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Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom – Ein Blick auf den klinischen Alltag aus der Perspektive des Praxisvertreters und einer Spezialambulanz

Institution:
Dr. med. Mark Brotzmann
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Peter Weber
Universitätskinderspital beider Basel
Spitalstrasse 31, 4056 Basel

Dr. med. Ramon Möller
Kinderarztpraxis, Schwerpunktpraxis Entwicklungspädiatrie
Oberemattstrasse 26, 4133 Pratteln

Ramon Möller ist Praxispädiater und Entwicklungspädiater in Pratteln (BL), Mark Brotzmann ist Oberarzt der Ambulanz für Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Die Frage wurden durch Peter Weber zusammengestellt.

Im folgenden Beitrag wollen wir versuchen, die Umsetzung und Praxistauglichkeit diverser Informationen und Guidelines 1) 2) zum Thema Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) im Dialog zwischen einem Praxisvertreter mit einer entwicklungspädiatrischen Schwerpunktpraxis (Ramon Möller) und einem Vertreter einer universitären Spezialambulanz (Mark Brotzmann) zu vergleichen.

Frage 1 Zuweisungswege:

Das ADHS ist eine der medial am häufigsten diskutierten Entwicklungsstörungen. Auch in der Fachpresse findet sich ein kontinuierlicher Anstieg der Publikationen zum Thema (pubmed-Abfrage vom 30.10.2018 mit Stichwort ADHD 1997: 401 Zitate, 2007: 1657 Zitate; 2017: 2793 Zitate), obgleich die Arbeit von Polanzcyk u.a. (2014) 3) gezeigt hat, dass die Prävalenz über die letzten 30 Jahre konstant ist. Wie, warum und in welcher Altersgruppe erfolgt die Zuweisung mit der Verdachtsdiagnose eines ADHS? Bei wieviel Prozent der mit dieser Verdachtsdiagnose zugewiesenen Kinder stellt ihr letztlich die Diagnose? Was sind die wesentlichen klinisch vorkommenden Differentialdiagnosen?

