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Kinderärzte als Wegweiser im Dschungel früher Therapien

Viele Kinder zeigen in den ersten Lebensjahren Entwicklungsauffälligkeiten oder benötigen aufgrund anderer Gegebenheiten eine frühe Unterstützung oder Begleitung.

Ein Plädoyer für die vernetzte, interdisziplinäre Arbeit in Zeiten zunehmend knapper Ressourcen

Der Einfachheit und der besseren Lesbarkeit halber wurde in diesem Artikel durchgehend die männliche Form gewählt. Die Autoren beabsichtigen ausdrücklich keine Diskriminierung, sondern schliessen damit alle Geschlechter ein.

Abstract

Viele Kinder zeigen in den ersten Lebensjahren Entwicklungsauffälligkeiten oder benötigen aufgrund anderer Gegebenheiten eine frühe Unterstützung oder Begleitung. Dies macht eine frühe Erkennung der betroffenen Kinder, aber auch eine gute Kenntnis der passenden therapeutischen Angebote und Strukturen erforderlich. Idealerweise arbeiten Kinderärzte dabei interdisziplinär und eng vernetzt mit anderen Professionen und Akteuren zusammen. Sie stehen dabei den Familien als Wegweiser und Übersetzer in einem komplexen System verschiedener Therapie- und Unterstützungsangebote zur Seite mit dem Ziel, dem Kind die nötigen Therapien zeitgerecht zu ermöglichen und diese zu koordinieren.

Fallvignette

Mirco ist das zweite Kind einer Familie aus dem Kanton Zürich. Nach unauffälliger Schwangerschaft und Geburt fällt er in den ersten Monaten mit Trinkschwäche und Gedeihstörung auf. Nach der Diagnose eines atrio-ventrikulären Septumdefekts (AVSD) wird dieser im Alter von 6 Monaten operativ korrigiert, die Operation und der postoperative Verlauf gestalten sich unkompliziert. Mirco ist jetzt eigentlich weitgehend «herzgesund», doch die Eltern bemerken, dass er sich nicht wie seine ältere Schwester entwickelt. Mit 2½ Jahren leitet der Kinderarzt aufgrund einer sprachbetonten, allgemeinen Entwicklungsverzögerung eine entwicklungspädiatrische Abklärung ein, die einen kognitiven Entwicklungsrückstand mit einem Entwicklungsquotienten von 60 zeigt, sowie zusätzlich eine Sprachentwicklungsverzögerung mit deutlich schlechterer Leistung im expressiven Bereich.

Früher Bedarf von Kindern und Familien

Fast jedes fünfte Kind zeigt in den ersten Lebensjahren Auffälligkeiten in seiner Entwicklung 1) 2). Diese Auffälligkeiten können einzelne oder mehrere Entwicklungsbereiche betreffen und entweder im Sinne einer Entwicklungsverzögerung passager und aufholbar sein oder chronisch im Sinne einer Entwicklungsstörung bestehen, die das gesamte Leben der betroffenen Person prägt und beeinflusst 3). Das Ausmass des Entwicklungsrückstands muss im Vergleich zu den Altersnormen mindestens zwei Standardabweichungen betragen, damit von einer Entwicklungsverzögerung gesprochen werden kann 3). Man spricht von einer globalen Entwicklungsverzögerung, wenn zwei oder mehr Entwicklungsbereiche (Kognition, Sprache, sozio-emotionale Entwicklung) betroffen sind. Diese Einteilung ist auch gültig, wenn zusätzlich eine zugrundeliegende Störung wie etwa eine genetische Aberration diagnostiziert wird. Neuromotorische Auffälligkeiten können all diese Störungen begleiten.

Mirko und seine Eltern sind ein typisches Beispiel für eine Familie, deren Bedürfnisse weit über die rein medizinische Behandlung hinausgehen. Andere Beispiele für Kinder und Familien mit spezifischem Unterstützungsbedarf sind in Tabelle 1 aufgeführt.

