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Menschen mit Behinderung: Transition und Langzeitbetreuung

Eine umfassende Betreuung von Menschen mit geburtsbedingter Behinderung stellt in unserem grundsätzlich sehr gut ausgebauten Gesundheitssystem bis ins junge Erwachsenenalter kein Problem dar.

Einleitung

Eine umfassende Betreuung von Menschen mit geburtsbedingter Behinderung stellt in unserem grundsätzlich sehr gut ausgebauten Gesundheitssystem bis ins junge Erwachsenenalter kein Problem dar. Infrastrukturen und Ressourcen sind letztlich zu Recht kaum ökonomisch begrenzt. Viele Kinder mit komplexer Mehrfachbehinderung, am häufigsten Menschen mit spastischen Cerebralparesen (CP), werden langjährig in universitären oder kantonalen Spitäler betreut. Pädiatrische, intensivmedizinische und chirurgische sowie neuroorthopädische Dienstleistungen werden über die Infrastruktur solcher Spitäler gut vernetzt angeboten.

Die dadurch „systemgarantierte“ integrale Betreuung vom Säugling bis ins Jugendalter unterscheidet sich in unserem Gesundheitssystem aber stark von der eindeutig fallbezogenen Versorgung im Erwachsenenbereich. Zudem erfordern eine Reihe von Erkrankungen bzw. Geburtsgebrechen erste Eingriffe in der Kindheit (z.B. anorektale Fehlbildungen, Ösophagusatresien) und bringen unter Umständen im späteren Erwachsenenalter weiteren Behandlungsbedarf mit sich. Im Kindesalter ist meistens die Invalidenversicherung [IV] zuständig, so dass die zwingend indizierten und meist auch zeitlebens erforderlichen Therapien finanziert sind. Basistherapien, wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, verhaltensneuropsychologisch und -agogisch ausgerichtete Betreuung, begleiten die Kinder bis zur Adoleszenz. Ergänzende Optionen wie Musik- und Hippotherapie leisten wertvolle Beiträge zur integrativen und stets individuell abgeglichenen Förderung. Im regionalen Verbund werden Therapieleistungen auch in integrativen Sonderschulen angeboten und auf die Möglichkeiten der Klienten abgestimmt.

Kooperationsmodelle mit Nachsorgeoptionen speziell im neuroorthopädischen und epileptologischen Bereich existieren seit vielen Jahrzehnten, sie sind nach regionalen Besonderheiten unterschiedlich gewichtet. Als Beispiele möchten wir hier die neuropädiatrische und epileptologische Kooperation zwischen Universitäts-Kinderspital Zürich und Epilepsieklinik / Klinik Lengg in Zürich oder die Transitionsprechstunde von Jugendlichen mit Spina bifida zwischen dem Schweizerischen Paraplegikerzentrum in Nottwil und der Kinder-Reha Schweiz in Affoltern am Albis erwähnen. In der Schweiz fehlt aber eine flächendeckende d. h. überregionale und «Diagnose-unabhängige» neurorehabilitativ geprägte Nachsorge.

Im Raum Nordwestschweiz (Basel) hat sich modellhaft eine Kooperation zwischen dem UKBB und der REHAB Basel entwickelt, ca. 1995 beginnend, ab 2002 offiziell eingeführt. Dieses Konzept berücksichtigt den postoperativen, stark physiotherapeutisch ausgerichteten Nachsorgebedarf junger Erwachsener mit mehrfachen Einschränkungen im ambulanten wie auch stationären Kontext. Neuropädiatrische und orthopädische Langzeitpatienten werden im Rahmen einer seit über 20 Jahren etablierten Langzeitsprechstunde in die Erwachsenenmedizin integriert und umfassend regional und überregional weiter betreut.

Wir möchten im Nachfolgenden im Sinne einer Übersicht einige zentrale medizinische, aber auch strukturelle Aspekte und Besonderheiten dieser Langzeit – Nachsorge im Erwachsenenalter herausarbeiten.

Transition-Allgemeines 

Je nach Schweregrad einer Funktionseinschränkung oder Mehrfachbehinderung wird der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen ein „steiniger“ Weg. Spezialisten für das jeweilige Geburtsgebrechen sind am Zentrumsspital vorhanden. Diese aber in der Region für erwachsene Mehrfachbehinderte oder bei einem Kantonswechsel zu finden, gestaltet sich in der Realität oft schwierig.

