Fachzeitschrift > Betreuung des kindlichen Schädelhirntraumas 01.07.2004 Nicolas Lutz Fachzeitschrift: Paediatrica 4/2004 PDF 01.07.2004 Im Spitalalltag stellt das Schädelhirntrauma (SHT) des Kindes einen der häufigsten Gründe für Konsultationen dar. 43 Vol. 15 No. 4 2004 Fortbildung / Formation continue Einführung Im Spitalalltag stellt das Schädelhirntrauma (SHT) des Kindes einen der häufigsten Grün- de für Konsultationen dar. Paradoxerweise ist die Betreuung der schweren SHT klar fest- gelegt, jene der leichteren SHT jedoch immer noch Grund für erbitterte Auseinanderset- zungen, sowohl die radiologische Akutab- klärung (Schädelröntgen? Schädel-CT?) als auch Art und Dauer der Überwachung dieser Kinder (im Spital? zuhause?) betreffend. Noch komplizierter wird die Situation da- durch, dass die Betreuung dieser SHT von den Besonderheiten jeder Altersklasse ab- hängt (Unfallmechanismus, Anatomie, Pa- thophysiologie, neurologische Untersu- chung). Es schien uns deshalb angebracht, das Thema aufzugreifen unter besonderer Berücksichtigung der leichten SHT. Wie Klauber schon 1989 hervorgehoben hat, ist die im Verlaufe der letzten Jahre beobachtete Verminderung der Sterberate der kindlichen SHT nicht so sehr auf die verbesserte Be- treuung der schweren Fälle zurückzuführen, sondern vielmehr auf die Vorbeugung einer Verschlimmerung der leichten oder mittel- schweren SHT 13 ). Wir werden auch versuchen, um die anfängliche Betreuung der Kinder mit einem SHT zu erleichtern, ein Schema zur Entscheidungsfindungauszuarbeiten, gleich- zeitig aber daran erinnern, dass kein Proto- koll einheitlich auf alle Patienten angewen- det werden oder das klinische Urteil ersetzen kann. Einteilung – Definition Man spricht von einfachem Schädeltrauma (EST) im Falle eines Schädeltraumas ohne Bewusstseinsverlust, Amnesie, Brechreiz, Erbrechen oder Kopfschmerzen sowie nor- malem Bewusstseinszustand und normaler Zusammenarbeit. Die Anamnese sollte im übrigen keine schwerwiegenden mechani- schen Kriterien aufdecken 24) (siehe Tabel- le 1).Ein Schädeltrauma mit indirekten Schwere- zeichen ist ein Schädeltrauma mit einem Glasgow-Score von 14 oder 15 und den in Ta – belle 2dargestellten Elementen, mit oder ohne assoziierte Kriterien einer schwerwie- genden mechanischen Einwirkung. Beim Schädelhirntrauma (SHT) kommt zum Schädeltrauma mindestens ein Bewusst- seinsverlust oder eine unfallbezogeneAm- nesie hinzu. Beim Erwachsenen benutzt man gerne eine auf dem initialen Glasgow Coma Scale (GCS) beruhende Einteilung 17 ). Ein schweres SHT wird durch ein GCS 3 bis 8 de- finiert, ein mittleres SHT durch GCS 9 bis 12 und ein leichtes SHT durch einen GCS 13 bis 15. Diese Einteilung kann, mit einigen An- passungen, ebenfalls bei Kindern ange- wandt werden. Verschiedene Autoren, und auch die Schreibenden, finden jedoch, dass ein initialer GCS 13 eher als mittelschweres denn als leichtes SHT betrachtet werden soll- te 4). Diese Unterschiede bereits in der Defi- nition des leichten SHT tragen natürlich nicht zur Vereinfachung der Auswertung der dies- bezüglichen Literaturangaben bei. Epidemiologie Unabhängig von der Grösse des Spitals, in welchem SHT-Patienten untersucht wer- den, stellt man fest, dass die leichten SHT den Grossteil der Fälle darstellen, beim Er- wachsenen und noch ausgeprägter beim Kind 8), 16) . So wurden in einer in 41 amerika- nischen Spitälern während 2 Jahren durch- geführten prospektiven Longitudinalstudie 16 ), welche 1705 Kinder und 5614 Erwachsene miteinbezog, folgende Prozentzahlen fest- gestellt (siehe Tabelle 3). Die Ätiologie