Ramon Möller: Nach der Neueröffnung meiner Praxis in einer multikulturellen Vorortsgemeinde von Basel im Jahre 2001 erfolgten die Abklärungen entsprechend meinem Schwerpunkt überwiegend auf Zuweisung meiner kinder-, jugend- und hausärztlichen KollegInnen aus den umliegenden Gemeinden, vor allem des oberen Baselbietes. Meist handelte es sich um Kinder und Jugendliche, deren Verhaltensoriginalität nicht mit den Vorgaben eines geordneten Schulbetriebes zusammenpassten, oft nach dem 1. oder 2. Schuljahr. Besorgte Eltern meldeten sich selbst auf Rat der Lehrkräfte, des Schulpsychologischen Dienstes oder einer therapeutischen/pädagogischen Fachkraft.
Ich lege immer Wert auf eine Zuweisung des betreuenden Grundversorgers mit entsprechender Kenntnis der bisherigen Entwicklung des Kindes und seines sozialen Umfeldes. Alle Anmeldungen haben einen Anlass – es besteht immer ein Problem, das es verdient, ernst genommen zu werden. In der Praxis gehe ich eher problemorientiert als nach der klassischen Diagnostik und Nosologie vor.
Schätzungsweise die Hälfte der vorselektionierten Kinder erfüllt die ADHS Kriterien gemäss ICD-10, DSM IV, bzw. V im engeren Sinne. Mit „im engeren Sinne“ meine ich diejenigen, die nicht nur formal die phänomenologischen Beobachtungskriterien der Klassifikationsschemata erfüllen, sondern auch durch Defizite der Motorik und Wahrnehmungs- und Exekutivfunktionen Evidenz für eine hirnorganische Grundlage ihrer Beeinträchtigung liefern. Die aktuelle ADHS-Forschung postuliert eine solche Grundlage und belegt sie in zunehmendem Mass 4). Die ADHS-Beobachtungskriterien können andererseits auf dem Hintergrund eines psychosozialen Stressors erfüllt werden, bei fehlenden Defiziten der Motorik und der Wahrnehmungsfunktionen spreche ich dann nicht von ADHS, sondern von einer reaktiven Störung des Sozialverhaltens. Kombinationen sind nach meiner Erfahrung häufig. Das Gebot zu kritischer Vorsicht gegenüber der Diagnosestellung ADHS ist zum einen der Gefahr der Überbehandlung geschuldet 5). Zum anderen teile ich die Meinung, dass die zu erwägenden Differentialdiagnosen eben nicht in ihrer Kategorie, sondern in ihrer Dimension zu erwägen sind, dass untereinander und zur sogenannten Normotypie fliessende Übergänge bestehen 6).
Differentialdiagnostisch kommen bei Nichterfüllung der ADHS-Kriterien vielfältige Teilleistungsschwächen in Frage, darüber hinaus eine Reihe weiterer somatischer und psychiatrischer Erkrankungen, wie z.B. eine Depression mit Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität und Impulsivität, wobei letztere dann als deren hypomanische Abwehr interpretiert werden. Betriebsamkeit und Agitierheit kommen auch bei Angst- und Zwangsstörungen vor. Zunehmend in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit ist der Formenkreis der Autismusspektrumstörungen geraten, wobei ich aufgrund meiner Erfahrung davon überzeugt bin, dass durchaus Überlappungen zwischen ADHS und ASS bei einzelnen Kindern und Jugendlichen vorkommen und sich diese Diagnosen gegenseitig nicht ausschliessen 7). Wenn die ADHS Kriterien nicht vollständig erfüllt werden, kann die Symptomatik auch durch physiologische Individuations- und Ablösungsprozesse im Rahmen der Pubertät und Adoleszenz entstehen, ganz besonders bei permissivem Erziehungsstil.
Auf dem Hintergrund diverser, teilweise gegenläufiger gesellschaftlicher Entwicklungen verzeichne ich in den letzten Jahren eine Verlagerung der zur Abklärung Anlass gebenden Fragestellungen. Die Schulen sind im Zuge der von der WHO propagierten integrativen Beschulung und der entsprechenden Gesetzgebung in der Schweiz mit weitreichenden Ressourcen ausgestattet worden – durchaus im Sinne der individualisierten Förderung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Vielerorts sieht die Gesetzes- und Verordungsebene vor, dass besondere Bedürfnisse von den öffentlich-rechtlichen Institutionen zu Handen der Schulleitungen begutachtet werden müssen. Ferner hat sich die IV aus dem Sonderschulbereich zurückgezogen und die Kriterien zur Anerkennung des GG 404 drastisch verschärft. Durch diese Entwicklungen hat der Druck auf medizinische Abklärungen abgenommen. Andererseits folgen viele Schulleitungen und Schulpsychologische Dienste der Vorgabe, dass zur Installation individualisierter schulischer Massnahmen das Vorliegen eines Problems allein nicht genügt, sondern eine medizinische Diagnose gestellt werden muss. Dadurch steigt der Druck auf medizinische Abklärungen wiederum an – mit der Gefahr einer Medizinalisierung und Medikalisierung von pädagogischen und psychosozial-reaktiven Problemen.

Mark Brotzmann: Erfreulicherweise findet sich auch in unserer entwicklungspädiatrischen Sprechstunde eine stabile Diagnosehäufigkeit. Die Zuweisungen in unsere Sprechstunde erfolgen durch den schulpsychologischen Dienst, durch bereits auf Entwicklungspädiatrie spezialisierte Kollegen/innen aus der Praxis, niedergelassene Kindern- und Jugendpsychiatern/innen, Psychologen/innen oder Praxispädiater. Die niedergelassenen Kollegen/innen nehmen eine sehr wichtige selektionierende Rolle ein, wobei sie oftmals Schulprobleme, die allenfalls als ADHS missinterpretiert werden, herausfiltern, klären und spezifisch angehen können. Daher bildet unsere Patientengruppe nicht die durchschnittliche Population ab. In ca. 30-40% der zugewiesenen Patienten mit der Frage nach einem ADHS bestätigen wir diese Verdachtsdiagnose am Ende der Abklärung. 
Tendenziell werden immer jüngere Kinder zugewiesen. So bekommen wir zunehmend Kinder unter 6 Jahren mit der Frage zugewiesen, ob gewisse Verhaltensauffälligkeiten im Rahmen eines ADHS zu interpretieren sind. Ansonsten findet sich eine Häufung der Zuweisungen kurz nach Kindergarteneintritt oder kurz vor Ende des Kindergartens, also rund um die Einschulung in die 1. Klasse. Des Weiteren im Verlauf der 3. Klasse, wenn nicht nur die Ansprüche bzgl. der Aufmerksamkeitsleistung, sondern auch im Bereich der exekutiven Funktionen (Arbeitsorganisation, Handlungsplanung, Selbstständigkeit, Eigenverantwortung etc.) an die Schüler/innen steigen. Einzelne wenige Patienten werden am Ende ihrer Primarschulzeit oder kurz nach Übertreten in die Sekundarstufe zugewiesen.
Wir verstehen die ADHS Diagnose als eine Art Ausschluss-Diagnose und versuchen in unserer Abklärung andere Ursachen zu definieren, bzw. zu benennen, die für die verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten ursächlich sein könnten. Dabei stellen wir als Differenzialdiagnose häufig eine emotionale Unreife fest, vor allem bei den sehr jungen Patienten, in dessen Rahmen wir die Aufmerksamkeitsprobleme bzw. Schulschwierigkeiten interpretieren und erfreulicherweise beobachten können, dass die Probleme oftmals im Verlauf regredient sind. Als weitere Differentialdiagnosen zeigen sich Teilleistungsstörungen im Bereich der Wahrnehmung und der Merkfähigkeit, umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, Unter- oder Überforderungen im Rahmen eines der kognitiven Entwicklung nicht adäquaten schulischen Settings, psychosoziale Belastungssituation im familiären/häuslichen Umfeld oder eine misslungene Integration in das Klassenkollektiv.

