Ein Neugeborenen-Screening auf verschiedene angeborene Stoffwechselkrankheiten besteht in der Schweiz bereits seit über 40 Jahren und wird landläufig auch «Guthrie- Test» genannt. Der Name stammt vom Mikrobiologen Robert Guthrie, der 1960 ein Verfahren zur Diagnose der Phenylketonurie aus einem Bluttropfen entwickelt hat. Beim Neugeborenen-Screening wird am vierten Lebenstag bei jedem Neugeborenen in der Schweiz etwas Blut an der Ferse abgenommen und auf einem Filterpapier getrocknet. Dieses wird seit Herbst 2005 im einzigen Neugeborenen-Screeninglabor der Schweiz, im Kinderspital Zürich, verarbeitet, wo auf sechs behandelbare Krankheiten (Tab. 1) getestet wird. Werden diese Krankheiten nicht behandelt, kommt es in den meisten Fällen zu schweren Organschädigungen und Entwicklungsstörungen.
Fortbildung / Formation continue
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Vol. 19 No. 6 2008
Ein Neugeborenen-Screening auf verschie-
dene angeborene Stoffwechselkrankheiten
besteht in der Schweiz bereits seit über 40
Jahren und wird landläufig auch «Guthrie-
Test» genannt. Der Name stammt vom
Mikrobiologen Robert Guthrie, der 1960 ein
Verfahren zur Diagnose der Phenylketonurie
aus einem Bluttropfen entwickelt hat. Beim
Neugeborenen-Screening wird am vierten
Lebenstag bei jedem Neugeborenen in der
Schweiz etwas Blut an der Ferse abgenom –
men und auf einem Filterpapier getrocknet.
Dieses wird seit Herbst 2005 im einzigen
Neugeborenen-Screeninglabor der Schweiz,
im Kinderspital Zürich, verarbeitet, wo auf
sechs behandelbare Krankheiten (Tab. 1)
getestet wird. Werden diese Krankheiten
nicht behandelt, kommt es in den meisten
Fällen zu schweren Organschädigungen und
Entwicklungsstörungen. Die Weltgesund –
heitsorganisation (WHO) hat klare Kriterien
aufgestellt, welche Krankheiten für ein
Neugeborenen-Screening (NGS) geeignet
sind: Die Krankheit muss klinisch relevant
sein und ausreichend häufig vorkommen, es
sollte ein symptomfreies Intervall nach der
Geburt vorhanden sein und – neben einer
zuverlässigen, billigen und einfachen Ana –
lysemethode – eine wirkungsvolle Therapie
zur Verfügung stehen. Die bisher getesteten
Krankheiten weisen eine Inzidenz (Häufig –
keit pro Anzahl Geburten) von 1 : 3500 bis
1 : 77000 auf.
Ist die zystische Fibrose für
ein Neugeborenen-Screening
geeignet?
Die zystische Fibrose (CF) ist die häufigste
angeborene Stoffwechselerkankung in der
Schweiz mit einer Inzidenz von 1 : 2500,
das heisst sie kommt häufiger vor, als alle
bisher getesteten Krankheiten. Mit Ausnah –
me des Mekoniumileus hat auch die CF ein
symptomfreies Intervall unmittelbar nach
der Geburt. Die Diagnose wird in der Regel
aufgrund der später auftretenden Sympto –
me (rezidivierender Husten bzw. obstruk –
tive Bronchitis, Gedeihstörung, Fettstühle,
chronische Bauchschmerzen, chronische
Rhinosinusitis bzw. Nasenpolypen usw.) mit
einer Verzögerung von mehreren Monaten,
teilweise auch Jahren, gestellt. Gemäss dem
international akzeptierten Konsensusreport
der nordamerikanischen CF-Gesellschaft
von 1998
1) und dem Update von 2008 2)
gelten für die Diagnose einer CF folgen –
de Kriterien: Vorhandensein eines oder
mehrerer typischer CF-Symptome oder ein
Familienmitglied mit CF (oder ein positiver
Neugeborenen-Screening-Test) zusammen
mit einem zweimaligen Nachweis einer
erhöhten Chloridkonzentration im Schweiss –
test oder die Identifikation von zwei CF-
Genmutationen im Blut.