Der Prozess der Transition folgt bisher in der Schweiz noch keinem umfassend definierten Minimalstandard. Die Transition beginnt zum Zeitpunkt der Erstinformation, der Vorbereitung und Einladung, geht dann weiter mit den Transitionsgesprächen über die elektronisch erfasste und strukturell einheitliche Optimierung einer Krankengeschichte bis hin zur Identifizierung geeigneter Erwachsenenmediziner. Eine Langzeitbetreuung adulter Menschen mit Einschränkungen erfordert früh genug, teils vor dem 18. Lebensjahr, Ressourcen, insbesondere ein administrativ mitstrukturierendes Case-Management. Es fehlt nach unseren Erfahrungen gerade an übergreifenden Ressourcen und mangelt auch an Vernetzung. Der Erfolg einer gut vorbereiteten Transition und das Ankommen eines Mehrfachbehinderten im Erwachsenenleben hängt zu oft nur von wenigen, sehr engagierten Ärzten und weiteren Caregivern ab. Hier muss zukünftig nach unserer Erfahrung, ein spezialisiertes Fallmanagement zwingend und früh organisatorische, inhaltliche und kommunikative Aufgaben übernehmen.

Abbildung 1. Schweizer Transitionsprozess analog Berliner Transitionsprogramm1)
MZEB = Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung

In Deutschland gibt es das Modell der sozialpädiatrischen Zentren (SPZ), die sich um die spätere Integration frühzeitig zu kümmern beginnen. Und im Notfall stehen Erwachsenen verschiedene Medizinische Zentren für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) zur Verfügung, die eine langfristig verfügbare interdisziplinäre Versorgung ermöglichen.

Wesentliche Punkte für eine in Zukunft geordnete Transition sind das Bewusstsein aller Beteiligten, das Schaffen von personell stabilen Ressourcen in Ambulanzen, Schwerpunkteinrichtungen und in der Reha im Erwachsenenbereich. Nebst der grossen Gruppe der Cerebralparetiker gehören auch schwere chronische Krankheiten, Krebs bei Jugendlichen mit Spätfolgen oder Palliativpatienten in der Transition erfasst. Gerade Letztere müssen wegen des Alters immer öfter noch in die Erwachsenenmedizin wechseln. Dazu gehört auch die Finanzierung von Transitionsmassnahmen, die im besten Fall kostenneutral sein werden, da damit Spätschäden und höhere Kosten in der Langzeitpflege verringert oder aufgeschoben, wenn nicht gar eingespart werden.

Betrachten wir nun schwerpunktmässig die klinisch besonders relevanten Inhalte einer transitionsmedizinischen Betreuung bei erwachsenen Mehrfachbehinderten näher: 

Epileptologie und begleitende Fragestellungen

Ungefähr 38 -50% der Patienten mit Mehrfachbehinderungen haben Epilepsie, die diagnostiziert und eingestellt wurde 2). Bei der Transition ist der direkte Informationsfluss zwischen Neuropädiater und Nachsorger besonders zentral. Es gilt, die Medikation, die Aktivität der Epilepsie und auch die Nachsorge (EEG, Häufigkeit, Vorgaben für Wohnheime und Schulen, Schutzmassnahmen) aufzunehmen.

Im Langzeitverlauf stellen sich seitens der betreuenden (geschützten) Institutionen sowie aber auch seitens Eltern und Patienten oft Fragen einer möglichen Medikationsreduktion. In der Transitionssprechstunde bleibt das ein besonderer Schwerpunkt. Informationen über das Krankheitsbild müssen regelmässig wiederholt und aufgearbeitet werden. Im Einzelfall wichtige verhaltensneurologische Informationen führen zu einem Neuabwägen der Therapie, allenfalls auch zu einer sinnvollen Umstellung der Medikation. Das Ziel ist die Vereinfachung des Behandlungsschemas. Der Schwerpunkt der Sprechstunde liegt bei der Führung des Patienten, der Eltern und Betreuer (EEG, Blutspiegelbestimmung.) Ebenso wichtig ist der Austausch agogischer, verhaltensneurologischer und z.B. auch mit Kurzvideo dokumentierter anfallssemiologischer Aspekte. Eine Zusammenarbeit stets gleicher Bezugspersonen erweist sich als besonders effizient.

Bei geringfügig Betroffenen stellt sich im jungen Erwachsenenalter ab und zu auch die Frage der Fahreignung, sei es für geschützte Fahrzeugkategorien oder gar auch die Kategorie B (PW). Hier setzt die Erwachsenenmedizin ergänzend und weiter aufbauend auf neuropsychologischen Voruntersuchungen schon zur Zeit des Kinderspitals an.