der kindlichen SHT und der be- obachteten Läsionen variieren je nach Al- tersklasse. Beim Säugling sind 80% der SHT Folge eines Sturzes, meist in der häuslichen Umgebung (Wickeltisch, Arme der Eltern, Möbel, Tragkorb). Die übrigen Ursachen um- fassen die Strassenunfälle und natürlich die Kindsmisshandlung, die 2–3% der Fälle von SHT darstellen und auf deren Diagnose in dieser Altersklasse besonders geachtet wer- den muss 6), 8), 18) . Beim grösseren Kind sind die wichtigsten Ursachen schwerer SHT die Strassenunfälle (in abnehmender Häufigkeit Fussgänger, Velofahrer, Autoinsasse) und die Stürze aus grosser Höhe 2), 5), 6), 8), 18) . In den meis- ten Serien beobachtet man eine Überzahl an Knaben 2), 5), 8), 18) , ohne dass Morbidität und Betreuung des kindlichen Schädelhirntraumas Olivier Vernet, Nicolas Lutz, Bénédict Rilliet, Lausanne und Genève. Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds •Aus dem Fahrzeug herausgeschleudert •Tod eines Mitfahrers im selben Fahrzeug •Sturz aus über 5 Meter Höhe oder mehr als 3-facher Grösse des Kindes •Kind in einem Fahrzeug, das sich mehrmals überschlagen hat •Über 20 Min. dauernde Befreiung bei Einklemmung im Fahrzeug •Fahrzeug oder Zusammenstoss zwischen Fahrzeugen mit hoher Geschwindigkeit •Aufprallgeschwindigkeit > 60 km/Std. •Verformung des Fahrzeuges > 50 cm •Aufprall mit Einbruch in das Abteil > 25 cm •Zusammenstoss Fahrzeug/Fussgänger oder Fahrzeug/Velofahrer mit einer Aufprallgeschwindigkeit von > 7 km/Std. •Fussgänger durch den Aufprall fortge- schleudert oder durch Fahrzeug erdrückt •Unfall mit Mofa bei > 30 km/Std. oder mit Wegschleudern des Lenkers •Überfall mit einem stumpfen Gegenstand Tabelle 1: Kriterien schwerwiegender mechanischer Einwirkung •Bewusstseinsverlust (< 5 Min.) •Unfallbezogene Amnesie •Erbrechen •Starke und zunehmende Kopfschmerzen •Schläfrigkeit oder neurovegetative Zeichen (Blässe, Cyanose, Lethargie) •Klinische Zeichen einer Schädelfraktur (Battle-Zeichen, Monokel- oder Brillen- Hämatom, Impressions-Fraktur, Rhino- oder Otorrhöe usw.) •Fokale neurologische Ausfälle Tabelle 2: Indirekte Schwerezeichen Tabelle 3: Inzidenz des SHT je nach Schweregrad. Schweregrad des SHT Erwachsene (über 15 Jahre) Kinder (0-14 Jahre) Schweres SHT (GCS 3–8) 12,1 % 5,6 % Mittelschweres SHT (GCS 9–12) 9,3 % 8,1 % Leichtes SHT (GCS 13–15) 78,6 % 86,3 % Fortbildung / Formation continue 44 Vol. 15 No. 4 2004 Mortalität dieser SHT im Allgemeinen Ge- schlechtsunterschiede aufweisen. Ganz allgemein können die bei erwachsenen Opfern von SHT erworbenen Erfahrungen nicht auf das Kind übertragen werden. Kin- der sind SHT mehr ausgesetzt, da das Ver- hältnis zwischen Kopf- und Körpervolumen grösser ist. Dazu kommt, dass das Gehirn weniger myelinisiert und damit vermehrt Ver- letzungen ausgesetzt ist, auch ist die Schä- delkalotte dünner. Beim Neugeborenen und beim Säugling sind die das Gehirn umgeben- den Subarachnoidalräume weiter, Hirnverletz- ungen werden durch Erschütterung im innern der Schädelhöhle begünstigt. Die Schädelka- lotte bricht auch leichter und bei Verletzung der dura mater unter der Fraktur kann letztere beim Säugling an Ausmass zunehmen. Klein- kinder können zudem relativ grosse Mengen Blut durch Skalpverletzungen oder subgale- ale Hämatome verlieren, was das Risiko eines hämorrhagischen Schocks in sich birgt. Die kindliche Mortalität nach SHT zeigt in der Literatur je nach Land und natürlich je nach Zeit in welcher die Studie durchgeführt wur- de, Unterschiede. In den USA wurden Zahlen von bis zu 10 Todesfällen auf 100 000 Ein- wohner/Jahr