten. Interpretieren sie die Tagesdosis als Einzeldosis, kommt es zu Überdosierungen. Des Weiteren führen Maximaldosen (z.B. in mg/Tag) oft zu Missverständnissen, wenn die Angabe der gängigen Dosierung in Menge pro Kilogramm Körpergewicht (z.B. mg/kg/Tag) vorliegt. In diesem Fall darf die Dosis nicht jedem Kind verabreicht werden, sondern entspricht einem «Dosierungs-Dach», das bei älteren/schwereren Kindern nicht überschritten werden darf.
Selbstverständlich kommen weitere Überlegungen bei einer Verordnung dazu: Ist das Kind adipös? Wie verteilt sich dann der Wirkstoff und muss allenfalls die Dosierung angepasst werden? Hat das Kind eine Nieren- oder Leberinsuffizienz? Und, wie sieht es mit allfälligen Interaktionen bei Co-Medikation oder mit der Dosierung eines spezifischen Wirkstoffs bei einem genetischen Polymorphismus aus? Kann das Kind eine feste Arzneiform überhaupt schlucken oder muss eine orale flüssige Form verabreicht werden?
Wie können Medikationsfehler verhindert werden?
Da Medikationsfehler vermeidbar sind, sollten die Gesundheitsfachpersonen Strategien festlegen, um diese zu reduzieren und Patienten vor negativen Folgen zu schützen. Meyer C et al. 13) führt in einer Übersichtsarbeit die folgenden evidenzbasierten Verbesserungsmassnahmen zur Reduktion von Medikationsfehlern auf:
- Klinisch-pharmazeutische Aktivitäten
- Elektronische Hilfsmittel
- Durchführung von Doppelkontrollen
- „Critical Incident Reporting System“
- Standardisierungen (inkl. Checklisten)
- Reduktion von Unterbrechungen während Medikationsprozessen
- Schulung von Gesundheitsfachpersonen
- Involvierung / Schulung von Patientinnen und Patienten
- Optimierung der Logistik
- Einführung von Farbcodierungen
Dabei halten die Autoren fest, dass eine Kombination von Massnahmen sinnvoll ist, da wenige Überschneidungen bestehen. Einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren für die Umsetzung ist die Unterstützung durch die Führungsebene einer Institution.
Diese Verbesserungsmassnahmen sind auch für die Kindermedizin gültig. Eine Studie von Fortescue EB et al. 14) untersuchte bei hospitalisierten Kindern, welche Massnahmen den grössten Effekt hinsichtlich Reduktion von Medikationsfehler haben. Die Präsenz einer/s klinischen Pharmazeuten/in zum Monitoring der Arzneimitteltherapie – von der Verordnung bis zur Verabreichung – kann zu einer Vermeidung von rund 80% aller Fehler führen. Einen annährend so grossen Effekt (75%) hat die Einführung der elektronischen Verordnung («computerized physician order entry» (CPOE)) mit klinischen Entscheidungshilfen («Clinical Decision Support» (CDS)), wobei alleine schon ein Dosischeck ein Drittel der Fehler im gesamten Medikationsprozess eliminieren kann. Auch neueste Empfehlungen führen die klinische Pharmazie, die Einführung von elektronischer Verordnung spezifisch für die Kindermedizin, elektronischen Patientenakten und CDS-Tools sowie Hilfestellungen für Ärztinnen und Ärzte beim Verordnen auf 15).
Nicht zuletzt scheint die wirksamste Massnahme weiterhin zu sein: «Das Arzneimittel, welches nicht gegeben werden muss, ist immer noch das Beste». Oder anders gesagt: «less is often more». Ein regelmässiges Hinterfragen der bestehenden Medikationsliste bezüglich Notwendigkeit jedes einzelnen Arzneimittels und ein allfälliges Stoppen ist ebenso wichtig wie eine Neuverordnung aufgrund einer neu gestellten Diagnose.
Was kann die Digitalisierung zur Arzneimittelsicherheit beitragen?
Bereits der schnelle und einfache Zugriff auf die notwendige Information stellt für die medizinischen Fachpersonen einen Gewinn dar. Apps für mobile Endgeräte sind ein Hype, wobei die tatsächliche Nutzung in der Praxis eher überbewertet wird 16). Dem niederschwelligen, oft kostenlosen Zugang steht teilweise ein unreflektierter Einsatz gegenüber. Als Risiken bei der Nutzung von medizinischen Apps werden des Weiteren die oft mangelnde Transparenz der Datenherkunft, der Autorenschaft sowie die fehlende Interoperabilität und das Nichtexistieren von Qualitätsstandards genannt. Vor der Nutzung einer medizinischen App (und auch sonstiger Informationsquellen) ist es trotz Aufwand ratsam, anhand einer Evaluation die Validität der Daten zu prüfen.
