Die Trichologie des Kindes unterscheidet sich nicht von der des Erwachsenen, aber die Diagnose der Haarerkrankungen wird kompliziert durch in diesem Lebensalter zu erkennende genetische Krankheiten und Anomalien in Struktur und Funktion der Haarfollikel (Tabelle 1). In dieser Übersicht werden die verschiedenen Formen umschriebener nichtentzündlicher Alopezien dargestellt, mit praktischen Hinweisen.
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Einleitung
Die Trichologie des Kindes unterscheidet
sich nicht von der des Erwachsenen, aber
die Diagnose der Haarerkrankungen wird
kompliziert durch in diesem Lebensalter
zu erkennende genetische Krankheiten
und Anomalien in Struktur und Funktion
der Haarfollikel (Tabelle 1).
• Dysplasien des Haars ohne Alopezie sind
Strukturanomalien des Haarschafts, die
zu einem besonderen Aussehen der
Kopfhaare führen, ohne dass eine Alo –
pezie entsteht. Bekanntestes Beispiel
hierfür, und auch aus der Volksliteratur
bekannt, ist «Struwwelpeter» (unkämm –
bare Haare).
• Die kongenitalen oder erworbenen Atri
chien und Hypotrichosen, mit oder ohne
Haarschaftanomalie können Teil eines
Missbildungssyndroms sein. Deren Be –
treuung muss in Zusammenarbeit mit
einem trichologisch geschulten Derma -tologen oder einer dermatologischen
Universitätsklinik erfolgen, da diese
seltenen Erkrankungen eine speziali
–
sierte Diagnostik verlangen (Rasterelek –
tronenmikroskopie, Untersuchung im
polarisierten Licht).
• Nichtvernarbende entzündliche Alope
zien werden aufgrund des Erythems am
Kopfboden einfach erkannt. Wichtig ist
zu verstehen, dass selbst harmlos schei –
nende Kopfbodenerkrankungen (atopi –
sches Ekzem, Impetigo, Mykosen) einen
vorübergehenden Haarausfall bewirken
können. Im Falle fortgesetzter Entzün –
dung entwickelt sich jedoch durch Fib –
rose des Haarfollikels eine irreversible
Alopezie. Deswegen ist eine schnelle
und konsequente Behandlung wichtig.
• Vernarbende Alopezien sind beim Kind
selten, mit Ausnahme der Morphaea im
Stirnbereich («Sclérodermie en coup de
sabre»).
• Diffuse nichtentzündliche Alopezien
(«Telogeneffluvium») sind beim Kind sel –
ten, aber nicht ausserordentlich. Die
Differenzialdiagnose entspricht der beim
Erwachsenen (z. B. Dysthyroïdien), meist
handelt es sich aber um einen Eisen-,
Zink- oder Biotinmangel, deren Ursache
bei Persistenz abgeklärt werden muss
(Fehlernährung, Malabsorption). • Die
vorpubertäre androgenetische Alope
zie ist selten und tritt als erstes Zeichen
der Pubertät auf, noch vor der Pubarche;
sie ist eine diffuse nichtentzündliche
Alopezie mit elektiver Topographie.
• Umschriebene nichtentzündliche Alo
pe zien bilden die letzte Gruppe der
Haarerkrankungen beim Kind. Sie sind
in der Praxis häufig und stellen den
grossen Hauptteil der Konsultationen für
Haarprobleme beim Kind (Tabelle 2).
In dieser Übersicht werden die verschiede –
nen Formen umschriebener nichtentzünd –
licher Alopezien dargestellt, mit praktischen
Hinweisen.
Umschriebene nichtentzündliche
Alopezien
Umschriebene Alopezien sind beim Neuge –
borenen selten und stehen meist in klinisch
eindeutigem Zusammenhang (z. B. Hamar-
tome, Geburtsverletzungen). Schwieriger ist
die Beurteilung neu auftretender nichtent –
zündlicher haarloser Herde am Kopf beim
anderweitig gesunden Kind.
Auch wenn die häufigste Ursache die Alope-
cia areata ist, so sind differenzialdiagnos –
tisch ähnliche Krankheiten zu bedenken,
die hier im Überblick vorgestellt werden
(Tabellen 2 und 3).