Eine entsprechende Beratung findet im Regelfall mit dem neuropsychologischen Dienst und dem Transitionsmediziner gemeinsam statt. Weiterführende Untersuchungen (Ophthalmologie) sind im Beispiel des REHAB Basel z.B. konsiliarisch über die Zentrumsleistung miteingebunden. Eine Dokumentation (Neglekt z.B. als zentral bedingte visuelle Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstörung) ist versicherungstechnisch bei einem Systemwechsel des Leistungserbringers wichtig, da eine anhaltende weitere Leistungspflicht oft neu begründet werden muss (wie z.B. die einer Domiziltherapie oder von begleiteten Transporten zur Therapie – gerade bei sonst freien Fussgängern).

Neuroorthopädie

Patienten mit neuromotorischen Entwicklungsstörungen sind ab dem frühen Kindesalter in ein engmaschiges therapeutisches und diagnostisches Monitoring eingebunden (Skoliosekontrollen, Hip-Survey) und werden individuell bei ersichtlicher Progressionsdynamik den entsprechenden Abklärungen und einer Beratung zugeführt. Bei Extremitäteneingriffen wird nach Möglichkeiten die Multilevel- Chirurgie eingesetzt, um beim jungen Patienten die Zahl der notwendigen Eingriffe möglichst zu konzentrieren und die Belastung durch die OP zu minimieren 3). Teilweise ziehen sich diese Eingriffe bezüglich Zeitpunkt und Abschluss noch über die eigentliche Transitionsphase hinaus. Sie bedingen sowohl im Kindes,- wie auch später im jungen Erwachsenenalter, meist einer unmittelbar anschliessenden Neurorehabilitation.  Der Focus liegt auf der Erarbeitung der weiter möglichen Lokomotionskompetenz und Angewöhnung an erforderliche Hilfsmittel, wie Gehtraining am Posterior Walker, Rollator und intensiviertes Laufbandtraining.

Idealerweise werden die neuroorthopädischen Visiten und die Nachsorgeplanung an einer spezifisch darauf ausgerichteten Institution durchgeführt (Röntgen vor Ort, integrative Visiten im Rahmen der Langzeitnachsorge, Einbezug des Orthopädisten und fachtherapeutische Konsilien). Gerade hier zeigt sich ein grosser Bedarf an regional/ dezentral vermittelbarer Leistungen, um bei Betroffenen und Therapeuten sowie Angehörigen einen hohen transport-logistischen Aufwand zu begrenzen. Neuroorthopädische Konsiliarvisiten finden daher schon seit langem vielerorts regional in den grösseren Wohnheimen mit Zusammenzug der dazu notwendigen „Caregivers“ regelmässig 1-2x jährlich statt. Sie bleiben zentrale Schnittstellen bei der laufenden orthopädistischen Hilfsmittelversorgung. Eine spezielle und frühe Kooperation findet im Adultbereich kontinuierlich bei der Indikationsstellung und präoperativen Abklärung von spastikbedingten Einschränkungen der Gehfähigkeit statt (3D -Ganganalytik und Kinematographie ohne und unter dem Einfluss von Botulinumtoxin zur Vorhersage eines erzielbaren und funktionell gesichert gewinnbringenden Operationsresultates). Die Diskussion pflegerisch indizierter Operationen ist bei Schwerstbetroffenen ebenso Gegenstand einer interdisziplinären NOK (neuroorthopädischen Konsiliar)-Visite.

Hilfsmittelversorgung

Durch den Wechsel in das Erwachsenenalter ändern sich bei Betroffenen, die berufstätig werden können, oft die Voraussetzungen für den Anspruch auf Hilfsmittel. Wer nicht erwerbstätig werden kann, landet sehr oft in einer Minimalsituation (Basisrente) in der er/sie vergleichsweise eine halbe AHV Rente bezieht und die Krankenversicherer per se, aufgrund der KVG-gegebenen Trennung Hilfsmittel von Heilmitteln, viele der zusätzlich notwendigen Hilfsmittel nicht zahlen (Hydraulikstuhl zusätzlich zum Rollstuhl, Orthesen bei Rollstuhlpflichtigen e.a.). Die Zahlungspflicht durch die IV unterliegt, wenn auch grundsätzlich in vielem vorgegeben, oft einem langwierigen Bewilligungsverfahren, was eine Versorgung Mehrfachbehinderter zusätzlich erschwert. Eine restriktivere Bewilligungspraxis kann sich im Transitionsalter besonders negativ auswirken, wenn langwierige, administrative Abklärungen die optimale Versorgung für den Antritt z.B. einer geschützten Lehre verzögern. Damit sind Angehörige, Beistände und niedergelassene Ärzte mit der ambulanten Nachsorge klar überfordert. Hier versagt oft der Grundsatz der Förderung der Integration – besonders in eine geschützte Erwerbsfähigkeit – und das System führt unweigerlich zur Benachteiligung von Menschen mit Mehrfachbehinderung.