erhoben 14 )eine geringere Inzi- denz (5,3/100 000/Jahr) wurde im Norden Englands zwischen 1979 und 1986 festge-stellt 23). Was die Schweiz anbetrifft, sei die Studie des Universitätsspitals Genf erwähnt, welche den Zeitraum von 1969 bis 1990 um- fasst und einen Abfall der kindlichen Todes- fälle nach SHT von 10,4/100 000/Jahr auf 3,5/100000/Jahr zwischen Beginn und Ende der Studie aufzeigt 3). Die Inzidenz der Spita- laufnahmen für alle kindlichen SHT beträgt 368/100 000/Jahr und jene der schweren SHT 15,5/100 000/Jahr, was nochmals das Überwiegen der leichten SHT unterstreicht. Gemäss dem amerikanischen Trauma-Regi- ster haben 2,8% der verletzten Kinder ein iso- liertes SHT und 36% ein SHT in Verbindung mit extracranialen Verletzungen 6). Klinische Beurteilung Bevor mit einer vollständigen Anamnese und einer neurologischen Untersuchung begon- nen wird, müssen Lungen- und Kreislauf- funktionen beurteilt und ihre Werte in den Normbereich gebracht und erhalten werden, um das Risiko sekundärer Hirnschäden sys- temischen Ursprungszu verhindern. Durch die Anamnese versuchen wir die Umstände des SHT zu klären (Sturz, Stras- senunfall, zusammenhängende Beschrei- bung), Zeitpunkt des Unfalls, sofortiger Be- wusstseinsverlust, Dauer desselben und/oder Amnesie für den Unfall (antero- oder re- trograd), was semiologisch von gleicher Wer- tigkeit ist, klinischer Verlauf seit dem Unfall, unmittelbares Auftreten von Krämpfen? Später auftretend? Längerdauernd? Auftre- ten und Häufigkeit von Erbrechen, Drogen- konsum, Medikamente? Es interessieren uns ebenfalls der körperliche Zustand vor dem Unfall sowie Einzelheiten aus der medizi- nisch-chirurgischen Vorgeschichte (Ventil? Gerinnungsstörung? vorbestehende Schädel- Hirnkrankheiten?). All diese Elemente sind wichtig, da sie einen gewissen prognosti- schen Wert haben. So konnten z.B. Ver- kehrsunfälle, Stürze aus grösserer Höhe und Bewusstseinsverlust von über 5 Minuten mit einer erhöhten Inzidenz an Hirnverletzungen im CT korreliert werden 14), 27) . Es wird eine körperliche Untersuchung durch- geführt zur Messung der Vitalfunktionen und insbesondere auf der Suche nach Zeichen ei- ner Schädelbasisfraktur: Hämatotympanon, periorbitäre (Monokel-, Brillen-) und/oder retroaurikuläre Hämatome (Battle-Zeichen), ImpressionsfrakturenOto-, Rhinorrhöe. Die Untersuchung des Augenhintergrundes auf der Suche nach Hinweisen auf eine intracra- niale Hypertension ist in der akuten Phase ei- nes SHT nicht von grundlegender Bedeutung. Sie ist oft schwierig durchzuführen ohne pharmakologische Dilatation (was selbstver- ständlich absolut untersagt ist, wenn die Pu- pillenfunktion regelmässig beurteilt werden muss, wie dies bei der Betreuung eines SHT der Fall ist). Die Untersuchung des Augen- hintergrundes ist hingegen wesentlich bei Verdacht auf ein Subduralhämatom beim Säugling. In der Tat muss in dieser Alterska- tegorie die Assoziation eines Subduralhä- matoms mit Blutungen im Augenhintergrund unbedingt an die Möglichkeit einer nicht un- fallbedingten Ursache denken lassen, insbe- sondere wenn zusätzlich der Unfallhergang unklar ist oder eine Makrocephalie und epi- leptische Anfälle beobachtet werden. Die Beurteilung des Bewusstseinszustandes durch den Glasgow Coma Scale ist beim Er- wachsenen seit über 20 Jahren allgemein an- erkannt. Er hat seinen Nutzen bei der Erst- untersuchung und der weiteren Beobachtung des unfallbedingten Hirnschadens bewiesen. Dieser Score stösst jedoch beim Kleinkind an gewisse Grenzen, weshalb er an das Alter der untersuchten Patienten angepasst