Sollen elektronische Datenbanken wesentlich zur Fehlerreduktion beitragen, dann müssen die Informationen prozessintegriert bei der elektronischen Verordnung (Arzt/ Ärztin) oder bei der Dokumentation der Abgabe (Apotheker/in und Pflegefachperson) zur Verfügung stehen. Im besten Fall bildet die Datenbank die Grundlage des «Clinical Decision Support»-Tools, welches den medizinischen Fachpersonen eine Entscheidungshilfe anbietet und als Alarm-System sich dann meldet, wenn ein Problem (z.B. eine zu hohe Dosierung) auftaucht.
Elektronische Verordnung mit «Clinical Decision Support»
Dass die Häufigkeit von (potentiellen) unerwünschten Arzneimittel-Ereignissen und schwerwiegenden Medikationsfehlern durch Einführung der elektronischen Verordnung mit CDS-Tools signifikant sinkt, wurde bereits um die Jahrtausendwende mehrfach nachgewiesen. Die Untersuchung der Forschungsgruppe um Bates stellte fest, dass die Implementierung einer elektronischen Verordnung (CPOE) schwerwiegende Medikationsfehler um 55% reduzierte 17). Etwas später belegte dieselbe Forschungsgruppe, dass eine automatische Alarmierung beim Überschreiten der Maximaldosierung dazu führte, dass dieser Fehler nachhaltig um rund 80% minimiert wurde 18).
Hingegen zeigt sich besonders in der Kindermedizin, dass der Einfluss von CPOE ohne CDS limitiert ist. Gemäss Kadmon G et al. 19) verbesserte ein CPOE auf einer pädiatrischen Intensivstation kaum die Fehlerquote. Erst die zusätzliche Einführung eines CDS mit gewichtsbasierten Dosierungen reduzierte die Verordnungsfehler signifikant.
Obwohl der «Clinical Decision Support» mit umfassender Dosierungsdatenbank in der Kindermedizin noch wenig erforscht ist, belegen erste Studien die Reduktion der Fehlerrate 20). Schliesslich stellt sich auch die Frage, ob weniger Medikationsfehler automatisch zu einer Reduktion der Mortalität führen. Ebendies analysierte Longhurst CA et al. 21) eindrücklich mit Daten aus einer Kinderklinik mit 303 Betten: Die Mortalitätsrate sank nach Einführung der elektronischen Verordnung mit einem CDS sowie einer umfassenden Pflegedokumentation um 20%. In anderen Worten: 36 Todesfälle konnten so in den ersten 18 Monaten nach Einführung des CPOE mit CDS verhindert werden.
Bemerkenswert ist, dass eine neue Studie von Gildon BL et al. 22) den elektronischen Verordnungssystemen für die Kindermedizin ein schlechtes Zeugnis ausstellt: Sie erfüllen die Anforderungen nur ungenügend und verhindern Fehler nicht. Die Autoren halten fest, dass durch den Einsatz von indikationsspezifischen Dosierungen und der Nutzung von gewichtsbasierten Dosierungsempfehlungen mit individueller Berechnung die meisten Dosierungsfehler vermieden werden könnten.
In einem Statement Paper empfiehlt die «American Academy of Pediatrics» die Implementierung von CPOE-Systemen, die mit integrierten CDS komplexe Dosisberechnungen zuverlässig ermöglichen, in welche neben Alter, Körpergewicht oder Körperoberfläche auch weitere Parameter einfliessen können 23).
Aktuell verfügbare CDS-Tools fokussieren auf die Unterstützung während der ärztlichen Verordnung respektive zur pharmazeutischen Validierung einer Verordnung. Vorstellbar sind jedoch auch CDS-Tools zur Unterstützung der pflegerischen Tätigkeiten, z.B. für die Zubereitung von parenteral zu applizierenden Medikamenten.
