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Für die Allgemeinpädiatrie hilfreiches Wissen zur Diagnostik bei Stoffwechselkrankheiten

Klinische Vignette

Sarah kam Anfang 2020 als 6-jähriges Mädchen zusammen mit ihrer Familie aus einem Konfliktgebiet in die Schweiz. Der Kinderarzt weist Sarah für eine Standortbestimmung in die neuropädiatrische Sprechstunde bei bekannter Epilepsie zu. Die Eltern berichten von einer normalen Schwangerschaft und Entwicklung bis zum 8. Lebensmonat, als erstmals fiebergebundene Anfälle auftraten. Diese sistierten jeweils spontan, eine Medikation ist nie erfolgt. Auch während der Kleinkindzeit hatte sie immer wieder „kleine Anfälle“, stets mit Fieber und einer maximalen Dauer von 5 Minuten. Im Alter von 4 Jahren erhielt das Mädchen eine erste antiepileptische Therapie (Levetiracetam), eine MRI-Untersuchung (ohne Spektroskopie) des Schädels sei unauffällig gewesen. Bis zu den ersten Anfällen am Ende des ersten Lebensjahres habe Sarah gelegentlich lautiert, danach jedoch Rückgang des Lautierens. Sprache sei nie entstanden, seit dem 2. Lebensjahr gebe das Mädchen lediglich Laute von sich oder schreie, um auf sich aufmerksam zu machen.

EEG: Pathologisches Wach-, Müdigkeits- und Schlaf-EEG mit Registrieren mehrerer kurzer Anfälle. Häufig rhythmische sharp slow wave-Serien um 2/s, mehrheitlich generalisiert, teilweise seitenbetont (häufiger links als rechts); damit einhergehend zeigt sich jeweils eine sich wiederholende klinische Anfallssymptomatik bestehend aus Blickhebung, teilweise Lidzuckungen oder Schmatzbewegungen, sowie wechselseitigen Arm-/Handbewegungen, insgesamt am ehesten atypischen Absencen entsprechend.

Urin:   Guanidinoazetat/Kreatinin 1386 mmol/mol Krea (Referenzbereich 15-152)

            Kreatin/Kreatinin 14 mmol/mol Krea (Referenzbereich 19-1046)

MRI mit Spektroskopie des Schädels: Strukturell unauffälliges Hirnparenchym. In der Spektroskopie sehr geringe Konzentration von Kreatin in den Basalganglien und fehlender Nachweis in der weissen Substanz, in den Basalganglien relativ hohes Guanidinoazetat, übrige Metaboliten unauffällig.

Diagnose: Guanidinoazetat-Methyltransferase (GAMT) Defizienz 1-2)

Therapie: tägliche Einnahme von Kreatin (Start mit 550 mg/kg/Tag) und Ornithin (Start mit 450 mg/kg/Tag)

Situation 3 Monate nach Beginn der Behandlung: Sarah habe keine Anfälle mehr gehabt, die Entwicklung schreitet langsam voran. Im EEG sind keine epilepsietypischen Potentiale mehr vorhanden. In der MR-Spektroskopie deutlich gebesserte, jedoch immer noch unterhalb des Referenzbereichs liegende Kreatinwerte sowohl für die Basalganglien als auch die weisse Substanz.

Was sind Stoffwechselkrankheiten?

Der Stoffwechsel ist eines der effizientesten Netzwerke der Lebewesen. Es ist ein im Organismus zwischen verschiedenen Zellen koordinierter und in verschiedenen Organellen, Zellen oder Organen kompartmentalisierter biochemischer Prozess. Jeder Komponente (z.B. Metabolit, Enzym oder Transporter) ist eine bestimmte Funktion zugewiesen. Zellorganellen, verschiedene Zellen und Organe arbeiten zusammen, um die normale Entwicklung und eine intakte Funktion unseres Körpers zu gewährleisten. Genetische Stoffwechselkrankheiten sind seltene Defekte (häufig mit einer Inzidenz von 1:6’000 – 1:100’000 oder seltener) in diesem Netzwerk und können in Abhängigkeit der Bedeutung des Defektes zu sehr unterschiedlichen, meistens multisystemischen klinischen Manifestationen führen 3). Die unterschiedliche Ausprägung des spezifischen genetischen Defektes und häufig auch äussere Einflussfaktoren können auch innerhalb der gleichen Krankheit zu sehr unterschiedlichen klinischen Krankheitsbildern führen. Die Patienten manifestieren sich daher entweder mit a) einer chronisch progredienten Symptomatik, Dysmorphie oder Missbildungen; b) akuten, teils lebensbedrohlichen Episoden oder auch intermittierenden Symptomen häufig ausgelöst durch Katabolismus; c) oligosymptomatischen Formen, welche teilweise erst im Erwachsenenalter manifest werden 3).