Tabelle 1: Bedarfsgruppen mit frühem Förder- und Unterstützungsbedarf

  • Säuglinge mit Regulations-, Interaktions- oder Fütterstörungen
  • Familien mit psychosozialer Belastung (häusliche Gewalt, Drogenkonsum, psychische und somatische
  • Erkrankungen der Eltern, soziale Isolation, Migrationshintergrund mit Integrationsschwierigkeiten etc.)
  • Kleinkinder mit angebotsarmem Umfeld
  • Kleinkinder mit hochgradigen Entwicklungsrisiken
  • Kleinkinder mit Entwicklungsstörungen (inkl. Autismus), Behinderungen, Fehlbildungen (z.B. MMC) oder Verhaltensauffälligkeiten

Ein frühzeitiges Erkennen des Förderbedarfs und Einleiten von adäquaten Unterstützungs- und Therapiemassnahmen ist wichtig, um sekundärpräventiv Folgeprobleme (zum Beispiel Verhaltensstörungen, Interaktionsstörungen) zu vermeiden und die Funktionsfähigkeit im häuslichen Umfeld und sozialen Alltag zu verbessern oder überhaupt zu ermöglichen 4). Frühe Förderprogramme sind wirksam 5) 6) und daher sowohl ethisch geboten als auch langfristig kosteneffektiv 7) 8). Aus diesem Grund gibt es in den entwickelten Ländern spezifische Strukturen und Systeme für die entsprechenden frühen Therapieangebote. Doch was brauchen die betroffenen Familien im Einzelnen und wie kommen sie zu den für sie passenden Unterstützungs- und Therapieangeboten?

Angebote im Frühbereich

Unter den Begriffen Frühe Bildung oder Frühe Förderung werden je nach Kontext ein breites Spektrum verschiedener pädagogischer oder medizinischer Angebote verstanden. Während von Eltern und Medien mit dem Begriff der «Frühen Förderung» häufig allgemein vorschulische Bildungsangebote oder speziell Angebote für leistungsstarke Kinder assoziiert werden, richtet sich die Frühförderung im Sinne des Bundes (und im Sinne der Autoren) dagegen an Kinder, deren Entwicklung in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen verzögert oder gefährdet ist. Gemäss der Interkantonalen Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik («Sonderpädagogik-Konkordat» vom 25. Oktober 2007) umfasst das sonderpädagogische Grundangebot «Beratung und Unterstützung, heilpädagogische Früherziehung (HFE), Logopädie und Psychomotorik», sowie ferner die Betreuung in Tagesstrukturen oder stationäre Unterbringung in einer sonderpädagogischen Einrichtung. Verantwortlich für Bereitstellung sowie Finanzierung des Angebots sind dabei die Kantone – berechtigt zum Bezug der Leistungen sind Kinder vor der Einschulung dann, «wenn festgestellt wird, dass ihre Entwicklung eingeschränkt oder gefährdet ist».

Die frühen sonderpädagogischen Angebote sind regional und kantonal sehr unterschiedlich organisiert. Im Kanton Zürich erfolgt die Bedarfsbestimmung seit 2013 an zwei Fachstellen für Sonderpädagogik in interdisziplinären Teams, die aus Heilpädagoginnen, Logopädinnen und Entwicklungspädiatern bestehen. Diese bestimmen im kantonalen Auftrag den jeweiligen Bedarf an sonderpädagogischen Massnahmen von Kindern vor Eintritt in den Kindergarten und leiten entsprechende Massnahmen ein. Je nachdem wie umfangreich die bei der Anmeldung an den Fachstellen verfügbaren Informationen über die Entwicklung und das Umfeld des Kindes sind, führen die Fachstellen dafür Diagnostik durch oder holen die fehlenden Informationen ein, um dann in einem standardisierten Verfahren eine Kostengutsprache für heilpädagogische oder logopädische Therapie zu erteilen. Diese Bedarfseinschätzung kann bei ärztlicher Zuweisung und hinreichenden Informationen auch ohne Zeitverzug «sur Dossier» erfolgen und wird in der Regel jährlich überprüft. Ein grosser Vorteil an dieser interdisziplinären Beurteilung ist die Möglichkeit, auch bei Kindern, deren Eltern sich auf eigene Initiative hin bei der Fachstelle melden, aus der ärztlichen Perspektive mögliche medizinische Aspekte erkennen zu können – etwa Hinweise auf zugrundeliegende Erkrankungen oder weiteren Abklärungsbedarf. Aber auch die zuweisenden Kinderärzte werden entlastet – so bleibt ihnen beispielsweise die Suche nach Therapeuten erspart, wenn die Fachstelle einen Therapiebedarf feststellt und eine geeignete Durchführungsstelle empfiehlt. Auf diese Weise kann etwa eine spezialisierte Logopädin bei einem Kind mit Fütterstörung oder eine Low-Vision-Therapeutin bei einem Kind mit schwerer Sehstörung rasch involviert werden. Eine für dieses und das kommende Jahr geplante Befragung der zuweisenden Zürcher Kinderärzte wird zeigen, ob dieses System sich auch als Beispiel für andere Kantone empfiehlt.