wurde. Es wurden verschiedene Varianten von Child- ren’s Coma Scale (CCS) vorgeschlagen 8), 25) . Eine davon ist in Tabelle 4wiedergegeben: Tabelle 4: Glasgow Coma Scale zur pädiatrischen Anwendung. Augenöffnen > 1 Jahr < 1 Jahr 4 spontan spontan 3 auf Anruf auf Schreien 2 auf Schmerz auf Schmerz 1 fehlend fehlend Beste motorische Antwort > 1 Jahr < 1 Jahr 6 führt Befehle aus Spontanbewegungen 5 gut orientierte Reaktion gut orientierte Reaktion 4 zurückziehen auf Schmerz zurückziehen auf Schmerz 3 Flexion auf Schmerz Flexion auf Schmerz 2 Extension auf Schmerz Extension auf Schmerz 1 fehlend fehlend Beste verbale Antwort > 5 Jahren > 1 Jahr < 1 Jahr 5 orientiert unverständliche Worte Plappern 4 verwirrt unverständliche Worte Weinen, kann beruhigt werden 3 unzusammenhängende andauerndes Weinen, andauerndes Weinen, Worte kann nicht beruhigt werden kann nicht beruhigt werden 2 unverständlich stöhnen stöhnen 1 fehlend fehlend fehlend 45 Vol. 15 No. 4 2004 Fortbildung / Formation continue Betreuung des kindlichen SHT Wie zu Beginn dieser Arbeit erwähnt, bewirkt die Betreuung schwerer SHT (GCS oder CCS 3 bis 7) weniger Meinungsverschiedenheiten als jene der leichteren SHT. Die schweren SHT beinhalten eine intensive Betreuung mit Intu- bation und Beatmung, ein rund um die Uhr ver- fügbares neurochirurgisches Team und na- türlich die Möglichkeit, notfallmässig ein CT durchführen zu können. Die Betreuung mittel- schwerer SHT (GCS oder CCS 8) –13) ) wird eben- falls stationär sein auf der Intensiv- oder Bet- tenstation, je nach klinischem Verlauf und dem Resultat des CT, welches bei Aufnahme dieser Patienten immer durchgeführt werden muss. Es ist eher die Betreuung der leichten SHT, die zu Diskussionen führt. Diese Ausei- nandersetzungen wurden durch Studien 7), 20) hervorgerufen, welche eine Inzidenz von im CT sichtbaren Läsionen von 12% bis 53% bei als leicht beurteilten SHT (GCS/CCS 13 bis 15 in dieser Studie) erwähnen (ohne Angaben dazu, welcher Anteil dieser Läsionen neuro- chirurgischer Natur war). In einer anderen, 1995 publizierten Arbeit wird von einer Inzi- denz von 18% pathologischer CT-Befunde bei einem Kollektiv von 257 Kindern berichtet, welche ein leichtes SHT erlitten 12 ). In dieser Serie wurde eine Inzidenz von 7% Epidural- und 5% Subduralhämatomen festgestellt. Noch beunruhigender war die Tatsache, dass 3% dieser Patienten im CT intracraniale Lä- sionen aufwiesen, dabei klinisch asympto- matisch waren und ihr Röntgenbild keine Schädelfraktur zeigte! Man findet dasselbe beunruhigende Verhältnis in einer Serie von 429 Kindern, welche Opfer eines leichten SHT mit Kriterien schwerwiegender mecha- nischer Einwirkung waren und bei welchen ein routinemässiges CT durchgeführt wurde. Diese Studie zeigte14% intracraniale Läsio- nen, d.h. 62 Patienten auf 429, wovon vier ei- ner Operation bedurften 24). Der Umfang des Problems wird gut in einem 1993 erschienenen Artikel wiedergegeben, in welchem, wenn auch wahrscheinlich durch eine gewisse Selektion verfälscht, berichtet wird, dass aus einer Serie von 791 durch- schnittlich 5,5 Jahre alten Kindern mit leich- tem bis mittelschwerem SHT 8,5% an intracra- nialen Verletzungen litten und eines neurochi- rurgischen Eingriffes bedurften 8). Die Inzidenz der chirurgischen Eingriffe korrelierte natür- lich umgekehrt zum GCS (siehe Tabelle 5). In dieser Serie, die berechtigterweise eine ge- wisse Besorgnis hervorruft, wird berichtet, dass bei der Erstuntersuchung im Spital 739Patienten munter waren. Nicht weniger als 99 dieser 739 Patienten (13,4%) mussten operiert