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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser

Wollen Sie sich wirklich mit Sozialpädiatrie auseinandersetzen?

Eigentlich bleibt uns Pädiater:innen nicht viel anderes übrig als sich damit zu beschäftigen. Zu häufig sehen wir Kinder und Jugendliche, deren Gesundheitsprobleme sozial bedingt oder verstärkt sind oder bei denen trotz bestem medizinischem Angebot die Behandlung nicht adäquat durchgeführt werden kann. Und eigentlich wissen wir, dass medizinische Versorgung nur einen Teil der Gesundheit ausmacht: Die epidemiologische Literatur über soziale Determinanten der Gesundheit hat sich über die Jahrzehnte vervielfacht.

Den drastischen Einfluss von sozialen Faktoren auf die Gesundheit habe ich selber in meiner Arbeit als Adoleszentenmedizinerin in Walk-in-Jugendsprechstunden in einer US-amerikanischen 2 Millionen-Grossstadt gesehen: Einerseits, in wohlhabenden Quartieren Jugendliche, die alle erdenklichen positiven Entwicklungsmöglichkeiten, Unterstützung und  Anregungen haben, aber auch Jugendliche, die Zeichen der Wohlstandverwahrlosung oder von Stress zeigen, vermutlich u.a. aufgrund ehrgeiziger Anforderungen ihres Umfeldes, die sie aus verschiedenen Gründen nicht erfüllen können. Andererseits, in unterprivilegierten Quartieren Jugendliche aus dysfunktionalen Familien, die schon früh auf sich alleine gestellt, Drogen konsumieren, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anstecken, aus dem Schulsystem herausfliegen. Im Gegensatz dazu habe ich aber dort auch resiliente Jugendliche erlebt, die in finanziell prekären Verhältnissen aufwachsend sich dennoch gut entwickeln, meist mit der Unterstützung von einem Erwachsenen in ihrem Umfeld, der/die sich vorbehaltslos für den Jugendlichen einsetzt und zur Verfügung steht. Ich habe inhaftierte jugendliche Mörder behandelt und ergriffen versucht, ihre Biographie zu verstehen; ein unheilvolles Zusammenspiel von früher Vernachlässigung durch Eltern, die selber von diversen Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit, Armut, Substanzabhängigkeit usw. betroffen sind, aber vor allem auch ein Versagen des Gesundheitssystems im rechtzeitigen Erkennen und Behandeln von psychischen und entwicklungsbedingten Pathologien und von gesellschaftliche Normen, die Zugang zu Waffen zu einfach ermöglichen, sowie mangelnder Präsenz von sozialen Diensten.

Auch in der Schweiz sehen wir in den Städten und auf dem Land – wenn auch in weniger erheblichem Ausmass – die deutlichen Gesundheitsdiskrepanzen zwischen Familien, die materiell und bildungsmässig unterschiedlich privilegiert sind. Die meisten von uns Pädiater:innen könnten viele Fallgeschichten dazu erzählen.

Doch wie können wir als Pädiater:innen von unserer alltäglichen Arbeitsrealität aus zu Gesundheit und Wohlergehen unserer Patient:innen und deren Familien in ihrer, z.T. stark benachteiligten, Lebenswelt beitragen? 

Mario Gehri steckt dazu in diesem Themenheft den Rahmen. Er zeigt die Prinzipien der Sozialpädiatrie auf und verortet aber auch ein seit Jahren erkanntes, deutliches Defizit in Aus- und Weiterbildung.

Drei Artikel nehmen häufig angetroffene Arbeitsfelder der sozialpädiatrischen Arbeit auf: Jugendliche mit Migrationshintergrund (S. Depallens et al.), Kindsmisshandlung und Kinderschutz (U. Lips et al.) sowie die Situation von Kindern und Jugendliche mit psychisch kranken Eltern (K. Albermann et al.).  Zuletzt werden Ansätze der konkreten sozialpädiatrischen Arbeit aufgezeigt: Der Beitrag der schulärztlichen Dienste in der Sozialpädiatrie (T. Huber Gieseke et al.) sowie Praxisbeispiele aus Winterthur, Zürich, Fribourg und Genf.

Allen Artikeln ist gemeinsam, dass es um eine Synthese von klinischer Praxis und Anwendung von Public Health Prinzipien geht, die ganz konkret im Hier und Jetzt, basierend auf das lokal vorhandene oder/und aufzubauende Netzwerk für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien in ihrem sozialem Umfeld umgesetzt werden müssen.

Zusammengefasst gelten in der Sozialpädiatrie die bekannten Leitsprüche «Think globally – act locally” und “It needs a village to raise a child”.

Ein herzliches Dankeschön geht an alle Autor:innen, die meist in Nachtarbeit ihre Artikel erarbeitet haben und sich gewohnt sind, dass sie in der täglichen Arbeit kein Dankeschön von ihren Patient:innen hören.

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Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autorin hat keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr. med.  Susanne Stronski Huwiler Gesundheitsdienst Stadt Bern und Abteilung Neuropädiatrie, Entwicklung und Rehabilitation, Inselspital Bern