Zusätzlich zu den frühen sonderpädagogischen Massnahmen gibt es in den Städten und Gemeinden eine Reihe niederschwelliger Angebote, die einen sozialpräventiven Ansatz verfolgen und sich an sozial benachteiligte und bildungsferne Familien richten (beispielsweise «schritt:weise» vom Verein «a:primo» in verschiedenen Regionen der Schweiz oder «Zeppelin» im Kanton Zürich). Im Zentrum stehen sowohl die Förderung des Kindes als auch die Stärkung elterlicher Kompetenzen sowie die soziale Vernetzung der Familie und in erster Linie das Ziel, die Bildungschancen 9) sozial benachteiligter Familien zu verbessern. Gerade Kinder aus angebotsarmem, häufig sozial benachteiligtem Umfeld profitieren davon und können mit besseren Kompetenzen in den Kindergarten starten.

Bei sozial isolierten Familien mit Migrationshintergrund ist sicherlich die Vernetzung zu anderen Familien – aus dem eigenen, v.a. aber auch aus unserem Kulturkreis – wichtig. Die Kinder- und Jugendzentren sowie Sozial- und Gemeinschaftszentren machen breite Angebote mit Aktivitäten für die ganze Familie. Häufig sind die Mütter (noch) nicht in einen Arbeitsprozess integriert oder nur unter Landsleuten tätig – respektive gesellschaftlich verbunden – und daher der Landessprache nicht mächtig. Die Integration der Kinder in unsere Gesellschaft läuft auch über die Sprachkompetenz der Eltern. Deshalb sind Sprachkurse für Eltern, idealerweise mit Kinderbetreuung, ein wichtiges Angebot, auf das Kinderärzte immer hinweisen sollen (häufig werden sie via Schulen oder Sozialzentren angeboten).

Neben diesen sozial- und sonderpädagogischen Unterstützungsangeboten stehen schliesslich die klassischen medizinisch-therapeutischen Angebote wie Physio- und Ergotherapie, die das Kind vor allem in seinen motorischen und koordinativen Fähigkeiten unterstützen. Diese Leistungen werden nach (kinder-)ärztlicher Verordnung von den Krankenkassen oder der Invalidenversicherung bezahlt. Die Trennung von sozial- /sonderpädagogischen und medizinischen Therapien ist für Laien oft schwer verständlich und steht im Widerspruch zu einem integrierten multimodalen Vorgehen. Für die den Familien zur Seite stehenden Pädiater bedeutet dies, dass die pädiatrische «Zuständigkeit» über die rein medizinische Perspektive hinausgehen muss.

Ein Dschungel früher Förderangebote

Gesamthaft ergibt sich aus der Vielzahl der genannten Therapie-, Förder- und Unterstützungsangebote eine recht unübersichtliche Angebotslandschaft. Einen Überblick über die Vielfalt der Angebote im Frühbereich, die der Primärversorger kennen sollten, findet sich in Abbildung 1 – hier exemplarisch am Beispiel des Kantons Zürich. Es ist ersichtlich, dass es eine Vielzahl sich ergänzender, paralleler Angebote gibt. Dies macht es einem Laien schwer einen Überblick zu bekommen – insbesondere, da in Abhängigkeit des Angebotes, unterschiedliche Zugangswege und Finanzierungsmodalitäten zu beachten sind.