werden, davon 9 (9,1%) wegen eines Subdural- hämatoms, 35 (35,4%) wegen eines Epidural- hämatoms, 44 (44,4%) wegen einer Impres- sionsfrakturund 11 (11,1%) wegen verschie- dener anderer Verletzungen (Skalpelverletz- ungen usw.). Aufgrund dieser Zahlen empfeh- len die Autoren, bei allen Kindern, welche ein SHT, selbst leichter Natur, erlitten haben, ein Schädek-CT durchzuführen und sie nur nach Hause zu entlassen, wenn neurologische Un- tersuchung und CT sich als normal erweisen. Es handelt sich dabei sicherlich um eine sehr defensive, vorsichtige Haltung. Sie il- lustriert jedoch vorzüglich die Problematik des leichten kindlichen SHT. Im vorliegen-den Fall liegt die Schwierigkeit der Be- treuung dieser Art SHT darin, die Patienten, bei welchen das Risiko einer operations- bedürftigen intracranialen Läsion besteht, zu identifizieren und das bestehende Risi- ko abzuwägen gegen die Nachteile relativ Tabelle 5: Inzidenz der intracranialen Läsionen (gemäss Referenz 8). GCS/CCS Epidural- Subdural- % hämatom hämatom 15 (n=549) 28 11 7,1 14 (n=124) 7 5 9,7 13 (n=118) 12 4 13,6 Total n=791 47 20 8,5 Tabelle 6: Leichte kindliche SHT – Kinder 2 bis 16 Jahre – Entscheidungsalgorithmus (gemäss Referenzen 1 und 11) JA JA JA JA JA JAJA NEIN NEINNEINNEIN Patient 2–16-jährig mit leichtem SHT (GCS 14–15) – multiples Trauma ODER – bekannte oder vermutete zervikale Verletzung ODER – Gerinnungsstörung ODER – Verdacht auf Kindsmisshandlung ODER – neurochirurgische Vorgeschichte (Ventrikeldrainage…)– verlässt diesen Algorithmus – spezifische Betreuung – im allgemeinen CT – klinische Überwachung – im Prinzip, mind. 6 Std. Neurochirurgische Betreuung: – Klinische Überwachung? – CT wiederholen? – Operation?– klinisch unverändert oder Verschlimmerung: – zunehmende Kopfschmerzen – zunehmende Schläfrigkeit – > 3x Erbrechen – fokale neurologische Symptome ODER – Fraktursymptome (Battle, Monokel, Impression) klinische Besserung Klinische Überwachung CT normalSchädel-CT CT abnormal – kurzer Bewusstseinsverlust (1-5 Min.) ODER – Amnesie für Unfallhergang ODER – Erbrechen ODER – Kopfschmerzen ODER – Somnolenz ODER – neurovegetative Symptome (Cyanose, Blässe, Lethargie) – Entlassung nach Hause möglich? – Überwachung adäquat? – Verantwortliche Person zuverlässig? – Rasche Rückkehr ins Spital möglich? (Geographische Entfernung, meteorologische Umstände usw.) – Entlassung nach Hause nach Besprechung mit Instruktionsblatt Fortbildung / Formation continue 46 Vol. 15 No. 4 2004 teurer und oft negativ ausfallender radio- logischer Untersuchungen, welche zudem potenziell Nebenwirkungen aufweisen (Be- strahlung, Notwendigkeit einer Sedierung bei Kleinkindern) und je nach Spital nicht immer verfügbar sind. Es gab Zeiten, da wurde bei SHT die routine- mässige Durchführung eines Schädelrönt- genbildes empfohlen, im Wissen darum, dass beim Bestehen eines Schädelbruches das Ri- siko einer Verletzung des Schädelinhaltes er- höht ist 27). Man musste jedoch bald zurück- stecken, als man feststellte, dass das Fehlen einer Fraktur im Röntgenbild das Bestehen intracranialer Läsionen keineswegs aus- schloss, selbst bei normalem Bewusstseins- zustand und normaler neurologischer Unter- suchung 8)–10), 15), 27), 28) . Anders ausgedrückt, hat das Fehlen eines Schädelbruches einen ma- geren negativ prädiktiven Wert bezüglich einer intracranialen Läsion 24). Zudem wurde be- richtet, dass bis 25% der Schädelfrakturen un- bemerkt blieben, wenn die Röntgenbilder nicht durch erfahrene Ärzte untersucht wurden 15 ). Schliesslich argumentieren die Befürworter des CT, dass die