Frage 2 Diagnostik:

Das ADHS ist im ICD-10 und DSM-5 System klassifiziert. Nun gibt es eine Reihe von Arbeiten (z.B. Efron et al., 2016) 8), die zeigen, dass ärztlicherseits die Umsetzung der Diagnosekriterien unterschiedlich ist – wie streng haltet ihr euch an die in den Klassifikationssystemen und guidelines vorgegebenen Diagnosekriterien? Was sind für euch Gründe, von den Vorgaben abzuweichen? Wie geht ihr mit der Situation um, dass die Kinder evt. nicht die geforderten 6 von 9 Kriterien der Aufmerksamkeitsstörung oder Hyperaktivität erfüllen, sondern nur 4 oder 5, diese dafür aber funktionell hochrelevant im Lebensalltag sind? Wie erlebt ihr die Akzeptanz der Diagnosestellung oder auch fehlenden Diagnosestellung durch die Eltern oder Pädagogen? Welche Bedeutung haben die vom Schweizerischen Fachverband ADHS zusammen mit einem Privat-Labor aufgestellten laborchemischen „ADHS-Blöcke“ im Rahmen eurer Abklärung?

Ramon Möller: Die Auftragsklärung, der Inhalt des Rückgabegesprächs nach Abklärung und die zu treffenden Massnahmen orientieren sich in erster Linie am Hauptproblem und dem Leidensdruck der Familie. Das Vorgehen in der Praxis erfolgt eher problem- als diagnosegebunden. Sollten die Diagnosekriterien für eine bestimmte Kategorie nicht ausreichen, so halte ich pragmatisch und deskriptiv die Dimension des Problems anhand der Anamnese und der Befunde fest. Weisen greifbare Befunde auf ein hirnorganisches Substrat des Problems hin, erscheinen mir entsprechende Massnahmen – bis hin zu einer medikamentösen Behandlung – auch dann gerechtfertigt, wenn die Diagnosekriterien für ADHS nicht ganz erfüllt sind. Das Verständnis dafür ist für die betroffene Familie im Allgemeinen leichter zu erzielen als für die Schule. Routinemässig erhebe ich keine laborchemischen „ADHS-Blöcke“ im Rahmen der Abklärungen. Laborbestimmungen erfolgen gezielt aus differentialdiagnostischen Erwägungen.