Abbildung 1: Übersicht über Therapien und Angebote im Frühbereich (am Beispiel Kt. Zürich; «okey»: Fachstelle für Opferhilfeberatung und Kinderschutz, «MMI»: Marie Meierhofer Institut für das Kind); Copyright PD Dr. med. Michael von Rhein

Rolle der niedergelassenen Pädiater

Kinderärzte nehmen daher im «Dschungel» früher Angebote eine zentrale Rolle ein 10): Sie müssen Kinder und Familien mit einem Förderbedarf erkennen und die Eltern darin unterstützen, die richtigen Entscheidungen bezüglich medizinisch indizierter Diagnostik zu treffen. Sie können beispielsweise an einem Gespräch mit einem Spezialisten oder einer Therapeutin teilnehmen und dabei Übersetzungshilfen für die Eltern anbieten. Oder sie können Familien mit psychosozialer Belastung als Ansprechperson dienen, zu der sie ein Vertrauensverhältnis haben und die ihnen hilft, die Hemmschwelle im Hinblick auf Unterstützungsangebote und Hilfen zu senken. Gelegentlich brauchen belastete Eltern Unterstützung, damit sie ihre Rolle als Eltern überhaupt ausfüllen können: Beziehungskonflikte der Eltern bis zu häuslicher Gewalt, eigene Krankheit (psychische eingeschlossen) oder die eines Familienmitgliedes, Arbeitslosigkeit, Krankheit des Kindes, Migration (hier vor allem mit unterschiedlicher Art von traumatisierenden Erlebnissen) u.v.a.m. können die Energiereserven von Eltern deutlich schrumpfen lassen. In diesen Fällen brauchen Kinderärzte ein Gespür und Verständnis für solche Belastungen, um erschöpfte Eltern feinfühlig und mit Blick aufs Kind auf ihre Verfassung ansprechen zu können. Den Eltern die kindliche Perspektive darin aufzuzeigen ohne sie dabei zusätzlich zu belasten oder gar zu verletzen, ist eine hohe Kunst und eine wichtige pädiatrische Aufgabe. Gelingt das, kann Distanz zum Problem geschaffen werden und zukunftsorientiert mit den Eltern nach Unterstützungsangeboten Ausschau gehalten werden. Hier ist die Kenntnis der lokalen Angebote und die Vernetzung mit Kinder- und Jugendzentren und Sozialzentren inklusive der dort angebotenen Mütter-, Väter- und Erziehungsberatung sowie spezialisierten Psychotherapeuten (in Zürich auch Arche für Familien) sehr hilfreich. Auch das Wissen um die Existenz eines Frauenhauses bei häuslicher Gewalt oder eine Mutter-Kindabteilung einer Klinik bei Erschöpfung der Mutter entlastet sofort. Kinder mit Regulationsstörungen beispielsweise bringen ihre Eltern häufig an den Rand der Verzweiflung. Neben den Beratungen in der eigenen Praxis kann die Überweisung in eine spezialisierte Sprechstunde sowohl die Ressourcen der Eltern stärken als auch die des Pädiaters entlasten. Auch ein Entlastungsdienst kann einer erschöpften Mutter oder einem Vater wieder zu Energie verhelfen. Im ganzen Prozess dem Tempo der Eltern wie aber auch dem Bedürfnis des Kindes gerecht zu werden, kann eine grössere Herausforderung darstellen, die Geduld und Zeit braucht, aber Voraussetzung für eine vertrauensvolle Beziehung zum Kinderarzt ist.

Frühe Förderung verstehen wir Pädiater umfassend: sie integriert neben den medizinischen und Entwicklungsaspekten auch soziale und Bildungsaspekte. Es kann vorkommen, dass Eltern in guter Absicht Förderung betreiben, diese aber nicht den Bedürfnissen des Kindes entspricht, es entsteht ein sogenannter Misfit 11). Auch hier hat der Kinderarzt seine Rolle. Das Frühchinesisch für den 3-jährigen kann in sehr seltenen Fällen eine Entlastung bringen, z.B. bei einem Kind, das eine enorm rasche Sprachentwicklung zeigt und auch allgemein kognitiv überdurchschnittlich weit ist und mit seinem Verhalten die ganze Familie unter Druck setzt, weil es unterfordert ist. Doch diese Fälle sind eher die Ausnahme. Vielmehr wäre es in einer solchen Situation sinnvoll, mit den Eltern Förderung im pädiatrischen Sinn nahezubringen: entwicklungsgemässe (und nicht zwingend altersgemässe) Lern- und Spielinhalte sowie Angebote, die soziale Kompetenzen und die Beziehung zu den Eltern stärken. Frühe Bildung im Vorschulbereich wird von Eltern häufig missverstanden. Immer wieder muss ihnen (auch Akademikern) erklärt werden, wie Kinder in diesem Alter lernen: durchs Spiel, soziale Kontakte mit Gleichaltrigen, Möglichkeit des Erlebens/Entdeckens/Bewegens in der Natur etc. All das in der Gewissheit einer feinfühligen und emotional verfügbaren, erwachsenen Bezugsperson. Die Frage, ob sie sich denn in dieser Rolle sähen oder wer sie bei ihrem Kind einnimmt, kann manche Eltern zum Nachdenken anregen.