In den USA beträgt die mediane Zeit bis
zur Diagnosestellung ohne Neugeborenen-
Screening 14, in England rund 6 Monate
3). In den letzten Jahren haben sich die Thera
–
piemöglichkeiten deutlich verbessert, und
die Lebenserwartung hat in den letzten Jahr-
zehnten dramatisch zugenommen
4). Gemäss
dem amerikanischen CF-Patienten-Register
beträgt heute das mediane Durchschnitts –
alter bereits knapp 40 Jahre. In England
schätzt man das mittlere Überlebensalter
auf 50 Jahre für diejenigen Patienten, die
nach 2000 geboren sind. Seit 1979 gibt
es mit dem immunreaktiven Trypsin (IRT)
eine einfache und recht zuverlässige Ana –
lysemethode für das Screening auf CF im
Blut, die bei Neugeborenen gut angewandt
werden kann
5).
CF-Neugeborenen-Screening
in anderen Ländern
Die ersten grossen CF-Screening-Program –
me wurden bereits 1981 in Neuseeland
und New South Wales (Australien) begon –
nen und beide Länder haben inzwischen
mehr als 25 Jahre Erfahrung mit dem CF-
Neugeborenen-Screening (CF-NGS)
6). Seit
2001 werden alle Kinder in Australien auf
CF gescreent. Etwas später haben auch
die amerikanischen Staaten Colorado und
Wisconsin mit dem CF-NGS angefangen,
und heute haben bereits über 40 ameri –
kanische Staaten ein CF-NGS
2), 3) . In Euro –
pa haben als erstes Venetien (Italien) und
Leeds (England) vor über 25 Jahren mit
dem CF-NGS begonnen. Inzwischen gibt
es sechs nationale (Österreich, Frankreich,
Irland, England, Schottland und Polen) und
zahlreiche regionale CF-NGS-Programme
7).
In den USA gibt es heute Richtlinien, wie
solche Programme aufgebaut, umgesetzt
und erfolgreich geführt werden können
8). In
Europa ist man zurzeit daran, solche Emp –
fehlungen zu erarbeiten.
Welche Nutzen bringt ein
CF-Screening?
Bis vor zehn Jahren gab es keine kontrollier-
ten Studien, die einen grossen Vorteil einer
frühzeitigen CF-Diagnose durch ein Scree –
ning gegenüber den Diagnosen aufgrund
von Symptomen hinsichtlich des Krank –
heitsverlaufes zeigten. In den letzten Jahren
wurden aber zahlreiche Studien veröffent –
licht, die bei frühzeitiger Diagnosestellung
eine verbesserte Ernährung und besseres
Wachstum, eine bessere Hirnentwicklung
(infolge von adäquat substituiertem Vita –
min E) sowie weniger Erkrankungen bzw.
Neugeborenen-Screening auf zystische
Fibrose – bald auch in der Schweiz?
Swiss Working Group for Cystic Fibrosis (SWGCF)
Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie (SGPP)
Jürg Barben 1), Toni Torresani 2), Martin H. Schöni 3), Sabina Gallati 4), Matthias Baumgartner 5)
1) Präsident Swiss Working Group for Cystic Fibrosis
(SWGCF), Sekretär Schweizerische Gesellschaft für
Pädiatrische Pneumologie (SGPP),
Leitender Arzt Pneumologie/Allergologie, Ostschwei –
zer Kinderspital St.Gallen.
2) Leiter Neugeborenen-Screening Schweiz und Prote –
inhormonlabor Endokrinologie, Universitätskinder-
kliniken Zürich.
3) Chefarzt ambulante Pädiatrie, Universitätskinderkli –
nik Bern.
4) Leiterin Abteilung Humangenetik, Medizinische
Universitäts-Kinderklinik Bern.