1. Tinea capitis
Grundsätzlich muss bei jedem umschriebe –
nen Haarausfall stets an eine Pilzinfektion
gedacht werden, und dies vor allem beim
vorpubertären Kind; auf diese Altersgruppe
Erworbene umschriebene
nichtentzündliche Alopezie
Pierre A. de Viragh, Lausanne und Zürich
Tabelle 1: Trichologie beim Kind
● Dysplasien des Haars ohne Alopezie
● Atrichien
● Hypotrichosen, kongenital oder
erworben ± Dysplasie des Haars ± Miss
–
bildungssyndrome
● Nichtvernarbende entzündliche Alopezien
● Vernarbende Alopezien
● Diffuse nichtentzündliche Alopezien
● Vorpubertäre androgenetische Alopezie
● Umschriebene nichtentzündliche
Alope zien
Tabelle 2: Differenzialdiagnose umschrie –
bener nichtentzündlicher Alopezien
● Tinea capitis
● Missbildungen
● Loses Anagenhaar
● Traumatische Alopezie
● Traktionsalopezie
● Trichotillomanie
● Trichotemnomanie
● Alopecia areata
Tabelle 3: Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Formen eines erworbenen
umschriebenen nichtentzündlichen Haarausfalls gegenüber der Alopecia areata
Diagnose Differenzialdiagnostische Merkmale
Tinea Zumindest diskrete Schuppung, gebrochene Haare aber
nicht «Ausrufezeichen»-Haare, Entzündung variabel
Kongenitale trianguläre Alopezie Flaumhaare, Form, Lokalisation, Entwicklung, Anamnese
Loses Anagenhaar Haare meist fein, blond und ungleicher Länge, alopezische
Herde nicht völlig kahl
Traumatische Alopezie Symmetrische Anordnung
ev. Entzündung, ev. diskrete Schuppung
Traktionsalopezie Symmetrische Anordnung, keine völlige Kahlheit, Juckreiz
Trichotillomanie Gebrochene Haare ungleicher Länge, gut verankert,
ev. Entzündung, ev. diskrete Schuppung
Trichotemnomanie Geschnittene Haare (gut verankert) gleichartiger Länge
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allein entfallen 95% aller Kopfhautmykosen
(Abb. 1). Die Tinea capitis ist trügerisch, da
deren Klinik sehr variabel ist. Klassisch zeigt
sie hochrote, eitrige Entzündungsherde;
zuweilen ist sie aber kaum entzündlich. Man
muss also bei jedem haarlosen Herd am
Kopf, auch wenn dieser nur wenig schuppig
ist, und vor allem bei gebrochenen Haaren,
eine Pilzprobe entnehmen. Eine Kultur ist
dabei unabdingbar, denn endophytische Pil-
ze sprechen auf die modernen Antimykotika
an, dagegen sind exophytische Pilze zuwei –
len nur durch Griseofulvin mit Sicherheit
zu behandeln (in der Schweiz nicht mehr
erhältlich, muss eingeführt werden: in der
Praxis beginnt man mit einem modernen
Antimykotikum, dann Therapieanpassung
gemäss Kultur und klinischem Verlauf)
1).
2. Missbildungen
Verschiedene Formen umschriebener Alope –
zie beruhen auf einer Missbildung 2).
● Die häufigste ist die kongenitale trian –
guläre Alopezie. Sie ist nicht selten und
betrifft ungefähr ein Promill der Bevöl –
kerung. In der fronto-temporalen Zone
findet sich bei der Stirn eine umschrie –
bene dreieckige oder ovale kahle Stelle,
nur mit feinem Flaum bedeckt (Abb.
2). Zuweilen ist sie einseitig angelegt,
manchmal aber zweiseitig und gleicht
dann den Geheimratsecken der andro –
genetischen Alopezie. Der frontale Haar-
saum kann erhalten sein, dann kann die
kahle Stelle mit einer Alopecia areata,
einer Trichotillomanie oder mit einer Ti –
nea verwechselt werden. Anamnese und
Verlauf ergeben die Diagnose. Obwohl
schon bei der Geburt angelegt, wird die
kongenitale trianguläre Alopezie oft erst
nach ein paar Jahren bemerkt, meist im Alter zwischen 2-5 Jahren, wenn die
benachbarten Haare stärker zu wachsen
beginnen und so der Kontrast zur kahlen
Stelle verstärkt wird. Selten nur wird
eine Biopsie nötig sein; sie zeigt histo
–
logisch kleine Flaumhaar-Follikel in nor-
maler Zahl. Diese werden sich zeitlebens
nicht in Terminalhaare differenzieren.
