Im Zeitalter der «Evidence based Medicine» ist es kaum zu rechtfertigen, dass Kinder Therapien unterzogen werden, welche nicht gemäss den gültigen Normen untersucht wurden, im Besonderen bezüglich ihrer Wirksamkeit und Sicherheit.
Fortbildung / Formation continue
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Vol. 16 No. 3 2005
EinIeitung
Im Zeitalter der «Evidence based Medicine»
ist es kaum zu rechtfertigen, dass Kinder The-
rapien unterzogen werden, welche nicht ge-
mäss den gültigen Normen untersucht wur-
den, im Besonderen bezüglich ihrer Wirk-
samkeit und Sicherheit. Dies scheint umso
bedeutender, als es sich um eine spezielle
Patientengruppe handelt, die aufgrund der al-
tersspezifischen biopsychosozialen Eigen-
heiten einer konstanten Evolution unter-
worfen ist. Solche Komplexität findet kaum
ein Pendant beim erwachsenen Patienten, für
welchen allerdings wesentlich mehr Daten in
der Regel zur Verfügung stehen. Um eine
Therapie bei seinen Patienten durchzuführen,
hat der Kinderarzt daher die Möglichkeit, ent-
weder von Erwachsenendaten seine Strate-
gie abzuleiten oder er wartet mehrere Jahre
nach Einführung eines neuen Medikaments,
bis vorläufige Erfahrungen bei Kindern,
meist von den Spitalzentren kommend, vor-
handen sind.
Betrachtet man beispielsweise die Situation
in den USA, so haben bei 2000 registrierten
Präparaten 80% keine Information bezüg-
lich deren Einsatz bei Patienten im Kindes-
alter. Diese Tatsache widerspiegelt ganz
einfach das Nichtvorhandensein von klini-
schen Studien, nach den Normen der «guten
klinischen Praxis» (GCP) durchgeführt. Sol-
che Studien sind notwendig, damit die ver-antwortliche Behörde (FDA) eine Zulassung
eines Medikaments für den pädiatrischen
Einsatz erteilt. Selbstverständlich gibt es oft
Studien, welche von unabhängigen Untersu-
chern im akademischen oder nichtakade-
mischen klinischen Umfeld durchgeführt und
publiziert wurden. Da die Pharmafirmen je-
doch oft an solchen Arbeiten nicht interes-
siert sind, werden solche Resultate bei den
Behörden nicht eingereicht. Der Doppel-
standard zwischen Erwachsenen und Kindern
kann nicht länger fortbestehen. Die Situation
wurde schon vor nahezu 40 Jahren unter
dem Ausdruck «Therapeutische Waisen»
beschrieben
1). Es geht dabei um die Tatsache,
dass Kinder oft «verwaist» sind, wenn es da-
rum geht, einen Sponsor ausfindig zu ma-
chen, um neue Medikamente in klinischen
Studien an Kindern zu untersuchen. Im Be-
sonderen sind Studienfinanzierung, Durch-
führung, Auswertung und schliesslich Ein-
reichung bei den Behörden der Resultate
nicht gesichert. Obwohl allgemeine Prinzipien
zu klinischen Studien an Kindern von den
meisten Beteiligten positiv geteilt werden,
versteckt sich dahinter oft eine sehr kom-
plexe Situation. Werden Rollen und Aufgaben
explizit identifiziert, kann es sein, dass Di-
vergenzen oder sogar gegensätzliche Inter-
essen auftreten können (Abb. 1).
In den letzten Jahren haben die amerikani-
sche und europäische Gesetzgebung dies-
bezüglich stark verändert. Sowohl in Europa
als auch in den USA besteht die Tendenz, den
Pharmafirmen die Durchführung von klini-
schen Studien an Kindern mit neuen Medi-
kamenten als obligat aufzuerlegen. Ein sol-
cher Zwang kann trotz der lobenswerten ur-
sprünglichen Absicht, dem «Verwaisungs-
zustand» entgegenzuwirken, gewisse Risiken
bergen. In der Öffentlichkeit kürzlich disku-
tierte Beispiele zeugen davon (so die Kon-
troverse zu der von GlaxoSmithKline betrie-
benen Publikationspraxis über den Antide-
pressivum/Serotonin-Wiederaufnahme-Hem
mer Paroxetin).