Wie können Stoffwechselkrankheiten diagnostiziert werden?

Obwohl sich nur etwas mehr als 10% der Metabolite des menschlichen Metaboloms auch in der Extrazellulärflüssigkeit (Blut, Urin, Liquor) nachweisen lassen, gibt es für viele der Krankheiten mehr oder weniger sensitive und spezifische Screening-Untersuchungen. Bei einigen Krankheiten sind für die sichere Diagnostik jedoch zusätzliche Untersuchungen (Bildgebung, Biopsien) und zunehmend auch genetische Untersuchungen (Sequenzierung von Einzelgenen, Exom oder Genom) notwendig.

Allgemeines Screening: Dieses bezeichnet ein systematisches Testverfahren, welches bei einer gesamten Population angewendet wird. Aus medizinischer Sicht ist das Neugeborenen-Screening auf angeborene Stoffwechselkrankheiten (und inzwischen auch anderes) ein Paradebeispiel für ein allgemeines Screening. Davon abzugrenzen ist das Selektive Screening, weil dieses selektiv nur für eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung und/oder für bestimmte Situationen vorgesehen ist 4-6).

Beispiele: Wenn bei allen 12-Jährigen eine Bestimmung des Cholesterins vorgenommen wird, ist dies ein allgemeines Screening. Hingegen stellt die Messung von Cholesterin bei Patienten mit Xanthelasmen ein selektives Screening dar.

Tabelle 1 listet relevante Symptome und Befunde, bei welchen ein Stoffwechselscreening erwogen werden sollte. Oftmals findet sich eine Kombination von unklaren Symptomen oder laborchemischen Befunden.

Im Folgenden werden die für die Allgemeinpädiatrie (Praxispädiatrie und Spital) wichtigsten biochemischen Laboranalysen im Kontext des selektiven Screenings vorgestellt. Dabei unterscheiden wir nach Untersuchungen im Blut (Vollblut, antikoaguliertes Blut, Trockenblutkarten, oder Plasma) und im Urin (in aller Regel Spontanurinproben).

In Tabelle 2 sind Details zu Untersuchungsverfahren, Testmaterial und häufigen Krankheiten zusammengefasst.

Diese Untersuchungen können in:
Bern (Zentrum für Labormedizin)
http://www.zlm.insel.ch/
Zürich https://www.kispi.uzh.ch/de/zuweiser/labormedizin-zpl/Seiten/default.aspxoder Lausanne 
https://www.chuv.ch/fr/laboratoires/dl-home/
durchgeführt werden.

Relevante selektive Screening-Tests im Blut

Aminosäuren im Plasma: Dieser Test ergibt präzise Konzentrationen von mindestens 26 Aminosäuren im Blut. Diese Untersuchung ist als Notfallanalyse unverzichtbar. Dabei sind im Wesentlichen die proteinogenen Aminosäuren von Interesse, welche an der Herstellung von Proteinen im menschlichen Körper beteiligt sind. Von besonderer Wichtigkeit bei der Interpretation sind dabei die essentiellen Aminosäuren und diejenigen, welche Indikatoren für bestimmte Krankheiten sein können. Zum Beispiel ist die Konzentration des Phenylalanins aussagekräftig für die Stoffwechseleinstellung bei Patienten mit Phenylketonurie.  

Acylcarnitine: Das Profil der Acylcarnitine kann im Vollblut oder aus Trockenblutkarten bestimmt werden (technisch ist dies auch aus Plasma möglich, wobei diese Analyse nur für die Diagnostik des Carnitinpalmitoyltransferase 2-Mangels eine Rolle spielt). Damit werden vor allem Fettsäurenoxidationsdefekte und Organoazidurien sowie zudem Carnitinzyklusstörungen adressiert. Diese Untersuchung ist als Notfallanalyse unverzichtbar, weil damit ein relevanter Teil der metabolischen akuten Krisen diagnostiziert werden und eine spezifische Therapie lebensrettend sein kann.