Die Behandlung, meist unnötig, kann nur
chirurgisch sein (Exzision der Zone oder
Eigenhaar-Transplantationen).
● Die andern Missbildungen sind seltener
und können sehr unterschiedlicher Grös –
se sein. Der aplastische Naevus (weder
Haarfollikel noch Schweissdrüsen), der
alopezische Naevus (keine Haarfollikel)
und die fokale Alopezie (Haarfollikel
dauerhaft in der Telogenphase fixiert,
letztlich Atrophie des Follikels); sie alle
zeichnen sich als kahle Stellen ohne Folli-
kelöffnungen aber auch ohne Narbe aus.
3. Loses Anagenhaar
Typischerweise stellen angsterfüllte Eltern
ihr Kind, das ob all der Aufregung höchst
erstaunt ist, notfallmässig vor. Die Kinder
haben oft feine blonde Haare, die überdies
ungleicher Länge sind, wie wenn es eben
erst dem Coiffeur-Lehrling Modell gestanden
wäre. Nachdem ihm auf dem Pausenhof im
Streit die Haare büschelweise ausgerissen
wurden, sieht es nun wie ein gerupftes Huhn
aus, mit haarlosen Stellen wie bei einer
Alopecia areata (Abb. 3). Im Gegensatz zu
dieser jedoch sind die alopezischen Herde
nicht vollkommen kahl und man findet keine
Ausrufezeichen-Haare. Beim Ziehen an den
Haaren kann man diese in der Tat, auch bü-
schelweise, ohne jeden Schmerz ausziehen,
vorausgesetzt man zieht schnell und abrupt.
Wenn man langsam und zögerlich zieht, so ist dies schmerzhaft. Dies ist dem diffusen
Effluvium einer aktiven Alopecia areata
ähnlich, aber da können die Haare auch
langsam schmerzlos ausgerissen werden.
Die mikroskopische Direktuntersuchung von
Haaren beweist die Diagnose: Viele Haar-
wurzeln zeigen an ihrem Ende aufgerollte
Haarcuticulae, die wie heruntergerutschte
Socken aussehen.
Das lose Anagenhaar entsteht durch eine
fehlerhafte Keratinisation der inneren Wurzel
–
scheide, wahrscheinlich wegen Mutationen
im Typ 2-Haarkeratin K6hf. In der Histologie
sieht man eine verminderte Zellhaftung,
verantwortlich für eine brüchige Verzah-
nung der Haarcuticulae und damit für eine
ungenügende Verankerung des Haars im
Follikelsack. Die Verankerung genügt jedoch
den Zugwirkungen beim Kämmen und im
Kopfkissen
3). Mit dem älter Werden wird diese
Missbildung weniger wichtig, weil einerseits
der molekulare Defekt bessert, andererseits
weil Erwachsene sich selten an den Haaren
reissen. Die Verordnung von Minoxidil kann
ebenfalls eine Verbesserung bewirken.
4. Traumatische Alopezie
Die traumatische Alopezie entsteht nach
langdauerndem Druck oder durch wieder-
holtes Reiben am Kopfboden durch eine
Okklusionsvaskulitis
4). In schweren Fällen,
z. B. nach einer langen Operation, wird zu –
erst über Schmerz und Schwellung am Kopf
geklagt, erst nach einem Monat über einen
Haarausfall. In milderen Fällen entwickelt
sich die Alopezie nur allmählich und bleibt
anfänglich unbemerkt. Wir haben Fälle ge –
sehen, wo tichaftes Kratzen immer dersel –
ben Stelle verantwortlich war; bei sym –
metrischer Ausgestaltung ist es meist ein
am Kopf getragener kieferorthopädischer
Abbildung 2: Kongenitale trianguläre Alo –
pezie. In typischer Lokalisation, gekenn –
zeichnet durch den Flaumbesatz Abbildung 1: Tinea. Sie kann nichtentzünd –
lich erscheinen und vor allem durch die
Schuppung imponieren, aber auch diese
ist zuweilen nur diskret Abbildung 3: Loses Anagenhaar. Bei Haa –
ren generell ungleicher Länge entstehen
nach kindlichem Streit kahle Stellen
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Apparat (Abb. 4). Im Allgemeinen ist der
Haarverlust nicht vollständig. Die Kopfhaut
kann gerötet und leicht schuppig sein, mit
Krusten und Pusteln belegt, was wichtige
Merkmale sind. Wichtigster Hinweis zur
Diagnose ist im Allgemeinen jedoch die re –
gelhafte oder symmetrische Verteilung. Eine
sekundäre Infektion schliesst eine primär
traumatisch bedingte Alopezie nicht aus.