5) Leiter Abteilung Stoffwechselkrankheiten, Universi –
tätskinderkliniken Zürich.
Tabelle 1. Aktuell gescreente Krank –
heiten im Schweizer Programm
Phenylketonurie (PKU)
Galaktosämie (Transferase-, Kinase-,
Epimerase-Mangel)
Biotinidase-Mangel
MCADD (Medium-Chain-Acyl-CoA-
Dehydrogenase-Mangel)
Kongenitaler Hypothyroidismus
Kongenitales Adrenogenitales Syndrom
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Spitalaufenthalte und teilweise auch eine
verbesserte Lungenfunktion zeigten 4), 9). Eini –
ge Studien konnten auch eine erhöhte Über-
lebenszeit nachweisen. Alle Screening- Pro –
gramme weisen auf den grossen psycholo –
gischen Vorteil hin, die Leidenszeit bis zur
Diagnose (bzw. die Ungewissheit der El –
tern) zu verkürzen. Ausserdem ermöglicht
die frühzeitige Diagnose eine bewusstere
Familienplanung mit der Möglichkeit einer
pränatalen Diagnostik bei weiterem Kinder-
wunsch
3).
Gibt es auch Nachteile?
Wie bei jedem Screeningtest gibt es falsch-
positive und falsch-negative Resultate. Die
falsch-positiven Resultate werden mit dem
zweistufigen Verfahren (siehe unten) mög –
lichst klein gehalten, wobei eine optimale
Balance anzustreben ist, um so viele CF-
Kinder wie möglich frühzeitig zu erfassen
(= gute Sensitivität). Dabei sind aber nur die –
jenigen zu erfassen, die auch wirklich eine
CF mit entspechenden Symptomen entwi –
ckeln (= gute Spezifität). Der Schweisstest
gibt letztendlich Aufschluss über das Vor-
handensein einer CF mit relevanten Symp –
tomen. Die Zeit bis zu diesem Test wird von
den Eltern unterschiedlich wahrgenommen.
Die falsch-negativen Resultate, das heisst
diejenigen, die eine CF aufweisen, aber im
Screeningtest nicht erfasst werden, werden
in den USA auf rund 2–4% geschätzt
3). Dies
hängt hauptsächlich davon ab, nach wie
vielen verschiedenen (von den über 1500
bekannten) CF-Genmutationen beim Test
gesucht wird. Das bedeutet auch, dass in
Zukunft bei entsprechend klinischer Symp –
tomatik immer an eine CF gedacht werden
muss, denn auch das beste CF-NGS kann
nicht alle Kinder mit CF erfassen. Je mehr
Mutationen gesucht werden, desto höher
ist die Erkennungsrate von mild verlaufen –
den Formen von CF, die vielleicht erst mit
20 oder 30 Jahren Symptome entwickeln
würden. Ein weiterer möglicher Nachteil
ist, dass gescreente Kinder mit CF schon
früh in einem CF-Zentrum mit Mikroben
infiziert werden können, mit denen sie nie
in Kontakt gekommen wären, wenn sie
nicht in ein CF-Zentrum gekommen wären.
Aus diesem Grund kommt den Hygiene-
empfehlungen in den Spitälern eine grosse
Bedeutung zu. Bei jedem CF-Screening
werden auch asymptomatische Träger von
CF-Mutationen gefunden (solche, die im
Screening positiv sind, aber einen norma -len Schweisstest haben), und es gibt Men
–
schen, die einen solchen Trägerstatus gar
nicht wissen möchten.
Wie funktioniert
ein CF-Screening?