CDG-Diagnostik (Transferrin-Elektrophorese / isoelektrische Fokussierung oder Ionenchromatographie): Hierbei handelt sich um einen klassischen Suchtest, einzusetzen bei unklarem neurologischen Bild (oft Entwicklungsverzögerung, Ataxie, Kleinhirnhypotrophie), bestimmten Dysmorphien, unklarer Hepatopathie mit Gerinnungsstörung und anderem. Der Test kann viele der bekannten Glykosilierungsstörungen aufdecken, hat jedoch Lücken und kann daher keineswegs als “Ausschluss” dienen.

Überlangkettige Fettsäuren (Peroxisomale Krankheiten): Die überlangkettigen Fettsäuren inklusive Phytansäure können im Serum oder Plasma bestimmt werden. Erhöhte Konzentrationen sind allgemein hinweisend auf eine Fehlfunktion der Peroxisomen.

Relevante selektive Screening-Tests im Urin

Organische Säuren: Dieser Test wird in aller Regel im Urin durchgeführt und gehört ebenfalls zu den unverzichtbaren Notfallanalysen. Nur wenige Speziallabore bieten die Analyse der organischen Säuren auch im Liquor oder Blut an. Es können bis 5000 verschiedene Metabolite semi-quantitativ bestimmt werden; allerdings ist oftmals bereits ein qualitativer Nachweis einer spezifischen Substanz diagnostisch wertvoll. So ist etwa der Nachweis von Homogentisinsäure charakteristisch und diagnostisch für das Vorliegen einer Alkaptonurie.

Kreatin und Guanidinoazetat: Diese beiden Metabolite können zwar auch im Plasma bestimmt werden, die Analyse im Urin bietet jedoch eine grössere diagnostische Sicherheit. Es können sämtliche bekannte Störungen der Kreatinbiosynthese aufgedeckt werden, welche oft mit Spracherwerbsstörungen (siehe klinische Vignette) einhergehen und bei frühem Therapiebeginn durchaus erfolgreich behandelt werden können.

Glykosaminoglykane (GAGs): Die sogenannten Glykosaminoglykane sind Ausscheidungsprodukte bei zahlreichen lysosomalen Speicherkrankheiten. Sie können quantitativ oder qualitativ gemessen werden, wobei in aller Regel eine Kombination beider Tests sinnvoll ist. Sie dienen für einige der Krankheiten zudem als Verlaufsparameter während der Enzymersatztherapie.

Oligosaccharide: Deren Bestimmung ergänzt die Untersuchung der GAGs für Patienten mit neurologischen Symptomen, Entwicklungsstillstand oder Regression, oder auch Skelettfehlbildungen und Organvergrösserungen. Auch dieser Test ist ein klassischer Suchtest mit naturgemäss eingeschränkter Sensitivität, der entsprechend nie als “Ausschluss” gewertet werden sollte.

Purine und Pyrimidine: Die Gruppe der Krankheiten im Purin- und Pyrimidinstoffwechsel erfuhr in den vergangenen Jahren aufgrund verbesserter genetischer und biochemischer Analytik eine deutliche Ausweitung. Dieser Test erfolgt in der Zwischenzeit meist als hoch-sensitive LC-MS/MS-Analyse und sollte grosszügig bei verschiedenen Indikationen eingesetzt werden (siehe Tabellen 1 und 2).