Der Haarverlust ist vorübergehend, falls das
Trauma zeitig gestoppt wird, jedoch vernar-
bend und damit definitiv bei fortgesetzter
Verletzung des Follikels.
5. Traktionsalopezie
Die Traktionsalopezie entsteht durch einen
langdauernden Zug auf den Haarschaft mit
nachfolgender Entzündung des Folli kelsacks.
Zuerst wurde sie 1907 bei Grönländerinnen
beschrieben, die traditionell fest gezurrte
Rossschwänze trugen. Später wurde sie bei
Sikh-Männern bekannt, die ihre Haare nicht
schneiden dürfen und sie deswegen ge –
zurrt unter dem Turban verstauen. Heute
sind es vor allem afrikanische Mädchen,
die dem Arzt vorgestellt werden, weil de –
ren Haarstyling für die Haare ein kons-
tantes Trauma darstellen: Zöpfchen in allen
Variationen und Rossschwanz (Abb. 5). Man
stösst häufig auf eine vehemente Ablehnung der Eltern, wenn man ihnen die Ursache des
Haarausfalls und dessen Behandlung erklä-
ren will, nämlich die sofortige Änderung der
gewohnten Frisur
5).
Bei Lokalisation am Hinterhaupt kann die
Traktionsalopezie mit einer ophiasischen
Alopecia areata verwechselt werden; meist
betrifft sie aber den parieto-temporalen
Bereich: «Alopecia linearis marginata». Sie
verläuft in Etappen. Zuerst, durch wiederhol –
ten Zug, wird eine Telogenphase induziert.
Bei fortgesetzter Traktion entsteht eine
Follikulitis und die Patienten klagen über
Juckreiz. Eine follikuläre Hyperkeratose wird
oft als Schuppenbildung verkannt und eine
seborrhoische Dermatitis diagnostiziert.
Später entsteht eine sichtbare Entzündung
mit Pusteln und Krusten, und es finden sich
auch gebrochene Haare. Typischerweise ist
der Kopfboden anfänglich im betroffenen
Bezirk nicht völlig kahl. Mittelfristig ist er je –
doch vollständig und definitiv haarlos durch
eine Follikelatrophie, dann Follikelresorption
und -fibrose, ohne Zerstörung der Talgdrü-
sen, was ein wichtiges histopathologisches
Diagnosekriterium ist.
6. Trichotillomanie
Ein unglücklicher Begriff, denn «tillo» be –
deutet ziehen, was nicht der Handlung der Kinder entspricht. Vielmehr spielen
sie dauernd mit den Haaren, wickeln sie
um ihre Finger, und erst zuletzt zupfen sie
diese aus. Dies ist ein wichtiges Element,
denn die Frage, ob sich die Patienten die
Haare ausziehen würden, wird mit «nein»
beantwortet; die Frage, ob sie häufiger mit
den Haaren spielen würden, wird in der Re
–
gel aber bejaht. Die Manipulation am Haar
kann überall erfolgen oder an wenigen sehr
präzisen Stellen am Kopf. Klinisch imponiert
deswegen zuweilen ein diffuses Effluvium,
zuweilen ein umschriebener Haarausfall in
sehr unregelmässiger Form, mit gut veran –
kerten gebrochenen Haaren unterschiedli –
cher Länge (Abb. 6). Es kann eine leichte
Entzündung mit Schuppenbildung durch die
wiederholte Manipulation am Kopfboden
bestehen
6). Die chaotische Verteilung, oft
auf der händigen Seite dominant, ist typisch
und unterscheidet sie von der symmetri –
schen Alopezie bei Trauma oder Traktion;
dies lässt sie aber auch der Alopecia areata
und der Tinea ähnlich sein. Bauchschmerzen
müssen abgefragt werden, sie weisen auf
einen Trichobezoar. Klassischerweise wird
die Trichotillomanie zu den Zwangsneurosen
gezählt, wegen des zwangshaften Bedürf –
nisses die eigenen Haare zu manipulieren.