Entdeckung einer Fraktur im Schädelröntgenbild schliesslich doch zur Durchführung eines CT führt. Heutzutage ist sich die Mehrzahl der Autoren darin einig, dass die Durchführung von Schädelröntgenbil- dern im Rahmen der Frühabklärung eines SHT einen Verlust an Zeit und Mitteln bedeutet und das CT bevorzugt werden soll 28), umso mehr, als bei einem leichten SHT und normalem CT das Risiko einer nachträglichen Verschlech- terung praktisch Null ist, was eine sichere Ent- lassung nach Hause erlaubt 1), 10) . Die einzige noch anerkannte Indikation für Schädelröntgenbilder bei leichten SHT ist die Möglichkeit einer sich ausdehnenden Frak- tur, wie dies bei 0,3 bis 0,6% der Schädel- brüche beobachtet werden kann und fast ausschliesslich bei Kindern unter 3 Jahren mit mindestens 3-4 mm weiten Frakturen vorkommt 26). In den letzten Jahren haben zahlreiche Stu- dien versucht, anamnestische, klinische oder paraklinische prädiktive Kriterien einer intracranialen Läsion zu identifizieren. Ver- schiedene Variablen wie Bewusstseinsver- lust, neurologische Ausfälle 5), Amnesie, post- traumatische Krampfanfälle, assoziierte extracraniale Verletzungen 5), zunehmende Kopfschmerzen oder Erbrechen wurden ein- bezogen, ohne dass ein einzelnes oder eine Kombination dieser Elemente zuverlässig dasBestehen einer Läsion im CT vorauszusagen erlaubte 8) ,12), 20), 24) . Erwähnenswert ist die Ar- beit von Schunk, der keinem einzigen der Faktoren Bewusstseinsverlust, Erbrechen, Kopfschmerzen ,Verwirrtheit oder Amnesie ei- nen prädiktiven Wert einer intracranialen Lä- sion zuordnen konnte 21). Ebenfalls zeigte eine neuere prospektive Serie den schlech- ten prädiktiven Wert der Verschlechterung des geistigen Zustandes, des Bewusstseins- verlustes zum Zeitpunkt des Unfalles, einer Schädelfraktur und assoziierter extracrania- ler Verletzungen auf 28). Im gleichen Sinne er- laubte eine retrospektive Studie 24)den Rück- schluss, dass ein Untersucher, der sich le- diglich auf klinische Faktoren zur Verschrei- bung eines Schädel-CT verliess, im Mittel eineernsthafte intracraniale Verletzung pro150 Pa- tienten mit leichtem SHT verpassen würde! Die Autoren, denen es nicht gelang, klinische Faktoren zu identifizieren, die eine zuver- lässige Voraussage intracranialer Läsionen bei leichten SHT erlauben, haben logischer- weise eine sehr liberale Politik bei der An- wendung des CT verfochten, um rasch den kleinen Prozentsatz an Kindern zu erkennen, welche, wenn nicht einer Operation, so doch einer engen Überwachung bedürfen. Diese Haltung wurde noch durch die Beobachtung verstärkt, dass eine Verzögerung der Diagnose einer intracranialen Läsion mit einer Erhöhung der Mortalität und der Inzidenz an neurolo- gischen Ausfällen einhergeht 4), 20), 24) . Auch wirtschaftliche Argumente für die systema- Tabelle 7: Leichte kindliche SHT – Kinder unter 2 Jahren – Entscheidungsalgorithmus (gemäss Referenzen 11 und 22) JA JA NEIN NEIN NEIN NEIN Patient 0 bis 2 Jahre mit leichtem SHT (CCS 14–15) – verlässt diesen Algorithmus– spezifische Betreuung – im allgemeinen CT Neurochirurgische Betreuung: – Klinische Überwachung? – CT wiederholen? – Operation? CT abnormal Schädel-CT Fraktur Schädel- röntgen normales Röntgen lineare Fraktur Schädel- röntgen grosses Skalphämatom? normales Röntgen – Entlassung nach Hause mit InstruktionsblattCT normal klinische Ver- schlechterung klinische Überwachung mind. 6 Std. Klinische Besserung – geburtshilfliches Trauma ODER – penetrierende Verletzung ODER – vorbestehende neurologische Krankheit ODER – Gerinnungsstörung ODER – Ventrikeldrainage ODER – multiples Trauma ODER – Kindsmisshandlung HOHES RISIKO, wenn: – progrediente Somnolenz – multiple fokale neurologische Symptome – Reizbarkeit – Fraktursymptome (Battle, Monokel, Impression) – Krämpfe – vorgewölbte Fontanelle – Erbrechen (> 5x oder > 6 Std. nach dem SHT) – Bewusstseinsverlust > 1 Minute MITTLERES RISIKO, wenn: – Bewusstseinsverlust < 1 Minute – 3–4x Erbrechen – Anamnese initialer Lethargie oder Reizbarkeit – auffälliges Verhalten nach Angabe der Eltern – Alter < 1 Jahr – energiereiches Trauma – Fall auf harte Unterlage – temporo-parietales Hämatom oder ausgeprägtes Skalphämatom – SHT ohne Zeugen – unklare Anamnese, Verdacht auf Misshandlung NIEDRIGES RISIKO, wenn: – energieschwaches Trauma – 2 Std. nach dem Trauma asymptomatisch – Alter > 1 Jahr – Entlassung nach Hause möglich? – Überwachung adäquat? – Verantwortliche Person zuverlässig ? – Rasche Rückkehr ins Spital möglich? (Geographische Entfernung, metereologische Umstände usw.) NEIN 47 Vol. 15 No. 4 2004 Fortbildung / Formation continue tische Anwendung des CT wurden angeführt, erlaubt doch ein negativer Befund, den Pa- tienten rasch und sicher nach Hause zu ent- lassen und so die Kosten einer stationären Betreuung oder der Behandlung einer an- fänglich unbemerkten intracranialen Läsion zu sparen 24). Es muss aber auch eine kürzlich erschiene- ne Arbeit erwähnt werden, welche aufzeigt, dass das gleichzeitige Fehlen von Be- wusstseinstrübung, klinischen Zeichen einer Schädelfraktur, Erbrechen, Kopfschmerzen und eines Skalphämatoms einen guten ne- gativ prädiktiven Wert für intracraniale Lä- sionen im CT hat 19 ). Es wurde allerdings nicht bei allen Patienten dieser Serie bei Spital- aufnahme ein Routine-CT durchgeführt. Es überrascht also nicht, dass in 2 neueren Übersichtsarbeiten der American Academy of Pediatrics das Fehlen eines Konsens in der Betreuung des leichten SHT hervorgehoben wird 1), 10) . Eine dieser Metaanalysen der zurzeit verfügbaren Literatur kommt zum Schluss, dass keine genügenden wissenschaftlichen Grundlagen bestehen, um den Kriterien einer «evidence based medicine» gehorchende Empfehlungen zur Betreuung des leichten SHT beim Kind zu machen 10 ). Hat diese Stu- die nicht erlaubt, eine exakte Prävalenz der intracranialen Läsionen bei leichtem SHT fest- zuhalten, so liefert sie uns trotzdem einige interessante Daten. Insbesondere erfahren wir, dass bei einem Kind mit einem leichten SHT (weder Bewusstseinsverlust noch Am- nesie, Kopfschmerzen, oder Erbrechen, GCS 15) das Risiko, eine klinisch signifikan- te intracraniale Läsion aufzuweisen, unter 1% ist. Es wurde in dieser Arbeit ebenfalls ge- schätzt, dass bei einem Kind mit einem leich- ten SHT und Bewusstseinsverlust, Amnesie, Erbrechen oder einem Krampfanfall das Ri- siko einer intracranialen Läsion im CT 1% bis 5% ist. Diese Metaanalyse bewertete den An- teil Kinder mit einem abnormalen CT, welche einen neurochirurgischen Eingriff benötigten (inklusive einlegen eines intracranialen Druck- messers) auf 20% bis 80%. Auf der Basis all dieser Tatsachen kann das in Tabelle 6 und 7dargestellte Vorgehen vorge- schlagen werden. Es muss jedoch hervorge- hoben werden, dass aufgrund der vielen, in der Literatur zu diesem Thema gefundenen, sich widersprechenden Tatsachen es sich hier nur um Entscheidungshilfen handeln kann, wel- che nie das klinische Urteil ersetzen können.Es wird allgemein anerkannt, dass die grosse Mehrzahl der vitalen Komplikationen inner- halb der ersten 24 Stunden nach dem SHT auftreten. Aufgrund dieser Tatsache hat die American