Typische Anekdoten, bei welchen Screening-Untersuchungen hilfreich waren

  • Der 11-jährige Knabe präsentiert sich wegen zunehmender Erschöpfbarkeit, Leistungsknick und unklaren Wutanfällen. Im Status fällt eine Braunverfärbung der Haut und Schleimhäute auf. Die Laborabklärungen bestätigen den Verdacht auf eine Nebennierenrindeninsuffizienz mit erhöhtem ACTH und erniedrigten Mineralo- und Glukokortikoiden. Für eine autoimmune Ursache fehlen entsprechende Antikörper. Die Bestimmung der überlangkettigen Fettsäuren im Plasma erbringt den Verdacht auf eine X-chromosomale Adrenoleukodystrophie (X-ALD), welche genetisch bestätigt wird. Unter Substitution mit Mineralo- und Glukokortikoiden normalisieren sich die Beschwerden und Braunverfärbung. Weil die Krankheit Jahre oder Jahrzehnte ohne Beteiligung des Gehirns verlaufen kann, wird der Patient seit 4 Jahren alle 6 Monate mittels Schädel-MRI kontrolliert. Eine frühzeitige Diagnose der X-ALD ist äußerst wichtig: einerseits werden lebensbedrohliche Krisen der Nebenniereninsuffizienz während Infekten (häufig subklinische Nebenniereninsuffizienz) verhindert, andererseits ist eine allfällige Stammzelltransplantation die Therapie der Wahl bei beginnendem Befall des Zentralnervensystems.
  • Der 4-jährige Knabe erscheint bereits zum dritten Mal mit gleicher Symptomatik auf dem Notfall: Erbrechen und Schläfrigkeit im Rahmen einer ansonsten milden Erkältung. Auffällig ist eine für die klinische Situation ungewöhnlich ausgeprägte Azidose. Von der Notfallstation wird unter anderem die Bestimmung der organischen Säuren im Urin veranlasst, welche typische Metabolite einer Isovalerianazidämie aufweist. Der Patient folgt seitdem einer eiweiß-eingeschränkten Diät und erhält einen Notfallplan; weitere Entgleisungen sind nicht aufgetreten.    

Schlussbemerkungen

Genetische Stoffwechselstörungen sind seltene Krankheiten, welche sich klinisch sehr heterogen und in jedem Alter manifestieren können. Das selektive Screening erlaubt auch ohne Kenntnis über spezifische Defekte, eine Verdachtsdiagnose zu stellen und zudem relevante Differentialdiagnosen auszuschliessen. Aufgrund der unterschiedlichen Sensitivität und Spezifität der Screening-Untersuchungen ist es jedoch wichtig zu wissen, dass ein normales Screening keineswegs eine Stoffwechselkrankheit generell ausschliesst. Kolleginnen und Kollegen in der Praxispädiatrie sowie den Notfallstationen kommt eine entscheidende Funktion zu, weil oftmals diese Patienten primär hier gesehen werden. Bei persistierend unklaren Symptomen sollte entsprechend ein Stoffwechselzentrum kontaktiert werden. Die frühzeitige Diagnosestellung ist für zahlreiche der genannten Krankheiten von Bedeutung, da diese unbehandelt häufig zu irreversiblen Schäden führen und weil zunehmend spezifische Therapien zur Verfügung stehen.

Kontakte der Stoffwechselzentren in der Schweiz

Bern
Universitäts-Kinderklinik Bern
Stoffwechsel und Neurometabolik
Freiburgstrasse
3010 Bern

Tel: +41 31 632 52 45 (Sekretariat)
metabolik@insel.ch

Lausanne
Unité pédiatrique des maladies métaboliques
Service de Pédiatrie
CHUV MP18-05-561
Chemin de Mont-Paisible 18
1011 Lausanne

Tel: +41 21 314 34 82
ped.metabolique@chuv.ch  

Zürich
Universitäts-Kinderspital Zürich
Eleonorenstiftung
Abteilung für Stoffwechselkrankheiten
Steinwiesstrasse 75
8032 Zürich

Telefon +41 44 266 84 08 (Sekretariat)
stoffwechsel.sekretariat@kispi.uzh.ch

Referenzen

1. Schulze A. Creatine deficiency syndromes. Handb Clin Neurol. 2013;113:1837-1843.

2. Mercimek-Mahmutoglu S, Stoeckler-Ipsiroglu S, Adami A, et al. GAMT deficiency: features, treatment, and outcome in an inborn error of creatine synthesis. Neurology. 2006;67(3):480-484.

3. Zschocke J, Hoffmann GF. Vademecum Metabolicum. 4th ed. D-Friedrichsdorf: Schattauer; 2012.

4. van Karnebeek CD, Stockler S. Treatable inborn errors of metabolism causing intellectual disability: a systematic literature review. Mol Genet Metab. 2012;105(3):368-381.

5. Sass JO. Selective screening for inborn errors of metabolism–assessment of metabolites in body fluids. Clin Biochem. 2011;44(7):474-475.

6. Hoffmann GF. Selective screening for inborn errors of metabolism–past, present and future. Eur J Pediatr. 1994;153(7 Suppl 1):S2-8.

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Prof. Dr. med. Johannes Häberle, Universitäts-Kinderspital Zürich und Forschungszentrum für das Kind, Zürich
PD Dr. med. Jean-Marc Nuoffer, Universitäts-Kinderspital Bern und Universitäts-Institut für Klinische Chemie Inselspital, Bern,