Mark Brotzmann: Im Vordergrund unserer Abklärungen steht für uns nicht primär die Beantwortung der Fragen, ob die Kriterien für die Diagnose eines ADHS im Sinne von ICD-10 oder DSM-5 erfüllt sind, sondern wir wollen möglichst genau die Probleme benennen und eruieren, welche im häuslichen und schulischen Umfeld zu einer funktionellen oder psychischen Beeinflussung des Wohlergehens führen. Im Zentrum steht weniger die Diagnose, sondern wie den Betroffenen geholfen werden kann, also die Beantwortung der Frage welche Massnahmen auf therapeutischer Ebene ergriffen werden müssen, in welchem Mass das schulische und private Umfeld bzgl. der bestehenden Probleme sensibilisiert und aufgeklärt werden müssen, damit ein geeigneter Rahmen geschaffen werden kann, der den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes entspricht.
Diesen Bestrebungen stehen kantonsabhängig Vorstellungen und Ansprüche des Schulsystems entgegen, die für Anpassungen des schulischen Settings klare medizinische Diagnosen fordern, damit pädagogisch-therapeutische Massnahmen installiert und umgesetzt werden können. Daher kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen dem Bildungssystem und uns als Fachstelle, wobei wir zumeist die Differenz sehr niederschwellig durch den direkten Kontakt klären und einen individuellen Lösungsweg finden können.
Sehr positiv wird von den Kindseltern aufgenommen, dass eben nicht versucht wird, jegliches Problem oder Auffälligkeit im Rahmen eines möglichen ADHS zu interpretieren, sondern dies sehr differenziert von uns angeschaut wird. Daher besteht in der Regel bei uns eine hohe Akzeptanz der Diagnosen und Differenzialdiagnosen, nicht zuletzt auch dadurch, dass wir versuchen, Transparenz in unseren Weg zur Diagnose zu vermitteln. Nur selten zeigt sich eine negierende und ablehnende Einstellung gegenüber der Diagnose. Die Transparenz und die klare Kommunikation im Rückgabegespräch darüber, welche erhobenen Untersuchungsresultate ursächlich sind für die gezeigten klinischen Symptome und zu einer alltagsrelevanten Beeinträchtigung führen, ist die Basis dafür, dass Eltern die Diagnosen akzeptieren, sich einverstanden erklären mit der Einleitung von Therapien, seien diese medikamentös oder auch nicht medikamentös, auch wenn rein formal hierfür nicht alle Diagnosekriterien erfüllt sind. Finden sich weder in der klinischen Untersuchung, noch in der Anamnese Hinweise für eine organische Ursache der beschriebenen Probleme, führen wir keine laborchemischen Untersuchungen durch, insbesondere keine unspezifischen „ADHS-Blöcke“. Abklärungen dienen nur einer gezielten Beantwortung differentialdiagnostischer Überlegungen.

Frage 3 Interdisziplinarität:

In den meisten Guidelines wird gefordert, dass die Diagnostik und Therapie des ADHS interdisziplinär und multimodal zu erfolgen hat. Woraus besteht im Regelfall auch in Anbetracht der in der aktuellen TARMED-Version definierten Limitationen der Kontakt zu Pädagogen und Therapeuten?

Ramon Möller: Eine gute Absprache unter den beteiligten Erwachsenen ist sowohl im klinischen Alltag, als auch aufgrund wissenschaftlicher Untersuchungen unbestritten von Vorteil für das betroffene Kind. Hierin besteht das wünschbare Optimum. Grenzen waren durch die personellen und zeitlichen Ressourcen aller Beteiligten vor der Einführung der TARMED-Limitationen bereits gesetzt. Durch letztere ist die alltägliche Restriktion auf das Machbare zusätzlich verschärft worden. Ich halte zumindest das Telefongespräch mit der Lehrkraft als das Minimum. Schul- und Rundtisch- Gespräche hatten an Frequenz aufgrund der oben beschriebenen Entwicklung bereits vorher abgenommen. Dieser Trend ist durch die TARMED-Limitation beschleunigt worden. Nach meinem Eindruck hat die Tragfähigkeit der Beziehungsgefüge nachgelassen und es kommt mitunter schneller zu Kurzschlussentscheiden wie etwa Klassen- und Schulwechsel, Therapeutenwechsel, Polipragmasie von Massnahmen, deren Effizienz unter dem Mangel an Absprachen leidet, und auch schneller zu medikamentösen Behandlungen führt.

Mark Brotzmann: Die Vernetzungen sowie die Interdisziplinarität stellen meines Erachtens nach einen wesentlichen Baustein dar, um eine möglichst genaue, exakte und fundierte Abklärung durchzuführen und am Schluss auch eine adäquate, dem Kind gerecht werdende Diagnose zu stellen oder eben auch auszuschliessen. Dies erfordert oftmals einen hohen Zeitaufwand, da zumeist viele verschiedene Institutionen und Personen im Vorfeld einer Zuweisung bereits involviert sind. Als Minimalvariante versuchen wir mind. den Kontakt zur Lehrerschaft oder zu den begleitenden Heilpädagogen aufzubauen und uns mit diesen auszutauschen. Diese Vernetzung wird durch Einführung der TARMED-Limitation stark eingeschränkt, was der Idee und Forderung nach einem regelmässigen Austausch in einem multimodalen therapeutischen Setting kontraproduktiv ist. 