Dieser Artikel gibt eine kurze Übersicht über
die aktuelle Situation und mögliche künftige
Entwicklungen zu klinischen Studien im Kin-desalter. Obwohl solche für gewisse Krank-
heiten bestens etabliert sind (bspw. in der
Onkologie), sind sie in anderen Bereichen
noch in den Anfängen. Allen Bereichen ge-
meinsam sind die zahlreichen Aspekte ethi-
scher, gesetzlicher und wissenschaftlicher
Natur. Der Kinderarzt kann und soll eine zen-
trale Rolle in dieser Diskussion spielen, an
welcher alle in der Pflege und Betreuung
kranker Kinder Beteiligten teilnehmen soll-
ten.
Historische Perspektive
Im letzten Jahrhundert fand in der Art und
Weise, wie sich neue Behandlungen eta-
blierten, ein grosser Wandel statt. Eine be-
eindruckende Episode diesbezüglich liefert
William A. Silvermans
2)Beschreibung der
zur Linderung von Spasmen applizierten heis-
sen Wickel bei akuter Polio im Jahre 1944.
Nach grossen Katastrophen wie der durch
Thalidomid verursachten
3)kommt die Zeit un-
zähliger Publikationen klinischer Studien. So
sind von den 492 000 Arbeiten, welche zur-
zeit im PubMed aufgerufen werden können,
ca. ~21% mit dem Stichwort «Kindesalter
(0–18 Jahre)» indexiert. Allerdings betreffen
72 386 davon Jugendliche (Alter 13–18 Jah-
re), welche im Gegensatz zu den anderen pä-
diatrischen Altersgruppen oft bezüglich
Pharmakokinetik und Pharmakodynamik Er-
wachsenen gleichgestellt werden können. In
den letzten Jahren hat zudem ein Wandel
vom oft zu raschen Übergang von der Ent-
deckung im Labor zur klinischen Einführung
eines neuen Medikamentes (so bei zahlrei-
chen Antibiotika) hin zum jetzigen Zustand
stattgefunden; Der gleiche Weg ist gekenn-
zeichnet von zunehmend anspruchsvolleren
administrativen Normen und einer zuneh-
mend kritischeren öffentlichen Meinung
gegenüber der Pharmaindustrie. Es kann nur
gehofft werden, dass durch diese eigentliche
«Revolution» die kranken Kinder die wirk-
lichen Nutzniesser sein werden.
Aktuelle Situation
Eine Etappe zur Festlegung ethischer Krite-
rien für klinische Studien war die Erklärung
von Helsinki: Dieses 1964 vom Weltärztebund
veröffentlichte und seither mehrmals revi-
dierte Dokument bleibt eine diesbezüglich
wichtige Referenz
4). Die Durchführung klini-
scher Studien im Rahmen einer Gesamt-
entwicklung eines neuen Medikaments ist
ein relativ neues Konzept. Die systematische
Klinische Studien bei Kindern:
Ein Umbruch
Pietro Scalfaro
La version française de cet article est parue dans Paediatrica 2005, vol. 16 No. 2, p. 25–27
Glossar
FDA : Food and Drug Administration
EMEA:European Agency for the Evalu-
ation of Medicinal Products
ICH: International Conference on Har-
monisation of Technical Requi-
rements for Registration of Phar-
maceuticals for Human Use
CRO:Clinical Research Organisation
GCP:Good Clinical Practice
Kinderarzt:einfachheitshalber für männli-
che und weibliche Kolleginnen verwendet.