Ein wichtiger Aspekt bei der Erfassung des Bedarfs und der Anspruchsbeurteilung bei der Verordnung und Genehmigung von Hilfsmitteln ist oft auch eine weit divergierende Haltung der Betroffenen und dem Umfeld, der ärztlichen Einschätzung, der fachlichen Stellungnahme der IV und/oder letztlich der wirtschaftlichen Entscheidung des Kostenträgers. Abgesehen davon, dass die Kosten für Hilfsmittel nur einen sehr kleinen Teil vom Gesamtbudgets der IV ausmachen, sollte eine bessere Abstimmung zwischen den Beteiligten ausschliessen, dass vom Arzt nach seiner Erfahrung lege artis verordnete Massnahmen nach breiter interdisziplinärer Abwägung, nicht nachträglich vom Kostenträger am Schreibtisch nach Belieben reduziert oder gar abgelehnt werden können.  

Neurogene Schluckstörungen und Ernährung

Bei Menschen mit Mehrfachbehinderung findet sich bei genauerer Hinsicht ein grosser Prozentsatz von mehrheitlich schon seit frühem Kindesalter erstaunlich gut kompensierten Störungen des Schluckaktes 4). Dies kann die orale Phase (Schluckapraxie, Störungen der Zungenmotilität u.a.m.), häufiger die aborale Phase betreffen (Schlucken im dystonen Muster, Penetration von Flüssigkeits- und/oder Nahrungsanteilen im Bereich der Epiglottis, bis hin zur Aspiration). Dies erfordert diagnostische Abklärungen der Dysphagie und Therapieempfehlungen, besonders dann, wenn sich Dekompensationszeichen anbahnen. Eine klinisch-logopädische Evaluation mit Ableitung sinnvoller Verfahren im Wohnheimalltag und Beurteilung nach Möglichkeit „vor Ort“ sollte stets, einer im Einzelfall dann weiter abzuwägenden Fieberendoskopie oder allenfalls einer Schluck-Kinematographie, vorangestellt werden. In praxi werden derartige Abklärungen durchgeführt, um die Indikation zu einer PEG-Anlage besser einzugrenzen.  Massgebend bleiben aber klar durchgemachte antibiotikapflichtige Aspirationen. Wir sehen uns zunehmend häufiger mit dem Phänomen konfrontiert, dass Institutionen Aufnahmebedingungen an eine PEG- Einlage knüpfen, mit dem Hinweis auf das zu erfüllende „Sicherheitskonzept“. Hier gilt es, objektiv anhand der Untersuchungsresultate zu beraten, wenn seit Jahren kompensierte Verhältnisse vorliegen, die eine solche Massnahme nicht erfordern. Eine ressourcenbedingt eingeschränkte Langzeitbetreuung erfordert andere Lösungsansätze, wie die der Beantragung und Durchsetzung von zusätzlichen Pflegeressourcen in den Wohnheimen – sei es manchmal sogar auch auf dem juristischen Weg.

Zahnmedizin

Zahnarztkontrollen sollten im Sinne von Jahreskontrollen grundsätzlich bei erhöhter Gefahr von Zahnsteinbildung und Karies prophylaktisch erfolgen. Sie stellen oftmals ein logistisches Problem dar aufgrund der damit verbundenen Notwendigkeit von Kurznarkosen, so dass auf eine Kooperation mit einem Zentrumsspital oder regionalen Interventionszentrum (Gruppenpraxis mit Anästhesieoption) in vielen Fällen zurückgegriffen wird.

Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung, Gynäkologie

Bei in Wohnheimen untergebrachten, motorisch schwerst eingeschränkten Patienten (Cerebralparesen mit einem GMFCS Level IV und V) ist die Immobilität ein zentraler Faktor für eine oft ausgeprägte Obstipation. Diese manifestiert sich häufig als paradoxale Diarrhoe und erfordert in erster Linie eine optimierte Trinkbilanz sowie den regelmässigen supportiven Einsatz von Laxantien, wobei nicht vergärende, quellende Lactulosen wie z.b. Movicol® in einer niederdosierten Dauertherapie und in einigen Fällen X-Prep® oder Practo-Clyss® im Rahmen eines festgelegten Defäkationsschemas zum Einsatz gelangen. In der Regel übernehmen die Krankenkassen die notwendigen Dauerverordnungen unproblematisch. Bei der Urininkontinenzversorgung erfolgt nach jährlicher Verordnung eine nach Inkontinenzgrad I-III abgestufte Entschädigung. Im Rahmen der Transition ist die genaue Erfassung dieser Situation mit Pflegenden und Eltern daher wichtig. Viele Patienten haben eine neurogene imperative Harnblase meist ohne Retentionsfähigkeit mit vollständiger Windelmiktion 5). Ein Inkontinenztraining ist in einigen Fällen im Wohnheim manchmal möglich, jedoch mit viel Zeitaufwand und pflegerischen Ressourcen verbunden und hängt massgeblich von kognitiven Voraussetzungen des Patienten ab. Eine urologische Beratung ist erweitert mit sonographischer Standortbestimmung und vor allem ausführlichem Aufklärungsgespräch mit den Caregivern immer hilfreich. Harnwegsinfekte können auf Restharnbildung bei Blasendysfunktion hinweisen und bedürfen dann je nach Situation einer Abklärung (Cystomanometrie) und spezifischer Medikationen. MMC – Patienten werden im Kindesalter bereits urologisch in ein entsprechendes Setting eingebunden, somit ist der fachärztliche Informationstransfer bei der Transition gewährleistet. Die weitere Anbindung an einen neuro-urologischen Konsiliardienst ist sicher indiziert.

Auch die regelmässige gynäkologische Beratung sollte bei der Transition bedacht werden, und in Absprache mit dem Hausarzt, eine dafür geeignete Fachperson im regionalen Umfeld des Wohnheims gesucht werden. Fragen zur Antikonzeption und auch der Interaktion mit Antiepileptika treten im Rahmen der Erwachsenensprechstunde regelmässig auf.

Osteoporose  

Immobilisation und auch Langzeitmedikationen (Antiepileptika) sind einer der hauptsächlichen Gründe für eine schon im Jugendalter einsetzende Negativbilanz des Knochenstoffwechsels. Die Bedeutung dieser Problematik wurde 2013 von einer Arbeitsgruppe der SAGB (ehemals Schweizerische Arbeitsgemeinschaft von Ärzten für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, jetzt Schweizerische Gesellschaft für Gesundheit bei Menschen mit intellektuellen Entwicklungsstörungen SGGIE) aufgegriffen. In Zusammenarbeit mit Osteologen/Endokrinologen (Prof. Marius Kränzlin, Basel) wurden Empfehlungen zur Prophylaxe, Therapie und Diagnostik bei Menschen mit Mehrfachbehinderung verfasst 6). So ist z.B. noch zu wenig bekannt, dass selbst frei fussgehende männliche erwachsene Behinderte unter AED in 50% einen zu tiefen Vitamin D Spiegel zeigen. Bei schwerer motorisch eingeschränkten Menschen finden wir bei etwa 75% einen relevanten Vitamin D-Mangel. Deswegen gehören diese Laborparameter zum Standartprozedere einer Transition.

Psychiatrie und agogische Begleitung

Neuro-psychiatrische Probleme werden bei der Transition erfasst, Medikationen übernommen, zumeist erfolgt bereits eine verhaltensorientierte Betreuung. Patienten mit z.B. ADHS oder Impulskontrollstörungen werden im Erwachsenenalter häufig zu Problemfällen, da sie für das neue Umfeld ungewohnt sind. Es entstehen Diskussionen über das langfristig optimale Vorgehen. Hinzu kommt, dass etwa 40% der Patienten Doppeldiagnosen aufweisen 7).  Es bestehen viele organisatorische, konzeptionelle und auch fachliche Barrieren im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie mit erheblichen Folgen bezüglich Qualität der Versorgung. Unter anderem fallen hier exzessive Verordnungen von Psychopharmaka auf.