Frage 4 Komorbiditäten:

Die Wichtigkeit der kognitiven und verhaltensmässigen, emotionalen Komorbiditäten für die Therapie und Prognose wird häufig betont. Welche Bedeutung haben die Komorbiditäten für eure diagnostischen und therapeutischen Entscheidungen?

Ramon Möller: Komorbiditäten haben einen hohen Stellenwert, sowohl in der Diagnostik, als auch in der Therapie. Für ihre Erfassung bedarf es in der Praxis des Einsatzes beschränkter Mittel mit hoher Effizienz. Neben der sorgfältigen Anamnese führe ich ein projektives Verfahren, ein interaktives Zeichenspiel unter vier Augen durch, einen Squiggle nach Winnicott. In einer zweiten Sitzung bespreche ich diesen mit den Eltern und begleite den Prozess ihrer Interpretation. Viele Kinder und Jugendliche nutzen ihn, um ihre Emotionen, Konflikte und Bewältigungsstrategien in verschlüsselter, symbolisierter Form zu transportieren und mitzuteilen. Ängste und depressive Gefühle finden Raum, sich zum Ausdruck zu bringen. Da die Bilder und Worte von den Kindern und Jugendlichen stammen, werden sie von den Angehörigen meist gut akzeptiert und mit wertvollen Informationen ergänzt. Der Zugang zu wesentlichen psychosozialen Belastungsfaktoren wird erleichtert. Die Erfassung von Komorbiditäten hat einen unmittelbaren Einfluss auf das zu schnürende Massnahmenpaket und kann den Fokus der Bemühungen entscheidend verschieben.

Mark Brotzmann: Wir stellen die Diagnose eines ADHS am Ende eines aufwändigen und intensiven Abklärungsprozesses als Ausschlussdiagnose, wenn wir andere allfällige Ursachen ausgeschlossen haben. Die empfohlenen therapeutischen Massnahmen orientieren sich nicht nur an der Hauptdiagnose, sondern beziehen die Komorbidität (erfasst über Anamnese, Untersuchung und standardisierte Fragebögen) ein oder sind gar auf diese fokussiert.

Frage 5 Therapie:

Die pharmakologische und verhaltensmodifizierende Intervention gelten als am effektivsten in der Behandlung des ADHS. Welche Bedeutung spielen für euch Verfahren wie Omega-3/Omega-6-Fettsäuren-Substitution, Neurofeedback oder Diäten?  Zahlreiche Kinder mit einem ADHS erhalten in der Schweiz eine Ergotherapie – wie gut sind die Effekte belegt und favorisiert ihr eine programm-gestützte Intervention (mit definierter Stundenzahl) oder eine individualisierte Therapie (mit prinzipiell unbegrenzter Stundenzahl)? Wie supervidiert ihr den Therapieerfolg? Mehrere Guidelines fordern keine regelmässige laborchemische oder technische Untersuchung vor Einleitung einer medikamentösen Behandlung mit Stimulanzien. Sind neben der Anamnese und körperlichen Untersuchung routinemässige laborchemische oder technische Untersuchungen vor Einleitung einer Stimulanzientherapie auch unter dem Aspekt der „choosing wisely“ – Bewegung hilfreich/indiziert?