Die Patienten verspüren vor dem Ausziehen
eine steigende Spannung, und danach eine
Erleichterung oder Befriedigung. Das Aus –
ziehen kann gedankenabwesend erfolgen,
z. B. vor dem Fernseher, oder konzentriert
in einer Trance. Manchmal werden auch der
Spielpuppe die Haare ausgerissen. Wir ha –
ben kürzlich einen Fall zugewiesen erhalten,
wo der Pädiater wegen des gleichzeitigen
Haarausfalls bei Bruder und Schwester ver-
wirrt war: Das Mädchen riss sich und dem
wegen eines abgeflachten Schädels sichtbar
oligophrenen Bruder die Haare aus, weil es
Abbildung 5: Traktionsalopezie. Häufig
symmetrisch wird sie einfach durch die
Frisur erkannt (Zöpfchen, Rossschwanz) Abbildung 4: Traumatische Alopezie. Wich –
tiges Indiz ist die symmetrische Vertei –
lung, hier bedingt durch einen kieferor-
thopädischen Zahnspangenapparat Abbildung 6: Trichotillomanie. Der chao –
tische, aber systematisierte Eindruck
lässt die Diagnose vermuten
Tabelle 4: Alter, trimodale Psychopathologie und Behandlung der Trichotillomanie
2–5 Jahre: Tic oder Stresserleichterung, analog Daumennuckeln
Therapie: Ruhe und Gelassenheit vermitteln, Hilfestellung zur Tic-Unterbrechung
10–12 Jahre: Problemsitutation, Streptokokken?
Therapie: Häufig offensichtliches Problem lösen, Mütze tragen
Jugendliche: Borderline-Störung
Therapie: Verhaltenstherapie
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Clomipramin
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mit diesem im Dorf spazieren gehen musste
und sich deswegen schämte.
Wenn denn auch die Diagnose auf den
ersten Blick leicht scheint gibt es eine gros-
se Falle: Das gleichzeitige Auftreten einer
Alopecia areata mit einer Trichotillomanie,
was auf emotionellen Stress nicht selten
ist. Wo die Klinik dies vermuten oder das
ärztliche Gespür es erahnen lässt, muss
eine Biopsie vorgenommen werden. Diese
ist auch hilfreich um skeptische Eltern zu
überzeugen. Um eine diagnostische Histolo –
gie zu erhalten muss die Gewebsprobe aus
einem frischen Herd genommen werden.
Patientenalter und Psychopathologie sind
trimodal (Tabelle 4).
● Eine erste Altersgrupe ist die der Klein –
kinder zwischen 2 und 5 Jahren, vorwie –
gend Mädchen. Bei den meisten dieser
Fälle handelt es sich um einen einfachen
Tic als Stressentladung, ähnlich dem
Daumennuckeln; er heilt schnell aus.
● Ein zweiter Peak findet sich anfangs Puber-
tät. Weniger als 5% der Kinder leiden an
schweren Psychopathologien, und meist
kann ohne pädopsychiatrische Hilfe Hei –
lung erreicht werden. Meist findet man
schnell einen konkreten Stressfaktor,
wie eine Scheidungssituation oder einen
misslungenen Schulübertritt. Es genügt
Patienten und Eltern die Zusammen –
hänge und mögliche Lösungsansätze
aufzuzeigen und das Tragen einer Kopf –
bedeckung während des ganzen Tages, auch im Schulunterricht, zu verordnen,
um eine Barriere zwischen Finger und
Haare herzustellen. Der Vergleich mit
dem Nägelkauen erlaubt eine bessere
Akzeptanz des Problems bei Patienten
und Familie und eine Entdramatisierung.