Die in der Praxis regelmässig durchgeführten Vorsorgeuntersuchungen bieten eine Plattform für Fragen der Eltern. Die Kinderärzte wiederum verschaffen sich da einen Eindruck über den Entwicklungsstand und die Gesundheit des Kindes und führen eine antizipierende Entwicklungsberatung durch. Meist gelingt es nicht, in dieser doch zeitlich beschränkten Konsultation Auffälligkeiten umfassend zu untersuchen und gleichzeitig auch noch die Eltern aufzufangen. Die Folgekonsultationen können Raum bieten, im Tempo der Eltern (wenn medizinisch vertretbar) das Kind nochmals eingehend zu untersuchen und ggf. einer vertieften Diagnostik zuzuweisen, oder ihnen die Notwendigkeit einer Therapie (Heilpädagogische Frühförderung, Physiotherapie, Logopädie, Ergotherapie) aufzuzeigen.

Eine Lücke im bisher gängigen Schweizer Schema der durch die Krankenkasse finanzierten Vorsorgeuntersuchungen gibt es noch im Alter von 3 Jahren. In diesem Alter sind sprachliche und globale Entwicklungsverzögerungen für Experten bereits gut erkennbar und allfällige Fördermassnahmen können noch rechtzeitig vor dem Kindergarten eingeleitet werden. Doch einige Familien haben keinen Kinderarzt, zu dem sie regelmässig gehen, oder sie hoffen ohne klärende Konsultation darauf, dass sich alle Probleme von allein lösen. Insofern könnte eine zusätzliche kinderärztliche Vorsorgeuntersuchung im Alter von 3 Jahren helfen, die Zahl der Kinder mit Sprach- oder allgemeinen Entwicklungsverzögerungen zu reduzieren, die erst nach Kindergarteneintritt erfasst wird. So würden weniger Kinder «durch die Maschen rutschen» und erst nach dem Eintritt in den Kindergarten auf eine Warteliste für den entsprechenden Therapiestart kommen – eine Verzögerung, die unter dem Strich zusätzliche Kosten verursacht.

Eine gute Vernetzung mit medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Fachpersonen und der persönliche Kontakt vereinfachen den unkomplizierten Austausch über ein Kind, wovon das ganze System profitiert. Standortgespräche zwischen Fachpersonen und Eltern werden von den Eltern häufig sehr geschätzt, weil sie feststellen können, dass die Fachleute im kontinuierlichen Austausch über ihr Kind stehen und sich um das Wohl des Kindes bemühen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, in jedem System die Fallführung zu definieren. Diese kann je nach Verlauf auch wechseln und von einer kompetenten Familie durchaus auch selbst übernommen werden. Je komplexer die medizinische oder soziale Situation, umso dringender müssen die jeweiligen Rollen definiert und klare Absprachen unter den Fachleuten getroffen werden. Praxen, in denen Medizin und Therapie unter einem Dach angeboten werden, vereinfachen solche Prozesse und können Familien ein regelrechtes medizinisch-therapeutisches Nest bieten. Wenn eine tragfähige Beziehung zum Kinderarzt besteht (vielleicht schon langjährig existent über ältere Geschwister), wenden sich Eltern grade aus eher bildungsfernem Umfeld häufig wieder zuerst an den Kinderarzt mit den Fragen, die aus einer Konsultation beim Spezialisten entstanden sind. Bei gutem Informationsfluss kann der Kinderarzt ergänzen und unterstützend begleiten. Eine enge interdisziplinäre Vernetzung zwischen Kinderärzten und den Therapeuten und anderen Fachpersonen hilft, einen möglichst einfachen und niederschwelligen Zugang zu diesen Massnahmen zu gewährleisten.