Ein kritischer Blick auf CDS-Tools
Letztendlich bedarf es auch eines kritischen Blickes auf elektronische Verordnungssysteme. CPOE und CDS-Tools dürfen nicht unbedacht und ohne gute Planung eingeführt werden. Unter dem Fachbegriff «e-iatrogenesis» werden unbeabsichtigte Folgen zusammengefasst 24). Dazu gehören zum Beispiel die Verzögerung einer Behandlung oder das Phänomen des «over-alerting» und «alert fatigue», wenn zu viele Alarme mit tiefer klinischer Signifikanz angezeigt werden. Die medizinische Fachperson «ermüdet» ob der Alarmierungen und riskiert, klinisch relevante Hinweise unbeachtet wegzuklicken. Bates DW et al. 25) publizierten deshalb folgende zehn Empfehlungen für ein effektives CDS:
- Geschwindigkeit ist alles.
- Antizipation von Bedürfnissen und Verfügbarkeit in Echtzeit.
- Integriert in den Workflow des Nutzers.
- Kleine Dinge können grosse Unterschiede ausmachen.
- Die Ärzteschaft akzeptiert keine Unterbrüche.
- Richtungswechsel ist einfacher als “Stoppen”.
- Einfache Interventionen funktionieren am besten.
- Weitere Information soll nur angefordert werden, wenn sie wirklich gebraucht wird.
- Monitoring des Impacts, Rückmeldungen bearbeiten, allenfalls einfordern.
- Wissensdatenbanken müssen à-jour gehalten werden.
Bevor ein CDS-Tool klinisch genutzt wird, müssen die Limitationen des Tools bekannt sein. Ein Tool zur Berechnung von individuellen Dosierungen erkennt nicht zwingendermassen automatisch, wenn ein Kind eine Nieren- oder Leberinsuffizienz hat. Ebenso wenig passt es die Dosierung aufgrund einer Arzneimittelinteraktion automatisch an oder aber erkennt ein Kind mit einem genetischen Polymorphismus. Für diese Besonderheiten braucht es ärztliches und/oder pharmazeutisches Knowhow. Die Verantwortung bleibt beim/bei der verordnenden Kinderarzt/ärztin respektive im ambulanten Bereich ebenso bei dem/der Apotheker/in, welche die Verordnung validiert und abgibt.
Obligatorische Zertifizierung zur Qualitätssteigerung
Die Digitalisierung in der Medizin bietet viel Potenzial hinsichtlich der Vermeidung von Fehlern, insbesondere in der Kindermedizin. Die Validität der medizinischen Informationen und CDS-Tools sowie auch die Performance und Benutzerfreundlichkeit der Applikationen müssen dabei einen qualitativ hohen Standard erfüllen. Nur so kann die Arzneimittelsicherheit bei Kindern tatsächlich optimiert werden. Für Tools, welche den Gesundheitsfachpersonen patientenindividuelle Ratschläge erteilen, ist gemäss Gesetzgebung eine Zertifizierung als Medizinprodukt Pflicht. Ebenso ist der Hersteller eines solchen Tools verpflichtet, eine ISO 13485:2016-Zertifizierung zu erlangen, die ein umfassendes Qualitätsmanagement voraussetzt. Diese behördlichen Massnahmen sollen für Medizinprodukte eine hohe Qualität garantieren.
Motion Stöckli:
Die von Ständerat Hans Stöckli eingereichte Motion soll Kinderkliniken und öffentlichen Apotheken verpflichten, ein «Clinical Decision Support»-Tool zur Vermeidung von Dosierungsfehlern einzusetzen. Im vergangenen September hat sich der Nationalrat einstimmig für die Motion ausgesprochen, nachdem bereits der Bundesrat und der Ständerat die Motion zur Annahme empfahlen. Die Politik setzt damit ein klares Zeichen und gibt das Ziel vor: Die Arzneimittelsicherheit für Kinder muss in der Schweiz erhöht werden.
Kinderspital Zürich leistet Pionierarbeit
Das Universitäts-Kinderspital Zürich entwickelte während der letzten 13 Jahre eine Datenbank mit pädiatrischen Dosierungen. Dieses Wissen stellte es ab 2012 über eine Website, die mit dem Swiss Quality Award ausgezeichnet wurde, allen Gesundheitsfachpersonen zur Verfügung. Obwohl die Dosierungen der Ärzteschaft in Buchform, aber auch bereits online über das klinikeigene Portal zur Verfügung standen, waren immer noch 14% aller Verordnungen fehlerhaft, rund 50% der Fehler betrafen die Dosierung 5).