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und rigorose Vorgehensweise muss dabei
den Qualitätsnormen der GCP folgen 5). Eine
Nichtbeachtung dieser Regeln durch Stu-
dienverantwortliche oder durch den Sponsor,
sei es vorsätzlich oder aus Nachlässigkeit,
kann zur Invalidierung der Studienresultate
führen. Es bleiben allerdings offene Fragen
nach der vollständigen Transparenz und der
Interpretation der Resultate der nach solchen
Normen durchgeführten Studien. Beispiele
diesbezüglich sind die Enthüllungen zu den
Coxiben und Antidepressiva
6), 7). Es ist daher
nicht erstaunlich, dass trotz eines klar be-
stehenden gesetzlichen Rahmens (in der
Schweiz «Bundesgesetz vom 15. Dezember
2000 über Arzneimittel und Medizinproduk-
te»
8)) zusätzliche Präzisierungen notwen-
ding sind wie etwa die kürzlich von FMH und
Schweizerischer Akademie der Medizini-
schen Wissenschaften zur Konsultation ver-
öffentlichten Richtlinien
9). Diese beschreiben
und reglementieren die Beziehungen, welche
zwischen Ärzteschaft und den auf dem Ge-
sundheitmarkt tätigen Akteuren bestehen.
Im Umfeld der klinischen Studien ist das de-klarierte Ziel dieser Richtlinien, Objektivität,
Qualität und Transparenz zu promovieren und
dabei Abhängigkeiten und Interessenkon-
flikte zu vermeiden.
Globalisierung klinischer Studien
In einer Welt der Globalisierung sind die gros-
sen Pharmafirmen nicht an bestimmte Län-
der gebunden. Die Entwicklung eines neuen
Medikaments wird weltweit geplant. Es ist
dabei nebensächlich, in welchem Land eine
klinische Studie durchgeführt wird, solange
die ICH-Normen respektiert und die Resul-
tate zwischen Ländern verglichen werden
können. Die Wahl eines Landes erfolgt häu-
fig aufgrund der von privaten Forschungs-
firmen (CRO) erarbeiteten Kriterien. Diese
Unternehmen, durch die Pharmaindustrie be-
auftragt, können von kleinen Studien mit ei-
nigen dutzend Freiwilligen bis zu grossen
Multizenterstudien mit mehreren tausend
Patienten durchführen. Diese Industrie der
klinischen Forschung hat in den letzten Jah-
ren eine beachtliche Grösse angenommen.Sie erzielt einen Jahresumsatz von 7–8 Milli-
arden US-$ und hat mehrere zehntausend
Angestellte (Ärzte, Krankenschwestern, Wis-
senschaftler). Wenn man sich vergegenwär-
tigt, dass im Durchschnitt mehrere hundert
Millionen US-$ an Entwicklungs- und For-
schungskosten für ein erfolgreich regis-
triertes neues Medikament ausgegeben
werden, ist es nicht erstaunlich, dass der
Sponsor einen grossen Aufwand für ein er-
folgreiches «return of investment» betreibt.
Die CROs sollten im Grunde genommen von
den Sponsoren unabhängig sein und müssten
den in den Studienländern gültigen Gesetzes-
und den ICH-Normen gerecht werden. Sie
haben keine direkten finanziellen oder
kommerziellen Interessen an dem zu ent-
wickelnden Medikament. Es besteht ein gros-
ser Wettbewerb zwischen diesen Unterneh-
men und zwischen Ländern, um Verträge zu
klinischen Studien abzuschliessen. Eine Fol-
ge hiervon ist der «Export» von Studien in
Länder mit einer grossen Anzahl Patienten
und mit Studienteams, die nach GCP-Nor-
men arbeiten und wissenschaftlich solide Da-
ten erarbeiten können. Dass dabei die Kos-
ten zudem tiefer als in westlichen Ländern
sind, ist ein weiterer Vorteil. So ist es nicht
erstaunlich dass zahlreiche klinische Studien
bereits in Ländern Osteuropas, Asiens oder
Lateinamerikas durchgeführt werden.