Ramon Möller: Verfahren wie Omega-3/6-Fettsäuren-Gabe, Neurofeedback oder Diäten halten den Anforderungen an eine wissenschaftliche Prüfung ihrer Wirksamkeit nicht Stand. Doppelblinde, randomisierte und prospektive Studien fehlen oder lassen keine Schlüsse über die Langzeiteffekte und Nachhaltigkeit zu. Ich erlebe indessen immer wieder Familien, die diese Verfahren trotzdem nutzen wollen, bevor sie sich auf eine aufwändigere Verhaltenstherapie oder Pharmakotherapie mit Stimulantien einlassen. Die Rückmeldungen sind manchmal im Einzelfall positiv und ich respektiere dies im Sinne eines Erfahrungswertes. Vom Wert der verschiedenen Formen der Ergotherapie bin ich überzeugt, weil sie auf mehreren Ebenen interveniert: Sie setzt ihre Akzente in der Fein- und Grafomotorik, den Wahrnehmungsfunktionen und den Exekutivfunktionen zur Bewältigung des Alltags, somit bei grundlegenden skills, die bei ADHS sehr oft beeinträchtigt sind. Ergotherapeutische Interventionen beinhalten darüber hinaus verhaltenstherapeutische Elemente, etwa in der Selbstorganisation und Handlungsplanung. Die dritte Ebene der Ergotherapie impliziert die Stützung des Selbstwerterlebens. Jede Behandlung profitiert unabhängig von der verwendeten Technik über eine gewisse Kontinuität des Beziehungsangebotes und Vertrauensaufbaus von der Stützung des Selbstwertgefühls des Patienten. Zur Evaluation empfehle ich 6-12 monatliche Verlaufskontrollen, wobei die Therapieerfolge vom natürlichen Entwicklungsfortschritt abgegrenzt werden müssen.
Laboruntersuchungen veranlasse ich allenfalls aus differentialdiagnostischen Überlegungen, etwa diejenige nach dem Eisen- und Vitamin D-Haushalt sowie der Schilddrüsenfunktion. Ein EKG führe ich vor Stimulantienbehandlung im Sinne der Sorgfaltspflicht zum Ausschluss eines vorbestehenden long-QT-Syndroms oder anderer Rhythmus- oder Reizleitungsstörungen durch.

Mark Brotzmann: In der multimodalen Therapie des ADHS stellen verhaltenstherapeutische Massnahmen meiner Meinung nach die Basis einer jeden ADHS-Therapie dar. Die Ergotherapie fokussiert darauf, den Kindern die Basisfertigkeiten zu vermitteln, um überhaupt erfolgreich im häuslichen und schulischen Umfeld bestehen zu können, sei dies einerseits durch die Verbesserung der Aufmerksamkeitsleistung, aber vor allem durch die Verbesserung der exekutiven Funktionen, wie z. B. der Handlungsplanung, der Arbeitsorganisation oder auch der Selbstwahrnehmung, neben den klassischen Aufgaben der Behandlung von Komorbiditäten wie z. B. Wahrnehmungs- oder Merkfähigkeitsstörungen oder Defiziten in der Motorik. Oftmals kann mit Hilfe der Ergotherapie erstmals beim Kind und allenfalls auch bei den Eltern ein gewisses Problembewusstsein geweckt werden. Individuell entscheiden wir von Fall zu Fall, ob das Kind von einem Gruppenangebot oder eher von einem Einzelsetting profitiert. Sind die Symptome und die funktionellen Beeinträchtigungen besonders stark ausgeprägt, ist gelegentlich auch erst eine Intervention in einem Einzelsetting als Vorbereitung auf ein Gruppensetting notwendig. Es sind regelmässige klinische Verlaufskontrollen mit Überprüfung und Neudefinierung der Therapieziele indiziert.
Die Therapieansätze, aber auch die diagnostischen Testinstrumente, welche wir im Rahmen des ADHS einsetzen, sind in unserer ambulanten Sprechstunde klar schulmedizinisch und ,,evidence based medicine‘‘ orientierte Ansätze, wobei klassischerweise alternative Behandlungsansätze, wie die Behandlung mit Omega- 3/6 Fettsäuren, Diäten oder Neurofeedback diesen Ansprüchen bis anhin nicht/nicht ausreichend standhalten. Besteht allerdings der Wunsch der Eltern nach solchen komplementärmedizinischen Ansätzen im Rahmen ihrer Auffassung von Pathogenese und Salutogenese, respektieren wir diesen prinzipiell so lange diese dem Kind nicht schaden, klären Eltern aber über Kosten und Nutzen auf (edukative Funktion). Dabei sollte mit den Eltern ein definierter Zeitraum bestimmt werden, in dem eine kritische Reevaluation stattfindet. Zeigen sich in der klinischen Untersuchung und der erweiterten Anamnese keine Risikofaktoren für Herz-Rhythmusstörungen oder einem vorbestehenden Long-QT-Syndrom, so führen wir im Vorfeld einer Stimulanzientherapie keine laborchemischen oder andere technische Untersuchungen durch.

Frage 6 Prognose und Verlauf:

Die Symptomatologie des ADHS ändert sich vom Kleinkindalter bis zum jungen Erwachsenen. Die langfristige Betreuung der PatientInnen mit persistierender Symptomatik wird gefordert. Wie funktioniert die langfristige Betreuung in eurer Erfahrung, wo liegen Stolpersteine in der beruflichen Sozialisation und verfügt ihr über ein standardisiertes Transitionsnetzwerk? Welcher Bedarf besteht auf hausärztlicher oder auch fachärztlicher Seite in der adulten Medizin?  