Im Zuge der Einführung der elektronischen Verordnung wurde der Ruf nach einem intelligenten Algorithmus zur patientenindividuellen Berechnung von Dosierungen immer lauter. Deshalb entschied sich das Universitäts-Kinderspital Zürich die eigene Dosierungsdatenbank als «Herzstück der elektronischen Verordnung» zu professionalisieren. Dazu gründete es am 1. Juli 2018 die Spin-off Firma «PEDeus AG» (PEDeus steht für «Pediatric Decision Support»). Diese entwickelte das «Clinical Decision Support»-Tool PEDeDose, das im Juli 2018 vorerst als Medizinprodukt der Klasse I an Swissmedic notifiziert und seither am Kinderspital Zürich im Einsatz steht. Seit April 2019 steht PEDeDose allen Gesundheitsfachpersonen der Schweiz zur Verfügung.
PEDeus erlangte im 2020 die Zertifizierung nach ISO 13485:2016, seit Kurzem nun ist PEDeDose gemäss neuester Gesetzgebung, der europaweit gültigen «Medical Device Regulation», als Medizinprodukt der Klasse IIa zertifiziert.
Was ist PEDeDose?
PEDeDose ist ein «Clinical Decision Support»-Tool, das Kinderärztinnen und Kinderärzte bei der Berechnung von patientenindividuellen Dosierungen unterstützt. Diese greifen über eine Website auf die umfassende Dosierungsdatenbank, auf der programmierte Algorithmen die Berechnung der kindsspezifischen Dosierung übernehmen. Über einen Webservice lässt sich PEDeDose zudem in Klinikinformationssysteme sowie Arztpraxen- und Apothekensoftware integrieren. Die im Klinikinformationssystem integrierte Nutzung ist im Universitäts-Kinderspital Zürich bereits implementiert. In Kürze werden von dieser eleganten Art der Nutzung weitere Kinderspitäler wie das Universitäts-Kinderspital beider Basel und das Ostschweizer Kinderspital profitieren.
Dosierungsdatenbank von PEDeDose
Die Datenbank umfasst alle wichtigen Wirkstoffe, die in Kinderkliniken standardmässig zum Einsatz kommen. Davon ausgenommen sind einzig HIV-Arzneimittel sowie Zytostatika. Die Dosierungsdaten sind in der Regel der Primärliteratur entnommen. Die national harmonisierten Dosierungsempfehlungen von SwissPedDose, sowie Daten aus weiteren anerkannten Werken und wo vorhanden aus der Fachinformation fliessen in die PEDeDose-Datenbank ein. Weiter wird das Wissen aus der Praxis berücksichtigt, indem empirische Angaben des Universitäts-Kinderspitals Zürich und anderer Kinderkliniken sowie Arztpraxen und Apotheken validiert und, wo angebracht, aufgenommen werden. Um eine hohe Korrektheit der Dosierungsdaten zu gewährleisten, werden sämtliche Daten im 6-Augenprinzip kontrolliert und freigegeben. Im klinischen Alltag stellen sich weitere Fragen rund um den Umgang mit Arzneimitteln bei Kindern. Daher sind in der PEDeDose-Datenbank viele Wirkstoffe und Schweizer Arzneimittelprodukte mit wertvollen Angaben ergänzt.
Patientenindividuelle Dosierungsberechnung
Die in PEDeDose integrierten Algorithmen berechnen die patientenindividuelle Dosierung basierend auf Kindsangaben wie Geburtsdatum, Körpergewicht und bei Bedarf Körperlänge. Bei Frühgeborenen wird zusätzlich das Gestationsalter berücksichtigt. Seit Kurzem wird die individuelle Dosierung bei flüssigen oralen Arzneimitteln nicht nur in mg angezeigt, sondern zusätzlich in die Abgabeeinheit, also die entsprechende Anzahl mL oder Tropfen, umgerechnet.
Integration in bestehende Systeme
PEDeDose lässt sich in bestehende Klinikinformationssysteme wie auch Arztpraxen- und Apothekensoftware einbinden. Die hohe Interoperabilität erlaubt eine Prozessintegration, sodass die individuell berechneten Dosierungsdaten direkt im Primärsystem angezeigt und die Ärzte/Ärztinnen die Nutzeroberfläche nicht wechseln müssen. Weiter kann mittels Dosisrückcheck, der ebenfalls zu PEDeDose gehört, eine verordnete Dosierung direkt im Verordnungssystem oder in der Apothekensoftware überprüft werden. Ist die definierte und vom Wirkstoff abhängige Toleranz über- oder unterschritten, weist PEDeDose auf die Abweichung hin.
PEDeus
PEDeus ist eine 100%ige Tochtergesellschaft des Universitäts-Kinderspitals Zürich. Unsere Vision ist die Perfektionierung der Arzneimitteltherapie und Arzneimittelsicherheit bei Kindern durch «clinical decision support» (CDS).
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