Rolle der Agenturen für die
Beurteilung von Arzneimitteln
In diesen allgemeinen und globalen Kontext
klinischer Studien kommt neuerdings das Be-
streben der amerikanischen und europäi-
schen Gesetzgeber und Behörden (FDA,
EMEA), die Pharmaindustrie dazu zu bringen,
in jeden Entwicklungsplan eines neuen Me-
dikaments von Anfang an klinische pädia-
trische Studien miteinzubeziehen. Wohlge-
merkt, dies noch bevor eine Registrierung zur
Vermarktung des Produktes stattgefunden
hat
10 ). Ein solcher Vorschlag wurde kürzlich
von der Europäischen Kommission verab-
schiedet und dem Europaparlament zur
Konsultation unterbreitet. Diese Richtlinie
könnte bereits 2006 in Kraft treten. Es er-
staunt daher wenig, dass kranke Kinder neu-
erdings gezielt als Studiensubjekte anvisiert
werden, obwohl noch etliche Fragen offen
sind. Eine intensive Diskussion zwischen Be-
fürwortern und Gegnern ist daher im Gang.
Wenn einerseits echte Chancen gesehen
werden, aus dem «Verwaisungzustand» wird
andererseits auf die Gefahren eines Zustan-
Abbildung 1: Das kranke Kind im Mittelpunkt zahlreicher Akteure.
Eine Definition der Rollen und Interessen der einzelnen Akteure sowie deren Konvergenz, kann zu einem
bedeutsamen Fortschritt bei der Bereitstellung neuer Medikamente für das kranke Kind beitragen.
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des des «Experimentiersubjektes» hinge-
wiesen 11), 12) . Es bleibt allerdings Tatsache,
dass bereits zahlreiche klinische Studien an
Kindern durchgeführt werden. So sind bei der
FDA in der Folge von speziell durch diese
Agentur geforderten Studien bereits Daten
zu 40 000 Kindern registriert. Zudem sind auf
der Internetseite, welche alle Studien, die in
den USA stattfinden, auflistet, 2059 Studien,
die zurzeit Kinder einschliessen, erwähnt
(NB: Bei einer Gesamtzahl von 5777 zurzeit
aktiven klinischen Studien
13 )). Leider besteht
in Europa keine vergleichbare Datenbank,
obwohl verschiedene Länder, so auch die
Schweiz, eine solche aufbauen möchten.
Schlussfolgerung
Betrachtet man die zahlreichen Aspekte zu
«Kinder und klinische Studien» und nimmt
man zudem den komplexen und im Wandel
bestehenden Kontext wahr, so besteht für
den Kinderarzt die wichtige Rolle des Ga-
ranten und Verfechters der Interessen seiner
Patienten. Bei folgenden Fragen kann er we-
sentlich zu den Antworten beitragen
14 ): Wel-
che Verantwortung habe ich in diesem Be-
reich und wie kann ich die Patienten schüt-
zen und gleichzeitig zur Erarbeitung neuer
Kenntnisse beitragen? Welche Aktionen
können dazu beitragen, die Kenntnisse zu
Therapien von Kindern zu verbessern? Wel-
che Rolle soll ein Land oder eine Region in ei-
nem globalisierten klinischen Forschungs-
umfeld spielen? Wie kann dazu beigetragen
werden, Prioritäten nach den Bedürfnissen
der Patienten zu setzen und die sich ab-
zeichnende Konkurrenz zwischen klinischen
Studien zu vermeiden?
Korrespondenzadresse:
Dr. P. Scalfaro
Spécialiste FMH en pédiatrie
et médecine intensive
Av. Montagibert 24
1005 Lausanne
pscalfar@swiss
-paediatrics.org
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Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. P. Pietro Scalfaro , Spécialiste FMH en pédiatrie et médecine intensive, Lausanne