Ramon Möller: Bei der Hälfte der Betroffenen verliert die ADHS-Problematik an Bedeutung, viele weitere lernen, damit umzugehen und integrieren sie in ihren Alltag. Für den Grundversorger gehört es zu den erfreulichen und befriedigenden Aufgaben, diese Entwicklung begleiten und verfolgen zu dürfen. Etwa bei einem Drittel der ehemaligen ADHS-Kinder stellt die Transition in die Erwachsenenmedizin, die Berufsbildung, die Partnerschaft, gegebenenfalls in die militärische Laufbahn und den Erwerb des Führerscheins eine besondere Herausforderung dar 9). Damit ist gleichzeitig gesagt, dass ich nicht über ein standardisiertes Transitionsnetzwerk verfüge, sondern dazu angehalten bin, individuell vorzugehen. Eine Institutionalisierung der Transition ist sicher wünschbar. Bezüglich der Berufsbildung besteht angesichts des Arztgeheimnisses und Datenschutzes keine Verpflichtung, den Lehrbetrieb über Diagnose und Behandlung zu informieren. Trotzdem überwiegen nach meiner Erfahrung im Allgemeinen die Vorteile, den Lehrbetrieb schon beim Schnuppern für die besonderen Bedürfnisse des betroffenen Auszubildenden zu sensibilisieren, um ihn zur Sicherung einer erfolgreichen Berufsbildung quasi mit ins Boot zu holen. Insbesondere bei Lehrgängen mit Gefahrenpotential drängt sich dies auf. Angesichts drohender Selbst- und Fremdgefährdung im Verkehr und im Militär plädiere ich für einen offenen und transparenten Informationsaustausch 10). Die adäquate Behandlung des ADHS im Erwachsenenalter trägt dazu bei, sowohl die inhärent erhöhten Unfallgefahren zu reduzieren, als auch den Gesetzesverstössen, der Delinquenz und dem Substanzmissbrauch vorzubeugen. Bei etlichen PatientInnen gilt es, eine Kohärenz des Krankheitsbewusstseins in unterschiedlichen Lebensbereichen herzustellen.  

Mark Brotzmann: Der altersabhängige Wechsel und Wandel der Symptomatologie des ADHS macht dieses Krankheitsbild so spannend und dynamisch, was den begleitenden Arzt immer wieder vor neue Herausforderungen stellt, ihn auffordert diagnostische, aber auch therapeutische Ansätze zu überprüfen und anzupassen. Vor allem bei Patienten, bei denen bereits im frühen Kindesalter die Diagnose eines ADHS gestellt worden ist, verändert sich das Patienten-Arzt-Verhältnis mit der Zeit sehr stark, von einem initial dominierten Kontakt zwischen Arzt und Eltern hin zu einer wachsenden Arzt-Adoleszent Interaktion.
Insbesondere bei Patienten und Eltern mit einer hohen Akzeptanz für die Diagnose und einem gut ausgebildeten Problembewusstsein zeigt sich eine gute Compliance. Die angebotenen Verlaufskontrollen in unserer Sprechstunde werden auch über Jahre hinweg dankbar angenommen. Erfreulich ist, wie sich in einem Grossteil der Fälle die ADHS Problematik verliert oder zumindest die Betroffenen gelernt haben, mit ihren Problemen umzugehen.
Bekannterweise bleibt bei ca. 1/3 der Patienten die ADHS Symptomatik bis in das Erwachsenenalter klinisch relevant bestehen und verliert sich eben nicht. Bei diesen Patienten erachte ich die Zeit der Adoleszenz als sehr herausfordernd, da die Jugendlichen oftmals Mühe haben, zu akzeptieren anders zu sein und ein Problembewusstsein zu entwickeln. Im Rahmen des Ablösungsprozesses haben die Jugendlichen Mühe, Hilfe von aussen anzunehmen. Gleichzeitig steigen an sie die Ansprüche auf edukativer und sozialer Ebene z.B. im Rahmen des einsetzenden Rollenwechsels. Es zeigt sich eine Therapiemüdigkeit und die Compliance lässt deutlich nach. In dieser vulnerablen Phase erscheinen die Kinder oftmals in der Suche und Auswahl der beruflichen Zukunft, die in diese Zeit hineinfällt, hilflos und überfordert. Daraus resultiert gehäuft ein delinquentes Verhalten oder ein Suchtmittelkonsum. Probleme, welche bereits während dem Schulbesuch bestanden, prägen den Start in die Berufswelt negativ. Umso frustrierender ist, dass auch in der Region Basel bis anhin kein Transitionsnetzwerk besteht und wir für jeden einzelnen Patienten bis anhin eine individuelle Lösung für die weiterführende Begleitung finden müssen.