Was für die Vernetzung des Kinderarztes mit Therapeuten und anderen Fachpersonen gilt, versteht sich im gleichen Mass in der Zusammenarbeit zwischen Spezialisten in der Klinik und Kinderärzten in der Praxis. Dies ist vor allem bei multimorbiden, chronisch kranken Kindern zwingend und trägt dazu bei, dass die Betreuung des Kindes optimal verläuft. Besonders hier muss die Fallführung geklärt werden und allenfalls ein „case manager“ für Spitalaufenthalte und deren Koordination bestimmt werden. Auch hier spielen Vertrauen und eine gute Vernetzung zwischen Spitalpädiatrie und Praxispädiatrie eine wichtige Rolle für das Gelingen einer umfassenden Betreuung.

Wirkfaktoren für den Erfolg von frühen Therapien

Ist eine sonderpädagogische Massnahme indiziert und in die Wege geleitet, so hängt ihre Nachhaltigkeit entscheidend davon ab, ob es gelingt nicht nur das Kind, sondern die gesamte Familie mit ihren Belastungen und Ressourcen in die Intervention miteinzubeziehen. Einerseits umfasst dies die spezifische Förderung der elterlichen Responsivität, da diese nachweislich und nachhaltig die kindliche Entwicklung begünstigt 6). Andererseits schätzen Eltern ihren eigenen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes, ihre Zufriedenheit mit, sowie den Nutzen der Früherziehung höher ein, je stärker die Beratung vom konkreten Familienalltag ausgeht 6).  Die Familienorientierung ist ein zentrales Qualitäts- sowie Wirkelement der Heilpädagogischen Früherziehung. Zu den Effektivitätskriterien einer erfolgreichen Frühförderung gehören dabei neben der Familienorientierung auch der frühzeitige Beginn der Massnahme, ihre Intensität und Dauer, sowie der Einschluss der Übergänge in Kita und Schule 12).

Notwendigkeit Versorgungsforschung

Doch ist die Versorgung mit frühen sonderpädagogischen Massnahmen bedarfsgerecht? Werden Kinder wirklich früh genug erkannt? Über welche Zugangswege kommen sie zu den Massnahmen? Um diese Fragen zu beantworten zu können, läuft aktuell am Kinderspital Zürich eine Untersuchung zur Vergabe der frühen sonderpädagogischen Massnahmen im Kanton Zürich 13). Zudem wird die Elternperspektive untersucht mit der Frage, was von Eltern während der Begleitung durch die Heilpädagogische Früherziehung als besonders hilfreich empfunden wird. Im Rahmen einer psychologischen Masterarbeit wurde darin anhand ausführlicher Interviews mit Eltern sowie mit Heilpädagogischen Früherzieherinnen gezeigt, «dass die Feststellung des sonderpädagogischen Bedarfs durch medizinische und pädagogische Fachkräfte und folglich die Empfehlung und Anmeldung für die HFE in gewissen Fällen als zu spät beurteilt werden» 14). Hier scheint es bei medizinischen und pädagogischen Fachpersonen Handlungsbedarf zu geben. Für die gesamte Schweiz liegen vergleichbare Daten bisher nicht vor.

Fazit

Kinderärzte nehmen als primäre Ansprech- und Vertrauenspersonen für die Eltern eine zentrale Rolle an der Schnittstelle der verschiedenen Angebote ein, indem sie zusammen mit anderen Fachpersonen den jeweils aktuellen Förderbedarf bestimmen und gemeinsam mit der Familie als kompetente «Wegweiser» aus der Vielzahl von Angeboten das jeweils bedarfsgerechte auswählen. Dafür ist es natürlich zentral, dass der Kinderarzt die in seinem Umfeld verfügbaren Angebote, Akteure sowie die Zugangswege und Verfügbarkeit gut kennt.