Der erste Schritt eines CF-NGS besteht
aus einem IRT-Test am vierten Lebens –
tag aus dem Blutstropfen des bisherigen
Screenings. Ist dieser Test positiv (Werte
> 99. Perzentile), wird in einigen Ländern
ein zweiter Test im Fersenblut nach weni –
gen Wochen abgenommen
7). Andere Län –
der machen bei positivem erstem IRT-Test
sofort eine genetische Untersuchung auf
die häufigsten CF-Genmutationen – in der
Schweiz wären dies etwa 6–11 verschiede –
ne CF-Genmutationen. Ist auch der zweite
Test positiv, werden die Eltern bzw. die Kin –
derärzte informiert, damit zur Bestätigung
der Verdachtsdiagnose ein Schweisstest
durchgeführt wird und das Kind an einem
CF-Zentrum weiterbetreut werden kann. Da
das NGS eine Reihenuntersuchung gemäss
dem heute geltenden Gesetz für genetische
Untersuchungen beim Menschen darstellt,
ist keine schriftliche Erlaubnis der Eltern
notwendig. Wenn ein Verdacht auf eine CF
durch das Screening gestellt wird, werden
die Eltern mit dem Kind zur weiteren Abklä-
rung in ein CF-Zentrum überwiesen. Dort
werden die weiteren diagnostischen Abklä-
rungen gemäss internationaler Richtlinien
1)
(Schweisstest, genetische Untersuchungen
im Blut usw.) nur bei Zustimmung der Eltern
gemacht und der Verdacht einer CF erhär-
tet oder verworfen.
Was sind die Besonderheiten
in der Schweiz?
Da in der Schweiz nur ein einziges zentrales
Screeninglabor vorhanden ist und die bishe –
rigen Abläufe des NGS sehr gut eingespielt
sind, sind keine technischen Probleme bei
der Umsetzung eines CF-NGS zu erwarten.
Die noch zu lösenden Fragen sind: Welche
Testreihenfolge ist in der Schweiz am bes –
ten und welche CF-Genmutationen sollen
getestet werden? Dazu sind im nächsten
Jahr Studien geplant, um das bestmögliche
Screening für die Schweiz herauszufinden.
Weiter muss noch geklärt werden, wer für
die langfristige Finanzierung des CF-NGS
aufkommt, und wer die dabei anfallenden ge –
netischen Beratungen übernimmt. Ausser-
dem müssen in den CF-Zentren noch die
Abläufe der Diagnostik und Therapie stan –
dardisiert werden, um allen Kindern mit CF
die bestmögliche medizinische Versorgung
zukommen zu lassen.
Aufgrund der überwiegenden Vorteile des
CF-Screenings empfehlen heute sowohl die
amerikanische CF-Foundation (CFF) als auch
die europäische CF-Gesellschaft (ECFS) die
Einführung eines CF-NGS. Die Swiss Wor-
king Group for Cystic Fibrosis (SWGCF) hat
zusammen mit Fachspezialisten für Stoff –
wechselstörungen und Genetikern eine Ar-
beitsgruppe gebildet mit dem Ziel, das CF-
NGS auch in der Schweiz einzuführen.
Literatur
1) Rosenstein BJ, Cutting GR, for the Cystic Fibrosis
Foundation Consensus Panel. The diagnosis of cystic
fibrosis: A consensusstatement. J Pediatrics. 1998;
132: 589–95.
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tellani C, Cutting GR, et al. Guidelines for diagnosis
of cystic fibrosis in newborns through older adults:
Cystic Fibrosis Foundation Consensus Report. J Pe –
diatr. 2008; 153: S4–S14. Ref Type: Journal (Full).
3) Grosse SD, Boyle CA, Botkin JR, Comeau AM,
Kharrazi M, Rosenfeld M, et al. Newborn screening
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4) Balfour-Lynn IM. Newborn screening for cystic fibro –
sis: evidence for benefit. Arch Dis Child. 2008; 93:
7–10.
5) Crossley JR, Elliott RB, Smith PA. Dried-blood spot
screening for cystic fibrosis in the newborn. Lancet.
1979; 1: 472–4.
Korrespondenz:
Dr. med. Jürg Barben
Leitender Arzt Pneumologie
Ostschweizer Kinderspital
CH-9006 St. Gallen
juerg.barben@kispisg.ch
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Jürg Barben , Leitender Arzt Pädiatrische Pneumologie/Allergologie Ostschweizer Kinderspital, St Gallen