Wenn die Zwangshandlung länger als 6
Monate dauert, muss von einem kom
–
plizierten Verlauf ausgegangen werden.
Anzumerken ist, dass die Hypothese ei –
ner Psychopathologie aufgrund einer Im –
mundysregulation nach Streptokokken –
infektion in 10% der Fälle vorgebracht
wurde, weswegen die gezielte Befragung
nach kürzlich durchgemachtem Infekt
nützlich sein könnte
7).
● Bei Jugendlichen und Erwachsenen
muss eine schwere Persönlichkeitsstö-
rung vom Borderline-Typ angenommen
werden. Im Gegensatz zum Kind besteht
hier oft auch die Angst völliger Kahlheit,
was zur zusätzlichen Depression führen
kann. Beste Behandlung ist in dieser
Altersklasse die Verhaltenstherapie.
Psychopharmaka, vorzugsweise Sero –
tonin-Wiederaufnahmehemmer, sind
nur unterstützend sinnvoll. In schweren
Fällen kommt Clomipramin zum Einsatz.
Eine pluridisziplinäre Betreuung ist bei
dieser Altersgruppe wegen Suizidgefahr
dringend empfohlen
8), 9) .
7. Trichotemnomanie
Sie wird als schwere Psychopathologie
beschrieben, mit dem Zwang sich die eige –
nen Haare abzuschneiden. Im Allgemeinen
besteht aber Einigkeit, dass es sich oft nur
um eine «Pseudoerkrankung» handelt, deren
Ziel ist, Aufmerksamkeit zu erregen, oder so –
gar nur um einen manipulativen Akt. Alle mir
vorgestellten Fälle waren Au-pair-Mädchen,
welche in der Gastfamilie oder mit der zuge
–
teilten Arbeit unglücklich waren und vorga –
ben plötzlich an umschriebenem Haarausfall
zu leiden. Einziges Ziel war, schnellstmöglich
das Praktikum abbrechen zu können und
unter medizinischem Vorwand heimkehren
zu können. Die stille ärztliche Anerkennung
einer unerträglich gewordenen Lebenssi –
tuation und die alleinige Verordnung der
Heimkehr erlaubt eine rasche Abheilung
ohne jede weitere Massnahme.
Bei der Untersuchung finden sich einige
wenige nicht entzündliche haarlose Stellen,
mit gut verankerten gleich langen Haar-
stummeln, welche – gemäss Mädchen –
nachwachsende Haare seien. Die Diagnose
stellt sich durch die mikroskopische Unter-
suchung dieser Haare, bzw. ihrer Spitzen.
Diese sind deutlich breit, also nicht spitz,
und damit eindeutig geschnittene Haare
(Abb. 7).
8. Alopecia areata
(kreisrunder Haarausfall)
Sie ist die häufigste Ursache eines erwor-
benen umschriebenen nichtentzündlichen
Haarausfalls. Einer von 100–150 wird einmal
im Leben davon betroffen, ohne Unterschied
in Geschlecht oder Rasse. Im Allgemeinen ist
die Klinik eindeutig und in Tabellen 5 und 6
zusammengefasst; pathognomisch sind die
«Ausrufezeichen-Haare» (Abb. 8).
Gefürchtete diagnostische Falle ist die Kom –
Abbildung 7: Trichotemnomanie. Ein nach-
wachsendes Haar hat immer eine feine
Spitze. Ein geschnittenes Haar wird also
einfach als solches erkannt
Abbildung 8: Alopecia areata. Ausrufezei –
chen-Haare sind pathognomisch, mit
dünner heller Basis in deutlichem Kon –
trast zur dunklen dicken Spitze
Abbildung 9: Typische Histologie in der
Akutphase mit peribulbärem Lymphozy-
ten-Infiltrat als «Bienenschwarm»
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bination mit einer Tinea oder einer Trichotil-
lomanie. In gewissen Fällen wird man eine
Biopsie durchführen, die im akuten Fall ty-
pisch (Abb. 9), im chronischen Fall schwierig
zu beurteilen ist. Der Verlauf ist unvorher-
sehbar. Zwei Drittel der Patienten zeigen nur
wenige Herde (Abb. 10) und heilen spontan
oder unter Behandlung innert 6–24 Monaten
(80–95% der Kinder mit Krankheitsdauer
< 1 Jahr). Ein Drittel der Patienten heilt nicht,
mit ständigen Rezidiven, oder fortschreiten -
der Ausdehnung (retikulär, total, universell),
oder einem einzigen hartnäckigem Herd,
oder Abheilen von Herden bei gleichzeitigem
Auftreten neuer Stellen. Prognostisch un -
günstig sind: Atopie, positive Familienanam -
nese, starke Ausdehnung (AA totalis und
universalis), Nagelbefall, ophiasischer Befall
(5%) und eine rasche Progredienz. Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung, ohne
dass man bis heute die Pathogenese präzise
kennt. Die Ursache bleibt also im Einzelfall
immer spekulativ, wobei «Stress» nur einer
von vielen möglichen Faktoren darstellt.