Neben einem oft nicht ausreichenden Angebot an Fachärzten für Psychiatrie, treffen Behinderte auf eine Situation, die manchmal von wenig Interesse, vor allem aber auch fehlender Erfahrung bei komplexen Diagnosen geprägt ist (Zeit, Vergütungslimit etc.). Es ist notwendig, regional mehr zielgruppenspezifische Angebote im ambulanten und im stationären Bereich zu schaffen. 8)

Standortbestimmungen bezüglich weiterführender schulischer/beruflicher Optionen

Ausgangssituation
In der Beratung Mehrfachbehinderter ist festzustellen, dass eher einer einfachen Analogie gefolgt wird: Wer lesen, schreiben und rechnen kann, bekommt z.B. eine KV-Ausbildung angeboten, auch wenn er u.U. eher Tierpfleger oder Sozialarbeiter werden wollte oder gar eine selbstständige Tätigkeit ausüben könnte.

Anspruch auf pflegerische Betreuung während einer Ausbildung stellt designierte Ausbildungsplätze immer dann vor besondere Herausforderungen, wenn nicht das «übliche Angebot» eines geschützten Arbeits- oder Ausbildungsplatzes mit Agogen anbietbar ist, respektive nur ungenügend vorliegt. So kann eine Ausbildung einer Person mit Spina bifida einfacher erfolgen, da diese mit der eigenen Versorgung vertraut ist, als ein mehrfachbehinderter Patient mit CP. Dieser benötigt mehrmals täglich eine Versorgung durch die Pflege, sei es auch nur bei der Nahrungsaufnahme, kann aber durchaus noch eine geschützte Ausbildung bewältigen.

Ressourcenproblematik
Was an spezialisierten Abteilungen in Schwerpunkt-/Unispitälern möglich ist, sieht ausserregional ganz anders aus – mit der Folge einer begrenzten Verfügbarkeit und damit verbunden hohem Aufwand für Organisation und Betreuung.

Geht es um die Unterbringung in geeigneten Tagesstätten oder in einem Heim, hat die Schweiz eine hohe Vielfalt an Angeboten, vor allem bereitgestellt durch gemeinnützige Vereine und Stiftungen. Das Angebot ist jedoch mehr von der Einschätzung und personellen Ressourcen der Anbieter bestimmt und von restriktiv gehandhabten budgetären Ansätzen der öffentlichen und privaten Kostenträger als vom wirklichen Bedarf. So kommt es bei jungen Erwachsenen mit ADHS in Kombination mit Autismus oft zu krisenhaft belastenden Situationen, wo nach überfordertem familiären Umfeld letztlich auch zu wenig spezifizierte Betreuungseinrichtungen an ihre Grenzen stossen. Gerade in dieser Patientengruppe ist eine medikamentöse «Ruhigstellung» sicher nicht die ultima ratio.

Was ist von Seiten der Betreuer oder mit dem, den Transitionsprozess begleitenden, Facharzt nun zu tun? Zunächst muss die Epikrise mit relevanten Befunden vollständig und in elektronisch weiter erfassbarer Form optimiert vorliegen, um eine zügige Einarbeitung in den Fall überhaupt erst zu ermöglichen. Diese Informationen müssen redundant an alle Beteiligten verteilt werden. Dies können am besten Fallmanager mit institutionsnaher Kontinuität ermöglichen.

Häufig sind im Bereich von Institutionen die agogisch ausgebildeten Bezugspersonen oder Fachpersonen Betreuung (FABE) als Bezugspersonen vorhanden. Die rasche Verfügbarkeit eines medizinischen Dienstes oder Heimarztes ist nicht überall immer gegeben. Ein Agoge oder FABE ist jedoch trotz Weiterqualifikation selten genügend befähigt, umfassende medizinische Befunde vor Ort zu erheben.

Eine bei den Betroffenen sehr oft vorliegende unzulängliche Anpassung an die neue Umgebung überfordert – gerade beim Institutionswechsel – den Patienten und auch die Betreuer.

Lösungsansätze
Entscheidend für einen erfolgreichen Transfer und den Start einer effektiven Langzeitbetreuung ist die multidisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten aus der Pädiatrie und der Erwachsenenmedizin. Dies mit Einbezug des Umfeldes, wie Eltern, bisherige Therapeuten und Fachärzten.