Academy of Pediatrics bei der Em- pfehlung einer Spitalüberwachung vorge- schlagen, dass diese mindestens 6 Stunden dauere. Wir haben diese Dauer in unserem Al- gorithmus übernommen. Es versteht sich von selbst, dass diese Beobachtungsdauer durch nicht medizinische Faktoren beeinflusst wer- den kann wie Aufnahmezeit des Patienten (man wird kaum ein Kind nachts nach Hause schicken), Zuverlässigkeit und Angstgefühle der Eltern, Entfernung des Wohnortes usw. Wenn der Patient nach Hause entlassen wird, empfiehlt man eine Überwachung während mindestens einem Tag. Dazu werden der ver- antwortlichen Person klare und womöglichschriftliche Angaben mitgegeben (siehe Ta- belle 8) mit genauer Aufzählung der Umstän- de, welche einer erneuten Spitalkonsultation bedürfen. Falls die für das Kind verantwortli- che Person wenig zuverlässig erscheint (Suchtmittel…) oder unabkömmlich ist, oder wenn sich der Zugang zum Spital als proble- matisch erweist, wird man die Überwachung eher im Spital durchführen. Dank Wir danken Frau Christine Bovard, Krankenschwester auf der Notfallstation des Kinderspitals Genf, für die Ausar- beitung des Empfehlungsblattes an die Eltern. Korrespondenzadresse: siehe französischer Text Referenzen siehe französischer Text Tabelle 8: Beispiel von Ratschlägen und Empfehlungen nach SHT beim Kind. (angewendet an der pädiatrischen und neurochirurgischen Abteilung des Universitätsspitals Genf) Ihr Kind hat einen Schlag gegen den Kopf erlitten. Die ärztliche Untersuchung und die Be- funde während der Beobachtungszeit ergeben, dass sein Zustand die Rückkehr nach Hau- se erlaubt. Die Möglichkeit einer (seltenen) Spätkomplikation kann aber nicht ganz aus- geschlossen werden. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass eine Überwachung während 24 Stunden nötig ist. Diese kann zuhause erfolgen. Wir geben Ihnen dazu einige Ratschläge •Falls Ihr Kind Kopfschmerzen hat, geben Sie ihm als Schmerzmittel Paracetamol (Dafalgan, Tylenol ® etc.). Dosis: ……… Geben Sie kein Brufen®, Ponstan ®, Aspirin ®oder Aspegic ®. •Ihr Kind soll 24 bis 48 Stunden ruhen. Lesen, Zeichnen, Gesellschaftsspiele, fernsehen sind erlaubt. •Falls es an die Sonne muss, soll es Sonnenbrille und Mütze tragen. •Von heftigen Bewegungen und Kampfsportarten ist während 2 Wochen abzuraten. •Geben Sie ihm während 24 Stunden leichte Kost: Getränke, Bouillon, Milch, Jogurt, Müesli. Es ist möglich, dass Ihr Kind erbrechen muss; wir tolerieren höchstens 3-maliges Erbrechen. •Zögern Sie nicht, während der 2 Wochen, die dem Unfall folgen, Ihren Kinderarzt an- zurufen, falls Sie weitere Informationen brauchen. …und Empfehlungen: •Rufen Sie die Notfallstation an, falls Ihr Kind eines der folgenden Symptome aufweist: •Andauernde, zunehmende Kopfschmerzen, die trotz Paracetamol nicht nachlassen. •Ungewöhnliche Schläfrigkeit •Schwindel •Erbrechen mehr als 6 Stunden nach dem Schädeltrauma •Mehr als 3-maliges Erbrechen •Ist reizbar, weint vermehrt und kann nicht beruhigt werden •Bringen Sie Ihr Kind unverzüglich zur Notfallstation, falls es eines der folgenden Symp- tome aufweist: •Krämpfe •Seh- oder Wortfindungsstörungen •Schwäche in einem Bein oder Arm •Ungewöhnliches Verhalten •Verwechselt Namen oder Orte •Kann nicht geweckt werden, antwortet nicht auf Anruf •Zögernder Gang, Gleichgewichtsstörungen •Blutung oder klarer Ausfluss aus Nase oder Ohr Weitere Informationen Autoren/Autorinnen Nicolas Lutz
Pneumologie | vor 2 Tagen Schweizer Empfehlungen von obstruktiven Atemwegserkrankungen bei Kleinkindern im Vorschulalter von 1 bis 4 Jahren Nicolas Regamey