Frage 7 Kulturelles und Werte-Verständnis:

Unsere Gesellschaft setzt sich aus Familien unterschiedlicher kultureller und Wertehaltung zusammen. Die Einstellung der Eltern spielt bei der Betreuung von Kindern und ihrer Familien zum Thema Diagnose und Therapie des ADHS eine grosse Rolle. Wie versucht Ihr diese Aspekte zu berücksichtigen?

Ramon Möller: Die Kette von der Indikation zur Abklärung über die Bewertung der Diagnosekriterien bis zur Indikation zur Behandlung und deren Evaluation ist in das Bezugs- und Wertesystem der Familien und ihrer kulturellen Herkunft eingebettet. Diagnose und Therapie erfolgen immer in Relation zum individuellen und subjektiven Erleben und Empfinden im Kontakt mit dem beteiligten Umfeld. Im Grunde entscheidet das Ausmass des Leidensdruckes über die Interventionen. Den möchte ich ernst nehmen und auf ihn eingehen. Eine besondere Herausforderung besteht darin, unterschiedliche Bezugssysteme (Elternhaus und Schule) mit unterschiedlichen Erwartungen und Vorgaben aufeinander abzustimmen. Hierin sehe ich eine der Aufgaben des Grundversorgers als Vermittler.

Mark Brotzmann: Die Akzeptanz der spezifischen Diagnose des ADHS ist weiterhin sowohl in unserer eigenen Kultur als auch in Familien mit anderem kulturellen Hintergrund, bzw. Herkunft oftmals mit vielen Ängsten und Vorbehalten behaftet. Aus meiner Erfahrung heraus hat sich gezeigt, dass allfällige Probleme sehr viel besser angenommen und akzeptiert werden können, wenn weniger die Diagnose im Vordergrund steht, sondern viel mehr die Probleme benannt werden, die zu einer funktionellen Beeinträchtigung und Einschränkung der Lebensqualität des Kindes führen. Die Akzeptanz kann erhöht werden, wenn Abklärungsresultate und Diagnosen den Kindseltern quasi „schwarz auf weiss“präsentiert werden können, wodurch sie unsere Entscheidungsfindung nachvollziehen können. Ein wesentlicher Faktor ist, dass überhaupt ein gewisses Problembewusstsein bei den Kindseltern besteht und wie gross das Ausmass des Leidensdruckes auch bei den Kindseltern vorhanden ist. Daher versuchen wir in der Befundvermittlung und insbesondere bei der Planung der empfohlenen Behandlungen auch die kulturellen Hintergründe und die Wertehaltung zu berücksichtigen. Dabei befinden wir uns oftmals in einer Vermittlerrolle zwischen den inkongruenten Ansprüchen und Vorstellungen seitens der Schule und der Eltern.

Referenzen

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  4. Thapar A, Cooper M: Seminar on Attention deficit hyperactivity disorder. Lancet 2016;387:1240–50
  5. Rae T, Geoffrey KM, Batstra L. Attention-deficit/hyperactivity disorder: are we helping or harming? BMJ 2013;347:f6172
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  9. Fleming M, Fitton C, Steiner M, McLay J, Clark D, King A, Mackay D, Pell P. Educational and Health Outcomes of Children Treated for Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder JAMA Pediatr. doi:10.1001/jamapediatrics.2017.0691
  10. Narad M, Garner A, Brassell A; Saxby S, Antonini T, O’Brien K, Tamm L; Matthews G; Epstein J. Impact of Distraction on the Driving Performance of Adolescents With and Without Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. JAMA Pediatr 2013;67:933-8

Weitere Informationen

Korrespondenz:
Interessenkonflikt:
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Autoren/Autorinnen
Dr. med. Mark Brotzmann, Basel
Dr. med. Ramon Möller, Pratteln
Prof. Dr. med. Peter Weber, Basel