Drei Hypothesen werden vorgebracht,
wahrscheinlich sind alle für den einen oder
andern Fall zutreffend
10), 11) .
●
Die Hypothese eines «dritten Faktors»
geht von einer Immunreaktion gegen ei -
nen Follikelbestandteil aus wegen Kreuz -
reaktion mit einem externen Antigen,
z. B. einem Infekterreger oder Allergen.
● Die Hypothese einer Immundefizienz
postuliert eine fehlgeleitete humorale
oder zelluläre Immunantwort gegen ei -
nen normalen Follikelbestandteil (Fehl -
funktion oder fehlerhafte Darstellung
des Selbst).
● Die Hypothese einer Follikeldefizienz
nimmt eine fehlerhafte Follikelstruktur
oder -funktion an, gegen welche das nor-
male Immunsystem zu Recht reagiert.
In der Literatur wird zuweilen empfohlen,
bei Kindern keine Behandlung durchzufüh -
ren. Ich teile diese Ansicht nicht. Ein Be-
handlungsversuch soll immer durchgeführt
werden, aber ohne therapeutischen Hyper-
aktivismus. Nicht selten, bei langdauernden
Fällen möchte das Kind vor allem in Ruhe
gelassen und nicht von Arzt zu Arzt geschleppt
werden. Einige therapeutische Grund- sätze seien erwähnt: Die ersten zwei Jahre
ist ein aktives und zuweilen aggressives
Vorgehen gerechtfertigt. Zwischen 2 und
5 Jahren Krankheitsdauer sollte man eher
konservativ sein. Nach 5 Jahren ist von einer
Behandlung abzusehen, da die Follikel dann
meist fibrosiert sind, auch wenn zuweilen
noch Jahre später Heilungen möglich blei
-
ben. Eine Behandlung sollte nicht vor 2–3
Monaten gewechselt werden, da die Induk -
tion des Nachwachsens vor dieser Zeit aus
physiologischen Gründen von vornherein
unmöglich ist.
● Die intraläsionelle Injektion von Korti -
kosteroiden ist die einzig wissenschaft -
lich erwiesen wirksame Therapie. Sie
erfolgt in die kahlen Herde an die Cutis-
Subcutis-Grenze, mit Spritze oder Der-
mojet (z. B. Triamcinolon Acetat 10 mg/
ml, 0.1 ml/cm
2, 1x/Monat, 2–6 Mona -
te, 2.5–5 mg/ml für Augenbrauen) 12).
Eine lokale Hautatrophie am Injektions -
ort kommt in 10% der Fälle vor und ist
reversibel, falls keine Reinjektion an
derselben Stelle erfolgt. Folgende The -
rapien sind in der klinischen Erfahrung
ebenfalls nützlich. Topische potente
Kortikosteroide müssen als Salben,
mindestens als Creme appliziert wer-
den, um eine genügende Penetration
in die Tiefe zu garantieren; Lösungen
werden erst zuletzt verwendet, wenn die
Haare gut nachgewachsen sind.
● Eine irritative Behandlung mit Anth -
ralin kann versucht werden, wenn die
Eltern Kortisol ablehnen (0.5%–3% eine
Stunde pro Tag zur Provokation einer
deutlichen Reizung, oder 0.1%–0.5%
über Nacht). Damit kann in der Praxis
die topische Immuntherapie mit Di -
phenylcyclopropenon teilweise ersetzt
werden, welche juristisch als experimen -
telle Behandlung wegen der Rechtslage
nur in Universitätskliniken durchgeführt
werden kann.