Das ganze System muss dazulernen: Gerade im speziellen Bereich der neuromusklären Erkrankungen wird ein Jugendlicher in einer Spezialschule und dem Kinderspital laufend und mit viel Aufmerksamkeit beobachtet. So sehen in einer Schule oder Einrichtung betreuende Physiotherapeuten kleine Veränderungen in der Haltung oder Handlungsbedarf bei Hilfsmitteln sofort, während in einer Tagesstätte oder bei späterer Unterbringung in Institutionen dieser fast tägliche Review oder Kontrollblick teils zu kurz kommt. Hier braucht es eine häufigere Überprüfung durch Physiotherapeuten ggf. gemeinsam mit Arzt und/oder Orthopädist.

Analog ist im täglichen Betrieb und der Betreuung von psychiatrischen Patienten durch Agogen oder FABE in Tagesstätten zwar eine motorische Unruhe leicht erkennbar – eine Verschlechterung einer paranoiden Schizophrenie oder einer Depression schon weniger gut erkennbar. Der Ausweg kann nur in einer verbesserten Verfügbarkeit von ärztlichen und therapeutischen Ressourcen liegen. Diese Kommunikation zwischen den «Beteiligten» kennt aber heute keine spezielle, resp. eine meist ungenügend tariflich abgebildete Vergütung.

Versicherungs-und Sozialmedizinisches  

Abschliessende Bemerkungen zum vorgegebenen Systemwechsel bei Transition
Bei den Autoren und vielen weiteren mit der Thematik vertrauten Spezialärzten besteht der Eindruck, dass sich die staatlichen und privatwirtschaftlichen Kostenträger schwer tun mit dem Stellenwert der Transition und der Bewertung mittelfristiger und langfristiger Kosten-Nutzen-Faktoren. So fehlen nach dem Wissensstand der Autoren weitgehend eine Langzeitkosten-Evaluation und die dazugehörige Strategie. Anders ist nicht zu erklären, dass regelmässig verordnete medizinische Massnahmen oder zwingende Hilfsmittelfinanzierungen im Erwachsenenalter abgelehnt werden (wie z.B. Unterschenkelorthesen Nicht – Gehfähiger!), ohne dass Langzeitfolgen, obwohl bereits erkannt und fachärztlich festgehalten, adäquat berücksichtigt werden. 

Der Versorgung durch die Invalidenversicherung liegt bei Kindern und Jugendlichen mit Geburtsgebrechen ebenso wie bei Erwachsenen im höheren Lebensalter mit Funktionseinschränkungen das Prinzip des „Enabling“ zugrunde. Der jugendliche Betroffene soll durch Erziehung und Ausbildung sowie geeignete medizinische und therapeutische Massnahmen befähigt werden, einen Beruf zu ergreifen – ggf. auch in einer geeigneten Einrichtung. Konkret soll die IV durch Eingliederungsmassnahmen invaliden Versicherten ermöglichen, ihre Existenz ganz oder teilweise selbständig zu sichern. Andernfalls wird mit Teil- oder Vollrenten unterstützt.

Dem steht bei einer anfangs grosszügigen Ausstattung mit Ressourcen und medizinischen Massnahmen bis zum 18. Lebensjahr ein oft undeutliches Szenario in Bezug auf die reale Lebenssituation im Erwachsenenalter gegenüber. Kurz – für Kinder und Jugendliche wird «alles» unternommen während der Mehrfachbehinderte oder psychisch stark eingeschränkte Erwachsene häufig nur noch Basisleistungen erhält, wenn er nicht in ein produktives Erwerbsleben eintritt. Ein Betroffener mit CP landet so u.U., wenn er nicht erwerbstätig wird, in einer später kleinen basalen IV-Rente mit Zusatzleistungen. Ab dem 18. Lebensjahr sieht er/sie sich nun wesentlich den wirtschaftlichen Bewertungen der Krankenversicherer, begrenzten Mitteln der Kantone und Einsparungsforderungen der Politik gegenüber.  Das KVG bietet die Grundlage für die Gewährung von Massnahmen – ein KVG, das neben ökonomischen Zwängen auch bei der Zulassung von Heilmitteln oder gerade Langzeit-Therapien um jeden Zentimeter Boden kämpft und angezeigte Behandlungen u.U. erst nach Jahren und endlosen Rechtsstreitigkeiten.