Tabelle 2: «Aufgaben der Kinderärzte in der Praxis»

  • Frühzeitiges Erkennen von Kindern und Familien mit Förderbedarf
  • Kenntnis der Variabilität kindlicher Entwicklung: welche Kinder brauchen keine Therapie
  • Kenntnisse über die richtigen Förderangebote und die Zugangswege (inkl. Finanzierung)
  • Beratung von Eltern bezüglich Abklärung und Förderung (Optionen, Zugangswege etc.)
  • Vernetzung von Fachpersonen

Die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern betreffen viele Bereiche und frühe Bildung muss Gesundheit, Soziales und Bildungsaspekte integrieren. Kinderärzte fühlen sich daher nicht nur für medizinische Diagnosen und Therapien zuständig, sondern auch für soziale und Bildungsfragen.

Die Betreuung von Kindern mit Entwicklungsauffälligkeiten und frühem Förderbedarf ist eine interdisziplinäre Aufgabe, die ein vernetztes Arbeiten erfordert. Dazu ist es notwendig, dass die verschiedenen Berufsgruppen voneinander wissen, was sie leisten können und was nicht.

Am Beispiel von Mirco lässt sich zeigen, dass die Familie neben einer optimalen allgemeinpädiatrischen und spezialärztlichen Versorgung auch von einer heilpädagogischen Begleitung profitieren könnte. Die Heilpädagogische Früherziehung verfolgt sowohl einen kindbezogenen, als auch einen familien- und systemorientierten Ansatz 12). Im vorliegenden Beispiel würde die Heilpädagogische Früherzieherin sicher einerseits mit Mirco direkt arbeiten, um seine kognitiven, sozialen, kommunikativen und motorischen Fähigkeiten zu stärken und nächste Entwicklungsschritte anzubahnen. Für die Eltern könnte es wichtig sein, wie sie die Entwicklung von Mirco im Alltag unterstützen können – hier würde die Früherzieherin Anregungen und Ideen zur Alltagsgestaltung anbieten. Nicht zuletzt hat die Heilpädagogische Früherzieherin die zeitlichen Ressourcen und durch die langfristige Begleitung das Vertrauensverhältnis zur Familie, um die Eltern auch bei persönlichen Fragen zu Erziehung, eigenen Belastungen oder Sorgen kompetent zu begleiten und zu beraten. Falls nötig werden auch weitere Angebote (wie z.B. Spielgruppen oder Elternangebote) thematisiert und allenfalls vermittelt oder die Eltern beim Kontakt mit Behörden und Versicherungen beraten. In einem Fall wie Mirco nimmt auch der interdisziplinäre Austausch mit den anderen beteiligten Fachpersonen einen grossen Stellenwert ein. Ausserdem könnte Mirco von einer logopädischen Therapie profitieren, um seine expressiven Sprachkompetenzen zu verbessern.

Die Begleitung von Kindern wie Mirco und deren Familie im Hinblick auf frühe Förder- und Unterstützungsangebote ist eine wichtige pädiatrische Aufgabe. Dabei ist die interdisziplinäre und vernetzte Zusammenarbeit mit allen beteiligten Fachpersonen bei der Früherkennung, den Therapien und anderen Unterstützungsangeboten zentral. Dies ist aufwändig und erfordert Ressourcen. Doch die von der Gesellschaft für diese Aufgabe und die Finanzierung früher Fördermassnahmen zur Verfügung gestellten notwenigen Gelder sparen letztendlich Kosten: denn jeder Franken, der im Frühbereich investiert wird, um betroffenen Kindern zu besseren Chancen der Integration und Selbständigkeit in der Gesellschaft zu verhelfen, zahlt sich langfristig vielfach aus 8).

Referenzen

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  14. Ganz, D., Zugänge zur Heilpädagogischen Früherziehung im Kanton Zürich. Perspektiven von Eltern und Fachpersonen. 2018, ZHAW: Zürich.

    Weitere Literaturangaben auf Wunsch bei den Autoren.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr. med.  Monika von der Heiden Kinderarztpraxis Oerlikon, Schulstrasse 37, 8050 Zürich / Ehrenamtliches Vorstandmitglied im Marie-Meierhofer-Institut für das Kind

MA Sonderpädagogik HFE  Raphaela Iffländer Universitäts-Kinderspital Zürich, Abteilung Entwicklungspädiatrie

PD Dr. med.  Michael von Rhein Universitäts-Kinderspital Zürich, Abteilung Entwicklungspädiatrie, Kantonsspital Winterthur, Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