● Die Calcineurin-Inhibitoren Tacrolimus
und Ascomycin sind zwar im Tiermodel
wirksam, aber klinisch unwirksam.
● Minoxidil einmal täglich als 2%-Lösung
für grössere Flächen, als 5% für kleinere
Flächen, ist ein nützliches Adjunkt zu
den Kortikosteroiden, wegen dessen Im -
munmodulation und wegen der Follikel-
Wachstumsstimulation
13).
● Systemische Behandlungen, wie int -
ravenöse oder perorale Steroidpulse,
Methotrexat, oder moderne Biologicals
Abbildung 10: Alopecia areata. Typisch
aber nicht zwingend ist der umschriebe -
ne kreisrunde Haarausfall
Tabelle 5: Alopecia areata – Klinik
Unvermitteltes Auftreten, alle Altersgruppen (auch kongenital)
Einzelne oder multiple Herde (selten: diffus)
Eindeutig umschriebene Herde,
● rundlich oder kreisrund
● nichtentzündlich (selten diskrete Rötung, bei Farbigen: Hyperpigmentation)
● ohne Schuppung (selten leichte Schuppung)
● ohne Infiltration oder Ödem (selten Haut teigig)
● asymptomatisch (selten diskreter Pruritus oder Parästhesie)
● Haut völlig kahl mit erhaltenen Follikelöffnungen
● früh: am Kopfboden gebrochene Haare, Ausrufezeichen-Haare
Tabelle 6: Alopecia areata – Formen
● unilokulär (Kopf, Körper)
● multilokulär (Kopf, Körper) (DD: syphilitische Alopezie)
● retikulär konfluierend
● ophiasisch (gr: «Schlange», okzipital)
● diffus
● diffus mit Befall nur der pigmentierten Haare
● total (ganzer Kopf) oder universell (ganzer Körper) (7%)
● Nagelbefall (Schmirgelpapier-ähnlich, punktartige Vertiefungen («Fingerhut»)
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Vol. 19 No. 1 2008 Fortbildung / Formation continue
erfolgen vorzugsweise in enger Zu-
sammenarbeit mit einem trichologisch
erfahrenen Dermatologen oder einer
dermatologischen Universitätsklinik.
Gegebenenfalls ist eine psychologische
Beratung zur Entwicklung von Coping-
Mechanismen hilfreich. Nicht zu verges -
sen bleibt die Verordnung einer Perücke
oder von Haarteilen, welche die IV
teilweise übernimmt.
Ausblick
Diese Übersicht soll praktische Hinweise zur
Betreuung von Kindern mit der häufigsten
Form des Haarausfalls in der pädiatrischen
Praxis geben. Meist stellt ein Haarausfall
objektiv letztlich nur ein kosmetisches Pro -
blem dar. Weil Haarausfall aber beim Pati -
enten und seinen Angehörigen unbewusste
Assoziationen mit Zerfall und Tod auslöst,
kann er sehr belasten und ängstigen.
Eine rationale Betreuung hilft nicht nur
Eltern und Kindern die Angstgefühle zu neh -
men, aber erlaubt vor allem effiziente Be -
handlungen vorzuschlagen, um permanente
Schäden am Haarfollikel zu vermeiden. Im
Fall diagnostischer Unsicherheiten ist eine
Zusammenarbeit mit einem trichologisch
erfahrenen Hautarzt empfohlen (eine
eventuelle Biopsie wird vorzugsweise in ein
Dermatopathologielabor geschickt, wo die
histologische Beurteilung zur geschulten
klinisch-pathologischen Korrelation durch
einen Dermatologen erfolgt).
Korrespondenz :
Dr. Pierre A. de Viragh
Konsiliararzt Dermatologische
Universitätsklinik CHUV – Lausanne
und Schanzeneggstrasse 1
8002 Zürich
Literatur:
siehe französischer Text
Weitere Informationen
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Pierre A. de Viragh , Service de Dermatologie CHUV, Lausanne