Hier braucht es einen Systemwechsel. Die Gesundheitsstrategie 2020-2030 der Schweiz 9) weist aus: «Die Strategie orientiert sich am Bedarf der Menschen und an ihren Vorstellungen von einem gesunden Leben sowie einer guten Versorgung.“ Dies beinhaltet implizit den Vorrang der Lebensqualität und besonders auch die Nachhaltigkeit für Menschen mit Funktionseinschränkungen. Zugleich wird jedoch die wirtschaftliche Machbarkeit in den Vordergrund gestellt, im Falle der Mehrfachbehinderungen und psychischen Erkrankungen, wie oben dargestellt, oftmals ohne hinreichende Untersuchung der Langzeit-Prognose und Kosten.

In der Realität basiert ein grosser Teil der Versorgung im Erwachsenenalter auf Beiträgen und Unterstützung durch Vereine, Stiftungen und Kirchen oder anderen Trägern, die regelmässig um Förderbeiträge kämpfen müssen. Der Anspruch des Bundes an die Kostenträger wird hier- obwohl gesetzlich verankert – im Alltag oftmals nicht adäquat umgesetzt.

Ein Systemwechsel erfordert ein Umdenken: Anstelle des Anspruchs der höchstmöglichen Erwerbsfähigkeit der Betroffenen und einer damit verbundenen möglichen Herabstufung ihres Werts für das Gemeinwesen, müssen eine gute Lebensqualität und Massnahmen zur verbesserten Inklusion treten.

Damit ein klar definierter Transitionsprozess als Standard in der Schweiz entstehen kann, braucht es zur unterstützenden Strukturanpassung zwingend den Gesetzgeber.

Referenzen

  1.  Müther S, Findorff J, Berliner Transitionsprogramm. Paediatr. Paedolog. Austria51, 25-29(2016). https://doi.org/10.1007/s00608-016-0348-x; Verlag: de Gruyter Oldenbourg Deutsch / ISBN-13: 9783110432619
  2. Epilepsyin Children with cerebral palsy, AK Gururaj, L Strik, A Berner, A Davodv, V Eapen  in Seizure European Journal of Epilepsy, volume12, Issue 2 P 110-114 , March 01 2003
  3. Jennifer L Mc Ginley, Fiona Dubson, Rekha Ganeshaligam, Benjamin J Shore, Erich Rutz, HKerr Graham: Single- event multilevel surgery for children with cerebral palsy:a systematic review in: Developmental Medicin & Child Neurology, Volume 54Issue 2
  4. Edeneada Cunha Menezes, Flavia Apareida Hora Santos, Flavia Lôbo Alves; Cerebral palsydysphagia: a systematic review in: Re.CEFAC vol 19 no São Paulo July /August2017
  5.  KevinP Murphy, Susan A Boutin, Kathy Ride: Cerebral palsy, neurogenic bladder, andoutcome of lifetime care in: Developmental Medicin & Child Neurology Vol.54Issue 10 October 2012 Pages 945-950
  6.  SAGB-Jahrestagung 13.06.2013 : Kätterer Ch, Kraenzlin M, Gelzer D, Suter F, Gantenbein M, Voeglin M etal; Vorbeugung und Behandlung von Osteoporose bei Geistig-  und Mehrfachbehinderten“  in: Empfehlungen der Arbeitsgruppe SAGB (pdf auf Anfrage beim Verfasser)
  7. FrankBesag,Albert Aldencamp,David W.Dunn, Rochelle Caplan,Giuseppe Gobbi,MattiSillenpää Psychiatrische Störungen und Verhaltensstörung bei Kindern mitEpilepsie (ILAE Task force report) in Epileptic Disorders 10.684/epd.2016.0819,18 s1 p.77-86(2016)
  8. Prof.Michael Seidl, DGPPN, 12.09.2019Positionspapier «Zielgruppenspezifische psychiatrische und psychotherapeutischeVersorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichenpsychischen Störungen – Situation,Bedarf und Entwicklungsperspektiven», Geschäftsstelle DGPPN,Reinhardstrasse 27 B, D-10117 Berlin; pressestelle@dgppn.de
  9. Gesundheitsstrategie des Bundes: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/gesundheit-2020/eine-umfassende-strategie-fuer-das-gesundheitswesen.html, Bundesamt für Gesundheit BAG, Abteilung Kommunikation und Kampagnen, Gesundheit2020, Schwarzenburgstrasse 157, 3003 Bern

    Mehr weiterführende Literatur auf Anfrage.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr. med.  Christian Kätterer LA Neurorehabilitation REHAB Basel

Erhart Von Ammon ‚transition1525‘ - Medizinische und integrative Transition für junge Behinderte und chronisch Kranke, Zürich